Kleists Sprache "ist einfach mächtig"

Ulrike Draesner im Gespräch mit Joachim Scholl · 28.07.2011
Für die Schriftstellerin Ulrike Draesner war Heinrich von Kleist eine ganz wichtige literarische Begegnung von Anfang an. Ganz besonders schätze sie die Art und Weise, wie Kleist mit der Syntax umgehe und "antagonistische Kräfte" in den Satz hineingeknetet habe.
Joachim Scholl: Als den einzigen Schüler des deutschen Dichters Heinrich von Kleist hat der Schriftsteller Daniel Kehlmann den amerikanischen Romancier I.L. Doctorow ausgemacht – in einer Laudatio auf den großen Mann für die deutsche Gegenwartsliteratur hingegen spiele Kleist im Grunde keine Rolle: Eine Behauptung, die in diesem Kleist-Jahr 2011 besonders zur Diskussion animiert, wie wir finden.

Wir fragen deshalb in diesen Wochen Autoren nach Heinrich von Kleist, und heute ist das Ulrike Draesner. Sie wird für ihre Romane, ihre Lyrik von der Kritik gefeiert, aber auch für ihre klugen Essays, denn einen Doktortitel in Literaturwissenschaft trägt Ulrike Draesner auch. Willkommen im "Radiofeuilleton"!

Ulrike Draesner: Hallo!

Scholl: Wohl kein Klassiker wurde so viel bewundert und so wenig nachgeahmt wie Heinrich von Kleist – er sei in der deutschen Literatur fast folgenlos geblieben. Das hat Daniel Kehlmann gesagt. Stimmen Sie ihm zu?

Draesner: Gar nicht, also ich kann dem nicht folgen und finde auch: Ich mag solche Bemerkungen nicht, die so pauschal sagen, das ist so und da gibt es niemanden. Es gibt ja Spuren, die man nicht sofort sieht. Für mich war Kleist eigentlich eine ganz wichtige literarische Begegnung von Anfang an.

Scholl: Wann haben Sie Kleist das erste Mal überhaupt gelesen?

Draesner: Ich denke, das war bestimmt im Schulbuch, so Anekdoten über lachende Pferde auf der Bühne, oder der seltsame Griffel Gottes, an den erinnere ich mich noch – und ich fand die Texte interessant, weil man las sie, verstand etwas, las sie noch mal, verstand etwas anderes –, oder natürlich auch die Komödien oder dieser seltsame Prinz von Homburg, ein träumender Prinz, wo es um Gewalt und Macht und Befehl und Gehorsam ging. Es war natürlich auch eigentlich auch ein sehr guter Schulstoff.

Scholl: Literarische Biografen weisen ja dann in der Regel gerne nach, welchen Einfluss dieser oder jener Schriftsteller auf einen anderen Autor hatte, also ein Biograf würde dann in Ihrem Fall sagen, ah, Frau Draesner, in der Schule las sie Kleist, ganz deutlich zu spüren in ihrem Roman XY. Ich meine, Sie kennen, dieses germanistische, literaturwissenschaftliche Prozedere – wie ist es dann aber für den Schriftsteller selbst? Gibt es dieses In-Spuren-Gehen wirklich?

Draesner: Ja und nein, würde ich sagen. Also ich finde, ich habe von Kleist viel gelernt, dann eigentlich erst später, während des Studiums, als ich schon mit mehr Verstand lesen konnte, und da wurden die Erzählungen so wichtig für mich, und da wiederum die Art und Weise, wie Kleist mit der Syntax umgeht, also wie er die deutsche Syntax nutzt, wie er sie dehnt, wie er knetet am Satz, wie er richtig damit arbeitet. Das ist etwas ganz Spezifisches der deutschen Sprache. Und zum anderen habe ich noch etwas bei ihm gelernt, nämlich die Kunst, ein Motiv unbemerkt einzuführen und dann so eine Art Netz mit einer ganzen Reihe von Motiven zu spannen und das wie so ein Netz tatsächlich auszuspannen, und wenn der Leser durch die Sinnraster und die ganze germanistischen Fragen durchgefallen ist, dann landet er in diesen Bildwelten.

Scholl: Wenn Sie sagen, Rhythmus, Syntax – Kleist ist ja also ein Meister natürlich, man bewundert auch diese Satzketten, also das sind ja oft auch wirklich verschlungene Hypotaxen, die dann sich wunderbar wieder auflösen nach ...

Draesner: Ja, aber das klingt ja schlimmer, als es sich liest, weil es eigentlich immer ein vom Atem gesteuertes, sprechbares Deutsch ist. Das hat so viele Kommata – das ist aber nicht, weil das alles so verquast ist, sozusagen, sondern weil das wirklich sprechbare Texte sind Und das sind rhythmische Pausen, die da gemacht werden, keine grammatischen Pausen, und dass die Sprache vom Körper her verstanden wird. Da spürt man natürlich auch den Dramatiker Kleist: Der hört das, der schreibt das im Sprechen, aus dem Sprechen heraus, obwohl es so ein großer Stil ist, trotzdem grummelt es darin und man spürt sozusagen die antagonistischen Kräfte, die wirklich in den Satz hineingeknetet werden.

Scholl: Aber ich wollte meinen Satz so weit fortführen, Frau Draesner, dass ich sage: Es ist eigentlich selten, dass in der gegenwärtigen Literatur, sagen wir mal, diese Komplexität in der Syntax herrscht. Das macht man eigentlich nicht mehr so, das würde man auch nicht nachahmen, genauso wenig wie man Thomas Manns Wortgirlanden eigentlich nachahmt. Wie würden Sie dann dennoch beschreiben, also wie Kleist immer noch wirkt?

Draesner: Also das ist ja dieses In-Spuren-Gehen, In-Spuren-Gehen heißt: Ich lerne etwas. Was sind Möglichkeiten der Sprache? Und natürlich als Autorin, die heute lebt mit zeitgenössischen Stoffen, transformiere ich das, ich verwandle das. Kleist wirkt immer noch, weil diese Sprache ist einfach mächtig, sie ist kraftvoll, die spricht Emotionen an, und die Rhythmik überträgt sich auch, wenn man so zum ersten Mal durch ist, also wenn man sich an der Fremdheit, auch an der historischen Fremdheit dieser Satzgebilde abgestoßen hat. Also deswegen sind ja auch die Spuren nicht so leicht zu sehen, weil es wirklich eigentlich ein Verwandlungsprozess ist.

Scholl: Was bedeutet Kleist heute für die Gegenwartsliteratur, für die zeitgenössischen Autoren? Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit der Schriftstellerin Ulrike Draesner. Nun gibt es in diesem Kleist-Jubiläumsjahr viel Biografisches zu lesen, und in die große Bewunderung, da mischt sich auch immer so ein bisschen Kopfschütteln über diese doch gespaltene, zwiespältige, komplizierte Persönlichkeit, so das literarische Genie auf der einen Seite, der Feuerkopf, der geniale Geist, und dann so ein exzentrischer, oft verkrampfter, ungelenker Mensch. Das passt irgendwie so schlecht zusammen. Wie geht es Ihnen mit der Persönlichkeit des Dichters, Frau Draesner?

Draesner: Ich finde gar nicht, dass das schlecht zusammenpasst, also ich mochte Kleist immer, irgendwas hat mich angezogen und ich mag ihn bis heute, und er tut mir in gewisser Weise auch leid, wenn ich mir ansehe, was für Schwierigkeiten er hatte in der Rezeption, schon zeitgenössisch. Dann auch das, was man im Bayerischen so als das Spinnerte an ihm bezeichnen würde: Wenn man das nicht hat, wenn man so nicht denkt – wie soll man denn etwas erfinden und schreiben und einen ästhetischen Plan fassen? Und dass dieses Leben nicht in die bürgerlichen Klischees passt – das ist eine notwendige Voraussetzung dafür, dann diese Stücke schreiben zu können.

Also die Reibung, diese Friktionen mit den zeitgenössischen Themen, von Gerücht, Probe, Irrtum, Autorität, Krieg – er geht da immer hinein, er hat ja auch diese Erfahrungen in seinem Leben gemacht, er war ... Von 15 bis 22 stand dieser junge Mann im Krieg, das muss man sich mal vorstellen, hat Gefechte und Schlachten mitgemacht – wie er das aufgreift, und dann wendet er das, er hat ein ganz großartiges Talent, immer das, was daran verboten ist, hervorzukehren.

Das kann man ja gar nicht trennen, das überträgt sich im Leben oder kommt aus dem Leben in die Texte hinein. Ich mag an Kleist diese Mischung aus diesem Krieger, der Beklommenheit und diesem unglaublichen Witz, der dabei dann herauskommt.

Scholl: Er ist ja auch ein unglaublich physischer Dichter, also Sie haben jetzt schon ein bisschen in seiner Vita gerührt, er hat ja großen Sinn für das Körperliche. Also ich glaube, dass das eine Verbindung auch stiftet zu Ihrer Form des Schreibens, Frau Draesner, weil Sie ja in Ihrer Lyrik vor allem so die Körperlichkeit auch thematisieren, und das fällt mir bei Kleist auch auf.

Draesner: Ja, da haben Sie vollkommen recht, es ist sehr schön, dass man das bemerken kann. Ich fand das schon immer irrsinnig, zum Beispiel im "Käthchen von Heilbronn", das Käthchen sieht irgendwie den Mann, in den es sich verliebt, und was macht es als Nächstes? Es springt aus einem Fenster. Und wenn man das mal umrechnet – da sind auch Maße angegeben: Das sind neun Meter Höhe, aus denen sie herausspringt, und danach sind die Beine kaputt und sie liegt länger im Gips. Das wird auch mit erzählt.

Aber die Körperlichkeit, wie die bei Kleist ins Bild gesetzt ist – auch natürlich Dorfrichter Adam im "Zerbrochenen Krug": geschunden und zerschlagen und von Trieben und von Fresssucht und Trinksucht mit alledem – das ist alles da. Und überhaupt, da fällt mir ein: Das Allertollste an Kleist fand ich ja bei meiner ersten richtigen Beschäftigung mit ihm den Bindestrich oder den Gedankenstrich in der "Marquise von O ... ": "Hier", steht da, Gedankenstrich, "traf er". Wen traf er? Irgendwelche Soldaten, der "er" ist selbst ein Soldat, der gerade ein Fort erobert hat und, wie man später merkt, die Marquise, die er vor der Vergewaltigung rettete durch andere, soeben selbst vergewaltigt hat.

Und das erzählt er mit diesem Gedankenstrich. Diese Art und Weise, aus dem Körper auch ein großes Rätsel, ein Geheimnis zu machen und ihn da mitten hineinzustellen, um 1800 – das ist klasse und das springt über.

Scholl: Wenn Sie Kleist mal treffen könnten, Frau Draesner, und Sie hätten eine Frage frei, welche würden Sie stellen?

Draesner: Ich würde mir gern von ihm beschreiben lassen, wie es im Totenreich ist.

Scholl: Jetzt hören wir auch noch ein Gedicht von Ulrike Draesner, und zwar ein unveröffentlichtes Kleist-Gedicht, direkt inspiriert von des Dichters Grab am Wannsee. Wann haben Sie es geschrieben?

Draesner: Das ist entstanden 1995, als ich zum ersten Mal für länger in Berlin war. Ich möchte gern ein Wort erklären, das ist "kleistogam", das hier vorkommt – das Wort gibt es, und es bezeichnet Blüten, die sich selbst bestäuben.

Scholl: Ich habe dieses Wort gelesen und dachte, das ist eine tolle Erfindung einer Dichterin.

Draesner: Nein, die Wirklichkeit ist immer besser. Es gibt das Wort.

Scholl: Jetzt hören wir das Gedicht, es heißt "Vogeltränke".

Draesner: Vogeltränke. An Kleists Grab. November, kleiner Wannsee, Litaneien, Listen. Aus seinem Rock, zwischen elektrischen Platten ein erstarrter Bügel, gebogen wie was er schrieb. Der Abdruck seiner Hoden im Sand. Ritzen, weit, Erde, viel, wie es zuhört, sich dehnt, Mönchspflanzen hier, Münder, Schiefer gleichfalls. Kurz Schröter durchkriecht preußischen Hügel, bewandert den Krieg. Von den Steinen pfeifen Gesichter, überfliegen kleistogam den gefrorenen See.

Scholl: "Vogeltränke", ein bislang unveröffentlichtes Gedicht über den Dichter Heinrich von Kleist, exklusiv hier im Deutschlandradio Kultur, verfasst und gelesen von Ulrike Draesner. Kleist und die Folgen – wir fragen in diesen Wochen deutsche Schriftsteller nach Einfluss und Wirkung von Heinrich von Kleist. Herzlichen Dank, Ulrike Draesner!

Draesner: Herzlichen Dank meinerseits!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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