Knobloch: Nicht mehr sicher, angekommen zu sein

Charlotte Knobloch im Gespräch mit Philipp Gessler · 27.10.2012
Bis vor Kurzem sei sie absolut sicher gewesen, sich in Deutschland wohlzufühlen, sagt Charlotte Knobloch, frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden und heutige Präsidentin in der israelitischen Gemeinde München und Oberbayern. Die Beschneidungsdebatte habe sie aber verunsichert.
Moderatorin: Den Lebenslauf von Charlotte Knobloch kann man exemplarisch sehen für jüdisches Leben in Deutschland. Den Holocaust überlebte sie als Kind nur knapp, danach setzte sie sich in ihrer Heimatstadt München unermüdlich dafür ein, aus den zerstreuten Resten jüdischen Lebens wieder eine funktionierende Gemeinschaft zu formen. Sichtbares Zeichen dieses Bemühens: das neue jüdische Gemeindezentrum mit Synagoge, das 2006 eingeweiht wurde. In dem Jahr wurde Charlotte Knobloch auch Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland und sagte, nun endlich habe sie ihre Koffer ausgepackt, die sonst immer bereitstanden, falls schnelle Flucht aus dem Land der Täter nötig sein sollte. Dann kam im Sommer dieses Jahres die Debatte um die religiös begründete Beschneidung. Und mit ihr wurde jüdisches Leben in Deutschland ganz neu in Frage gestellt. Charlotte Knobloch stellte in einem Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" die Frage: Wollt ihr uns Juden noch? Am Montag wird Charlotte Knobloch 80 Jahre alt. Philipp Gessler hat mit ihr gesprochen und er wollte wissen, welche Aussage sie denn zurzeit am ehesten beschreibt: das Gefühl, endlich angekommen zu sein oder die Frage, ob sie als Jüdin noch Teil der deutschen Gesellschaft ist.

Charlotte Knobloch: Bis vor Kurzem, da ist Ihre Frage richtig, war ich absolut sicher, endlich angekommen zu sein, weil ich habe ja jahrzehntelang auf dieses Thema hingearbeitet beziehungsweise auf das Ziel, das ist vielleicht besser ausgedrückt. Mit der Grundsteinlegung und der Eröffnung des neuen jüdischen Zentrums war ich so weit, zu sagen, ich habe meine Koffer ausgepackt. Nicht alle meine Glaubensbrüder und Glaubensschwestern waren damals dieser Meinung. Aber ich lebe gern in unserem Land, ich habe auch tiefes Vertrauen in unsere gewachsene freiheitliche Demokratie, in die Politik und auch zum Teil in die Zivilgesellschaft. Und doch, da haben Sie recht, sind meine Grundfesten ins Wanken geraten. Die Anfeindungen, die wir in jüngster Zeit erleben mussten, haben eine Dimension erreicht, wie ich sie mir hätte in meinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Wir wurden völlig unberechtigterweise auf der Basis von Schauergeschichten an den Rand der Gesellschaft gestellt.

Gessler: Sie sprechen die Beschneidungsdebatte an?

Knobloch: Ich spreche die Beschneidungsdebatte an, die sich ja jetzt seit Monaten in den Medien täglich dargestellt hat. Es war nicht nur das Sommerloch, es war weit darüber hinaus. Und die Verbalattacken hatten eine neue Qualität und Quantität, und es war nur eine Frage der Zeit, und leider Gottes mussten wir es auch erleben, dass es zu Handgreiflichkeiten gekommen war. Und da hätte ich mir natürlich den starken Rückhalt in der Gesellschaft gewünscht, aber ich will meinen Traum nicht aufgeben, und ich will auch meinen Optimismus nicht aufgeben. Man sagt auch bei uns, wer nicht an Wunder glaubt, der ist kein Realist. Und eigentlich sind wir das Volk, die Religion der Hoffnung.

Gessler: Ein Wunder haben Sie auch in Ihrer Kindheit erlebt. In Ihrer gerade erschienenen Biografie schildern Sie eindringlich, wie Sie versteckt wurden in einem oberfränkischen, sehr katholischen Dorf, und zwar unter falschem Namen als angeblich uneheliches Kind des früheren Dienstmädchens Ihres Onkels. Hat diese Solidarität, die Sie erfahren haben, Ihnen ein Weiterleben im Land der Täter erst ermöglicht?

Knobloch: Das ist wahrscheinlich nicht der Fall, weil ich dieses Land eigentlich sofort verlassen wollte. Aus unterschiedlichen Gründen, die ja auch bekannt sind. Es ist meinem Mann und mir nicht gelungen, diesen Plan durchzuführen. Wir haben unsere Auswanderungspläne ad acta legen müssen. Ich sage immer wieder: Jeder, der hier geblieben ist, hat seine eigene Geschichte, dass er hier geblieben ist. Sehr wenige mussten hier bleiben, zum Beispiel mein Vater, der ja Jurist war, Rechtsanwalt, wo sollte er hin, wo sollte er seinen Beruf ausüben?

Aber er war auch ein Mann der Hoffnung und der Zuversicht in dieses Land, das er ja als junger Mensch, als Student und auch als Rechtsanwalt kennengelernt hatte und das ihn natürlich auch in die tiefste Resignation hineingegeben hatte. Es war nicht leicht, wieder Vertrauen in dieses Land zu finden, und ich konnte nicht ausblenden, dass die Menschen, die mich noch vor Kurzem, ich spreche jetzt von 1945, beleidigt und angespuckt, missachtet hatten, dass die alle noch da waren, und dass ich denen täglich ins Gesicht sehen musste, das war ja der Fall.

Und da haben wir beide den, wie soll ich sagen, den Plan gefasst, Deutschland zu verlassen, aus diesen Gründen. Ich wusste ja auch, dass viele tatenlos beobachtet haben, was mit ihren jüdischen Nachbarn geschehen war. Es hat aber auch für mich - und das war eine prägende Erfahrung und da ist es auch sehr wichtig, dass ich auch dieses Thema jungen Menschen mitteile, mit denen ich ja immer wieder zu tun habe, da ich sehr gern in Schulen gehe, mit den jungen Menschen spreche - diese prägende Erfahrung hat es in mir ausgelöst, dass ich heute und auch schon einige Jahre früher den Mut hatte zu sagen, ich habe meine Koffer ausgepackt, weil mein Leben mich gelehrt hat, dass der Mensch zu allem imstande ist, im Positiven wie auch im Negativen, muss man schon das Verständnis aufbringen, dass man nach einer solchen entsetzlichen Debatte die Frage stellt, wollt ihr uns Juden noch.

Gessler: Ich will noch mal kurz auf Ihre Biografie kommen. Der Pfarrer des Dorfes, in dem Sie versteckt wurden, hat von Ihrer wahren Identität ja gewusst und hat Sie geschützt. Sind Sie angesichts dieser Erfahrung gelassener, wenn Sie heute judenfeindliche Sprüche etwa von christlichen Randgruppen hören?

Knobloch: Also ich glaube, man sollte hier keine Frage der Konfession stellen, weil es geht quer durch unser Land. Wir wissen ja alle, und es ist auch etwas, was mich besonders erregt, dass wenn ich höre, dass jugendliche Muslime sich im Antisemitismus, in der Fremdenfeindlichkeit und im Allgemeinen auch in der Respektlosigkeit besonders hervortun. Wenn man solche Sachen hört, muss man natürlich auf den Grund gehen, aber wir dürfen natürlich auch angesichts menschenverachtender Ideologie nicht gelassen bleiben.

Und es gibt auch keine Form der Menschenverachtung, die akzeptabel ist. Unsere Gesellschaft, und da bin ich auch froh, verträgt eigentlich keine Intoleranz, und deswegen müssen wir mit denen, die diese Dinge propagieren, ins Gespräch kommen, und vielleicht sie von den Klischees, die sie mit sich herumtragen, befreien.

Gessler: Eine eindrucksvolle Geschichte in Ihrer Biografie, eindrucksvoll und auch traurig, ist die Tatsache, dass Ihre Retterin, Zenzi Hummel, damals gar nicht so viel öffentliche Dankbarkeit von Ihnen wollte nach dem Krieg, weil das ihren Ruf im Dorf geschädigt hätte. Hat Sie diese Erfahrung des fortlebenden Antisemitismus nach '45 erschüttert?

Knobloch: Ich würde sagen, dass Antisemitismus absolut kein deutsches Phänomen ist, aber es schmerzt natürlich, in einem Land, in dem diese Vergangenheit, die vorhanden ist, immer wieder, besonders bei Personen wie mir, in mancher Hinsicht sehr aktuell ist, da erwarte ich mir natürlich mehr Protest aus der Gesellschaft und würde mir auch mehr Geschichts- und Verantwortungsbewusstsein wünschen.

Der Antisemitismus ist ein Phänomen der Mitte der Gesellschaft, muss dort bekämpft werden und nicht einfach verharmlost und nicht einfach drüber weghören, nicht einfach stehen lassen. Jedes Ressentiment, jede Schmähung, jede Diffamierung kann schon ein Anfang sein, denen es zu wehren gilt. Und wir müssen auch und gerade auf die Kleinigkeiten im Umgang miteinander achten. Wir haben erlebt, wie schnell aus Stimmungen Hass und aus Hass Verfolgung und Mord werden konnten.

Gessler: Wer Ihre Biografie liest, kann den Eindruck bekommen, dass Sie ein religiöser Mensch sind. Sind Sie Gott dankbar, weil er Sie gerettet hat in schwerster Stunde, oder zweifeln Sie an Gott, weil er den Mord an sechs Millionen Juden, ja den Hungertod Ihrer geliebten Großmutter zugelassen hat?

Knobloch: Was meine Person betrifft, lebe ich schon in dem Bewusstsein, dass Gott seine Hand über mich gehalten hat. Ich lebe aber auch in dem Bewusstsein, dass Gott den Menschen so geschaffen hat, wie er nun mal ist: zu allem imstande. Und dann sage ich immer, wenn ich jungen Menschen gegenüber stehe, dass sie diese Erkenntnis in sich aufnehmen sollen, um die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir können die Gegenwart und die Zukunft gestalten. Und das war immer mein großer Wunsch und ich hoffe, ich kann hier noch einige Zeit mitwirken, weil ja Gott den Menschen die besten Anlagen mitgegeben hat. Und er hat uns auch befähigt, Großartiges zu leisten. Er hat uns mit Schwächen versehen, das wissen wir und da müssen wir aufeinander aufpassen und sorgsam miteinander umgehen. Das ist meine Antwort auf Ihre Frage.

Gessler: Sie gehören ja zu den wenigen jüdischen Repräsentanten mittlerweile in Deutschland, die noch das Verfolgungsschicksal hatten. Eine neue Generation ohne diese Erfahrung übernimmt nun immer mehr das Ruder. Wird der Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft ohne den Kitt der Erfahrung des Überlebens immer mehr abnehmen?

Knobloch: Wir Juden haben eine über 5000-jährige Geschichte. Unsere Gemeinschaft beruht eben auf Religion und Tradition. Die Shoah sind einige wenige Jahre, und jeder von uns würde alles dafür tun, dass diese Jahre nicht stattgefunden hätten.

Aber ich sage immer wieder, der Holocaust hat nichts mit der jüdischen Identität zu tun. Die jüdische Gemeinschaft identifiziert sich nicht über den Holocaust. Er ist eines der dunkelsten Kapitel unserer Geschichte, aber wir müssen auch sehen, dass es sehr viele erhellende Momente in unserer Gemeinschaft gibt, und darauf, muss ich sagen, sollten wir viele Entscheidungen aufbauen. Aber die geben uns natürlich auch dann Kraft und Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.

Gessler: Glauben Sie denn, dass die jüdische Stimme in der deutschen Gesellschaft zukünftig leiser werden wird? Auch, weil die Rücksicht auf sie schwindet, je weiter der Holocaust in die Geschichte rückt?

Knobloch: Nein, das glaube ich überhaupt nicht, weil ich meine, jede Generation hat ihre eigenen Ziele, hat ihre eigenen Ideen, in dieser Zeit ihre Zukunft zu gestalten. Das glaube ich auf keinen Fall, weil ich ja immer wieder sage, dass wir unsere Gegenwart und unsere Zukunft gemeinsam gestalten müssen, und da wird die jüdische Stimme sicher auch weiterhin diese Gestaltungsmöglichkeit haben wie bis jetzt.

Gessler: Wie vermitteln Sie der jungen Generation der Deutschen, dass sie zwar keine Schuld am Holocaust trifft, sie aber immer eine Verantwortung für die Erinnerung hat, eine Pflicht zur Erinnerung, der sie doch vielleicht lieber aus dem Weg gehen möchte?

Knobloch: Also, das muss ich sagen, habe ich in den letzten Jahren ganz anders als früher erlebt. Heute ist die junge Generation bereit, das merke ich auch aus vielen Fragen, die sie dann stellen nach einem Vortrag oder nach einer Erzählung aus meinem Leben, die sie angehört haben.

Es ist wichtig, dass die jungen Menschen alle Details kennen, auch auf provokative Fragen eine Antwort bekommen, und dass man mit ihnen spricht und dass man ihnen auch den Mut gibt, Zivilcourage zu leisten, dass man ihnen auch mitteilt, dass sie hier in unserem Land eine ausgezeichnete Bildung bekommen. Dass sie sich engagieren sollen in den demokratischen Parteien, dass sie etwas für ihr Land tun sollen und dass sie auch auf ihr Land stolz sein können.

Moderatorin: Charlotte Knobloch im Gespräch mit Philipp Gessler. Die langjährige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in München und ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland wird am Montag 80 Jahre alt. Charlotte Knobloch hat in der letzten Woche ihre Lebenserinnerungen veröffentlicht unter dem Titel "In Deutschland angekommen". Die Autobiografie ist erschienen bei der Deutschen Verlagsanstalt, hat 336 Seiten und kostet 22,99 Euro.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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