Knastkarriere statt Todesstrafe

Von Jan Tussing · 18.12.2012
Kein anderer Staat sperrt so viele Menschen weg wie Kalifornien. Daher sind die Gefängnisse völlig überfüllt. Gleichzeitig können sich paradoxerweise ausgerechnet hier Häftlinge - darunter auch Mörder - zum Pfarrer ausbilden lassen.
45 Männer stehen in der kleinen Holzbaracke mit dem Gesicht zur Tür gewandt und singen aus vollem Hals. Sie alle haben die gleichen blauen Uniformen an, denn sie sind Sträflinge im Gefängnis von Norco. Viele haben die Augen geschlossen und halten die Hände in die Höhe. Sie singen von Gott und Jesus, ihrem Heiland. So beginnt der Religionsunterricht im Gefängnis von Norco.

Die Häftlinge sind mehrheitlich schwarz und Latino - kaum ein Gesicht ist weiß. Viele Männer haben auffällige Tätowierungen, die unter ihren blauen Uniformen hervorschauen. Das Gefängnis von Norco ist eine umgebaute Kaserne und befindet sich in der kalifornischen Wüste, rund 100 Kilometer östlich von Los Angeles. Was die Männer hier vereint ist Gott. Auf den Tischen vor ihnen liegt jeweils eine Bibel. Sie lassen sich zum Pastor ausbilden. Kevin Donald Woods zum Beispiel hat früher mit Drogen gehandelt, seit sieben Jahren sitzt der Afroamerikaner in Norco ein. Aber dann wurde er stark religiös.

"Meine Motivation, Pastor zu werden, entstand in dem Moment als ich hierher kam und meine Tochter verlor, weil sie zur Adoption freigegeben wurde. Ich war schon vier Jahre im Gefängnis. Ich hatte meine Frau und meine Tochter auf der Straße sitzen lassen. Und ich wusste, dass ich mein Leben nicht allein würde ändern können."

Kevin ist etwa Mitte 40 und gehört zu der ersten Gruppe von Tumi, einem Rehabilitationsprogramm für Häftlinge. Vor vier Jahren begann das Urban Ministry Institute, kurz Tumi, mit einem Experiment: Verbrecher zu Gott zu führen. Tumi ist eine konfessionsübergreifende, christliche Vereinigung mit stark missionarischem und evangelikalen Charakter.

Alle gesellschaftlichen Schichten sollen in das Königreich Gottes heimgeführt werden. So steht es wörtlich auf der Webseite des Programms. Auch die sozial schwachen und unterprivilegierten Menschen. Begonnen hat Tumi in den verslumten Innenstädten nordamerikanischer Städte. Viertel, die von Armut und Drogenkriminalität geprägt waren. Vor vier Jahren wurde dann ein Programm entwickelt, das auch verurteilte Verbrecher erreichen wollte. Seitdem gibt es die Ausbildung zum Pfarrer in 18 Gefängnissen Kaliforniens. Kevin ist einer von insgesamt 900 Häftlingen im Programm. Der dunkelhäutige Mann wirkt stark religiös und ist dankbar, diese Chance zu bekommen.

"Ich habe erkannt, wie dumm ich war, solch ein Risiko einzugehen. Ich habe meine kleine Tochter aufgegeben, denn meine Frau und ich nahmen Drogen."

Kevin nimmt keine Drogen mehr. Stattdessen hat er seinen Glauben entdeckt. Der Afroamerikaner ist heute überzeugter Christ und hat ein großes Bedürfnis von seiner Wandlung zu erzählen.

"Meine Veränderung kam, als ich am Abgrund war. Als ich ins Gefängnis kam, stand mir eine lebenslange Strafe bevor. Diese Strafe, die ich hätte haben sollen, war eine Gnade Gottes. Eine neue Möglichkeit. Denn das ist Liebe: Wenn dir jemand etwas schenkt, was du nicht verdienst."

In Kalifornien werden selbst kleinste Verbrechen hart bestraft. Und wer einmal von der Gesellschaft ausgestoßen wurde, hat es schwer, sich wieder einzugliedern. Hier im Religionsunterricht im Gefängnis von Norco haben sich Männer zusammengefunden, die das Wort Liebe für sich neu interpretieren lernen mussten.

Leonard Beos hat hier in Norco Gott gefunden. Der dünne Mann mit dem graumelierten vollen Haar ist einer der wenigen weißen Häftlinge im Raum. Er sitzt schon 18 Jahre in Norco ein, wegen Mordes. Als Leonard hier ins Gefängnis kam, hat er den anderen Häftlingen nicht erzählt, warum er verurteilt wurde. Er habe niemandem gesagt, dass er eine Frau umgebracht hat.

"Aber es hat mich dazu gebracht, mich zu besinnen. Jeder würde denken, ich würde mich hinter der Bibel verstecken. Aber das stimmt nicht. Das war mein absoluter Tiefpunkt, du kämpfst gegen die Todesstrafe. Ich denke, da hat sich mein Gewissen geregt."

Mörder wie Leonard müssen mit der Todesstrafe rechnen. Denn die Todesstrafe gibt es in Kalifornien noch immer. Zur Zeit warten über 700 Häftlinge auf ihre Exekution. Jeanne Woodford ist ehemalige Gefängnisdirektorin und hat mehrere Exekutionen durchgeführt. Die Amerikanerin hat lange Jahre das berühmte Gefängnis St. Quentin in San Francisco geleitet. Heute dagegen kämpft sie gegen die Todesstrafe. Aber nicht aus moralischen Gründen, sondern aus wirtschaftlichen:

"Seit 1978 haben wir vier Milliarden Dollar ausgegeben. Wir hatten 13 Exekutionen, und die Todesstrafe hat nicht als Abschreckung gedient. Und auch nicht zur Verbesserung der allgemeinen Sicherheit beigetragen. Es geht also wirklich nur um Vergeltung und Rache. Können wir daher so viel Geld ausgeben, wenn es keinen Vorteil für unsere Gesellschaft bringt?"

Die Todesstrafe wurde in Kalifornien 1978 wieder eingeführt, und auch wenn sie seit mehreren Jahren nicht praktiziert wurde, so kostet sie den Steuerzahler doch viel Geld. Allein in den letzten sechs Jahren belaufen sich die angefallenen Kosten auf eine Milliarde Dollar. Angesichts eines bankrotten kalifornischen Haushaltes sei das zu viel, meint Jeanne Woodford.

"Es geht nicht nur um den Unterschied der Kosten zwischen der Todesstrafe und lebenslänglich ohne Bewährung, es geht um mehr als das. Es geht um die Tatsache, dass wir so viel Geld für die Todesstrafe verschwenden, und wie wir mit Geld umgehen, spiegelt unsere Werte wider."

Was sind die Werte einer Gesellschaft, die Mördern erlaubt Pfarrer zu werden, aber die Todesstrafe aufrecht erhält? Die Debatte um Verbrechensbekämpfung wird ausschließlich auf einer finanziellen Ebene geführt. Denn die Kosten sind in den letzten 20 Jahren explodiert. Laut einer Studie der Organisation "California Common sense" fließen mehr Gelder in die Gefängnisse als in die Schulen und die öffentliche Bildung. Die Ausgaben ins kalifornische Gefängnissystem haben sich seit 1980 mehr als vervierfacht. Jeanne Woodford will das ändern. Die Aktivistin kämpft gegen die Todesstrafe, weil sie ihrer Ansicht nach keinen Sinn macht. Auf ihren Befehl hin wurden vier Männer exekutiert. Eine Erfahrung, über die sie nicht sehr gerne spricht.

"Es hatte einen Einfluss auf mich und es wird sich auch in Zukunft auf mich auswirken. Das ist sicherlich auch der Grund, warum ich so hart daran arbeite, die Todesstrafe zu ersetzen. Nach jeder Exekution haben mich meine Kollegen angeschaut und gefragt: Ist die Welt nun sicherer, nachdem wir das getan haben? Und wir haben die Frage nie beantwortet, denn die Antwort war nein."

37 US-Bundesstaaten haben noch die Todesstrafe. Die meisten Amerikaner glauben nämlich nicht, dass Verbrecher sich ändern können. Die Vergeltung für die Opfer wiegt schwerer, sagt Jeanne Woodford und schaut durch ihre schwarze Hornbrille. Sie wirkt reserviert, und sehr, sehr nüchtern. Auf eine Debatte über Moral wolle sie sich gar nicht erst einlassen.

"Nein, ich rede nicht über moralische Aspekte, damit kann man nicht gewinnen. Leute bringen ihre Moral und ihren Glauben in die Diskussion ein, und die basieren auf ihre religiösen Kenntnisse und ihre Lebenserfahrung. Und Leute ändern ihre Meinung, aber das passiert nicht am Ende einer einzigen Debatte. Sondern das passiert über Jahre."

Es scheint, als ob das Wissen um die harten Strafen die Männer anspornt und motiviert. Für viele bestimmt Gott inzwischen ihr Leben. Die Häftlinge in dem Programm stürzen sich auf die religiöse Ausbildung wie auf eine erlösende Medizin. Kevin ist mit seiner Ausbildung zum Pfarrer fast fertig. Er glaubt, das Studium sei das Beste gewesen, was ihm in seinem Leben je passiert sei.

"Viele gebrauchen den Begriff Gott sehr allgemein, aber ich sage Dir, es war nicht Gott, sondern Jesus Christus, er ist mein Herr und Heiland. Er gab mir Gnade und hat mir vergeben, dass ich meine Tochter da draußen im Stich gelassen habe. Nur weil ich den Kick wollte."

Der Klassenraum ist eine kleine Holzbaracke, die früher einmal zu einer Kaserne gehörte. Einige Männer haben die Augen geschlossen und beten leise. Am Eingang des Raumes steht ein Fernseher, denn der Unterricht wird hauptsächlich über Filme durchgeführt. Drei Männer mit Gitarren sitzen gleich daneben und beginnen zu singen. Die übrigen Häftlinge erheben sich und singen leidenschaftlich mit. Einige halten sogar ihre Hände in die Höhe und wiegen sich wie in Trance.

"Es gibt mehr eingesperrte Menschen im Umkreis von 40 Meilen hier in Los Angeles, als auf 40 Meilen irgendwie sonst in der Welt."

David Werner ist Englischprofessor an der Universität la Verne in Kalifornien. Der Amerikaner studiert das amerikanische Gefängnissystem als Institution und auch als Ort in der Literatur.

"Niemand weiß von dieser riesigen Gefängnisbevölkerung, denn sie befindet sich bequem am Rande der Gesellschaft, an Orten, an denen man nicht vorbeikommt, aber es gibt eine riesige Konzentration von Gefängnissen direkt hier."

Die USA sperren so viele Menschen weg wie kein anderes Land auf der Welt: 2,3 Millionen. Das entspricht einem Prozent der Gesamtbevölkerung, und wer sich einmal strafbar macht, verliert automatisch seine Bürgerrechte und das Recht zu wählen.

"Als David Werner vor gut 30 Jahren anfing, Häftlinge im Gefängnis zu unterrichten, konnte er sie in drei Gruppen einteilen, ein Drittel schwarz, ein Drittel Latino, ein Drittel weiß. Heute dagegen ist die Hälfte schwarz, ein großer Teil ist Latino und nur die wenigsten sind weiß."

In den USA leben 13 Prozent Afroamerikaner, aber sie stellen die Hälfte der Gefängnisbevölkerung dar. Jeder vierte schwarze Amerikaner landet in seinem Leben irgendwann einmal im Gefängnis. So wie Kevin. Mit ein Grund für die massenhaften Verurteilungen ist ein spezielles Gesetz in Kalifornien, das "Three Strikes Law": Wer drei strafbare Handlungen durchführt und dafür verurteilt wird, verschwindet lebenslang hinter Gittern, unabhängig von der Schwere des Verbrechens.

"Das ist meine vierte Strafe und als ich verurteilt wurde, wegen Besitz und Verkauf von Kokain, war ich ein Kandidat für eine lebenslang Strafe. Und ich war so verzweifelt, da begann der Wandel in mir. Aber anstatt mir lebenslang zu geben, was sie gekonnt hätten, haben sie mich nur zu 12 Jahren verurteilt, die ich gerade absitze. Im Januar komme ich heraus."

Die Ausbildung zum Pfarrer ist für Kevin die Möglichkeit, nach seiner Strafe Anschluss in einer Gemeinde zu finden und eventuell ein neues Leben zu beginnen. Die wenigsten Häftlinge in den USA schaffen es nämlich, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sagt Professor David Werner.

"Die Ironie der Statistiken Kaliforniens ist, dass wenn du aus dem Gefängnis gehst, und danach stirbst, dann wirst du als Erfolg gesehen. Wenn man von der Erfolgsquote derer spricht, die rauskommen und sich reintegrieren, dann sind das vielleicht zehn Prozent. Und das führt uns zur Frage, nach der Funktion des Gefängnissystems. Wenn es darauf ausgerichtet ist, die Gesellschaft sicherer zu machen, dann ist es ein Misserfolg."

Kritiker des Gefängnissystems, Experten wie David Werner, weisen zudem darauf hin, dass die US-Justiz auf einem Auge blind ist. Betroffen von den lebenslangen Haftstrafen sind nämlich hauptsächlich Bevölkerungsgruppen mit dunkler Hautfarbe: Schwarze und Latinos.

"Wenn du einen schwarzen Mann einsperrst, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass auch sein Sohn eingesperrt wird und dessen Sohn und dessen Sohn. Was wir in den USA geschaffen haben, ist de facto eine generationenumspannende Einsperrung."

Generationen von mehrheitlich armen und farbigen Menschen. Beobachter nennen den rassistischen Aspekt des US-Systems "die neuen Jim Crow-Gesetze", benannt nach Gesetzen aus dem 19. Jahrhundert, die Rassendiskriminierung institutionalisiert haben. Kritiker sprechen heute inzwischen sogar wieder von Sklaverei und halten das Gefängnissystem für eine moderne Variante der Rassengesetze.

"Ok, man entrechtet also 25 Prozent der männlichen schwarzen Bevölkerung, und einen Großteil der männlichen Latino-Bevölkerung, ist das nützlich? Man nimmt eine gesellschaftliche Gruppe, die keinen Zugang zur Macht hat und macht sicher, dass sie niemals Zugang zur Macht bekommen. Eine verdammt schreckliche Vorstellung."