Kleiner Schritt im Ausweis

Dieter Kassel im Gespräch mit Konstanze Plett · 07.11.2013
Seit dem 1. November müssen Eltern nach der Geburt eines Kindes das Geschlecht - wenn es uneindeutig ist - nicht im Personenstandsregister angeben. Diese Neuregelung lässt juristische Fragen offen. Juristin und Gender-Expertin Konstanze Plett über den rechtlichen Status der Personen mit "X".
Dieter Kassel: Seit einer knappen Woche, genau seit dem vergangenen Freitag, dem 1. November, müssen Eltern nach der Geburt eines Kindes nicht zwingend das Geschlecht angeben, zumindest nicht im Personenstandsregister, und dort, wie auch später dann im Reisepass, ist jetzt die Eintragung "X" möglich. Wir haben darüber am Stichtag, am vergangenen Freitag schon gesprochen, haben gehört, dass Betroffenenverbände das grundsätzlich begrüßen, aber auch in diesem Gespräch haben wir gemerkt, dass diese Neuregelung gerade juristisch doch auch viele Fragen offen lässt. Und ein paar dieser Fragen zumindest versuchen zu beantworten wollen wir jetzt im Gespräch mit Konstanze Plett. Die Juristin und Gender-Expertin von der Universität Bremen hat unter anderem auch den Deutschen Ethikrat in rechtlichen Fragen beraten. Erst mal schönen guten Tag, Frau Plett!

Konstanze Plett: Ja, guten Tag!

Kassel: Wenn wir diese einzelne Neuregelung, die jetzt seit einer knappen Woche gilt, mal nehmen – was würden Sie da juristisch sagen? Schafft die Klarheit oder bringt sie erst mal juristisch viel durcheinander?

Plett: Also es hat eine ganze Reihe von Folgefragen, aber wenn ich wirklich noch mal ganz bei der neuen Vorschrift anfangen darf, weil jetzt ja auch viel diskutiert worden ist, man kann sogar sagen, fast weltweit ist darüber berichtet worden: Es ist keine neue Option für Eltern. Also Eltern können nicht wählen, dass Sie den Geschlechtseintrag offen lassen, sondern die Vorschrift ist so formuliert, dass, wenn das Geschlecht nicht festgestellt werden kann und das ist eine Tatsachenfeststellung, dann bleibt der Geschlechtseintrag offen. Also es ist kein "X" jetzt vorgesehen im ersten Zugriff, sondern dann wird Geburt registriert mit Vornamen, Geburtsort, Eltern und all den anderen Angaben, aber eben ohne Geschlecht. Das ist das Neue. Und das ist die einzige Vorschrift, die jetzt dafür in Kraft gesetzt worden ist, und natürlich hat das eine Reihe von Folgewirkungen. Die erste ist – im Gesetz sind es nur zwei Zeilen, aber die Frage ist schon: Wie ist es denn, wenn die - also es gibt ja verschiedene Erscheinungsformen von uneindeutigem oder mehrdeutigem Geschlecht, und wie ist es, wenn die Ärzte meinen, sie können sagen, es ist eindeutig, aber die Eltern finden ihr Kind uneindeutig – wer entscheidet dann, was eingetragen wird? Das wäre die erste Frage. Oder der umgekehrte Fall, dass die Ärzte oder Hebamme sagt, es ist uneindeutig, und die Eltern möchten es aber gerne eindeutig haben. Da sagen die Juristen jetzt zunächst mal: Das ist dann eine Frage. Die Eltern haben jetzt nicht die Wahlmöglichkeit, sondern wenn uneindeutig, bleibt es offen, wenn eindeutig, wird eingetragen.

Kassel: Aber nehmen wir mal an, "uneindeutig, bleibt offen" ist der Status, zu dem es zunächst mal kommt nach einer Geburt. Nun hat das Innenministerium zum Beispiel schon sich geäußert zu dieser neuen Regelung und gesagt: Das ist aber keineswegs eine Art drittes Geschlecht oder Ähnliches, es ist auch keine Regelung auf Dauer. Einfach unjuristisch ausgedrückt habe ich das Gefühl, es soll ein bisschen Aufschub bedeuten in diesem Fall. Aber wie lange denn? Ist denn auch festgelegt, wie lange das quasi freibleiben kann im Personenstandsregister?

Plett: Also im Gesetz ist das noch nicht geregelt. Normalerweise gibt es dann ja auch weitere untergesetzliche Vorschriften, die das immer weiter ausbuchstabieren. Die sind aber noch nicht da. Wie das dann aussehen wird, kann ich jetzt noch nicht sagen, darüber habe ich noch keine Detailinformationen. Grundsätzlich dürfte es aber so sein, dass, wenn dann die Kinder heranwachsen und es wollen, dass sie sich später nicht bekennen müssen, sondern dann bekennen können. Allerdings ist dafür auf jeden Fall noch eine neue Regelung erforderlich, weil die aktuelle Auslegung auch der Standesämter war immer: Der Zeitpunkt der Geburt ist der entscheidende. Also wir brauchen, damit die Kinder – und die Politik hat das im Grunde so gewollt, dass die Kinder sich dann selber später entscheiden können –, … aber dafür braucht es auch noch weitere Regelungen.

Kassel: Da müssen wir jetzt natürlich ein bisschen spekulieren, weil Sie oft antworten müssen auf meine Fragen "Dafür braucht es noch weitere Regelungen" - dann nehmen wir an, nach der Geburt wurde nicht eindeutig zugeordnet und dementsprechend ist im Personenstandsregister auch nicht "männlich" oder "weiblich" festgehalten. Und es handelt sich um einen Menschen, der, je älter er wird – da haben wir schon die Frage, er oder sie, ich sage jetzt mal er –, je älter er wird, erwachsen, beschließt, ich bin da ganz glücklich drüber, ich möchte diese eindeutige Zuordnung gar nicht – selbst wenn wir mal für den Moment unterstellen, das ginge grundsätzlich, es gibt nicht irgendeinen Stichtag, wo man sich entscheiden muss, was bedeutet das auch rechtlich darüber hinaus? Es gibt doch einen großen Teil unseres Rechtssystems, Zivilrecht, andere Bereiche, die im Prinzip doch eine eindeutige geschlechtliche Zuordnung voraussetzen, oder?

Plett: Also so weit sind die Bereiche da gar nicht gesteckt. Also es ist im Bereich wirklich der Verwaltung und Bürokratie eine Menge, wenn jemand reisen will, im Pass, ist auch gesetzlich geregelt, da wird es Änderungen geben müssen, das sind aber gewissermaßen Folgebestimmungen, im Rentenrecht die Verwaltung kennt auch nur Männer und Frauen, da wird es auch eine Folgeregelung geben müssen. Das, was natürlich als erstes einfällt: Wie ist es, wenn diese Menschen erwachsen sind und heiraten wollen oder Lebenspartnerschaft, weil ja Ehe zwar nicht vom Gesetzeswortlaut her, aber von der festgefügten Rechtsprechung und der sogenannten herrschenden Meinung her ist ein Rechtsinstitut für Mann und Frau, und eingetragene Lebenspartnerschaft nur für Gleichgeschlechtliche, also jetzt Menschen ohne Geschlechtseintrag – da müssten sich zwei ohne Geschlechtseintrag finden, um eine Lebenspartnerschaft eingehen zu können und dürften gar nicht heiraten. Das, glaube ich, wenn diese Menschen so weit sind, wird das keinen Bestand haben, weil das Bundesverfassungsgericht hat ja auch schon im Bereich Transsexualität da eine große Liberalisierung herbeigeführt. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Menschen, wenn sie so alt sind, auch werden heiraten dürfen, weil das sind ja noch mindestens 16 Jahre und mehr. Eine andere Frage ist aber für die jetzt Erwachsenen bereits, ob die einen Anspruch darauf haben, ihren Geschlechtseintrag gestrichen zu bekommen, denn eine Anhörung beim Ethikrat und andere, die sich auch öffentlich und medial äußern, sagen ja, bezogen auf ihr eigenes individuelles Geschlecht: Ich bin intersexuell, ich bin weder männlich noch weiblich oder beides. Aber alle erwachsenen Intersexuellen haben ja ein Papiergeschlecht, das entweder männlich oder weiblich ist. Ich kenne eine Reihe, ich weiß längst nicht bei allen, was im Papier steht, es interessiert mich eigentlich auch nicht. Von daher hoffe ich, dass jetzt diese Diskussion, die auch dadurch angestoßen wird, das Geschlecht vielleicht insgesamt an Bedeutung etwas verliert. Und bezogen auf Ehe und Lebenspartnerschaft – das wird ja auch von denen, denen derzeit nur eine Lebenspartnerschaft offen steht, angemahnt, eingefordert, dass für sie auch die Ehe gilt. Wenn wir das schon hätten, dann wäre es für Intersexuelle überhaupt kein Problem, weil da wäre eine staatlich anerkannte Bindung. Würden nur zwei Menschen, sich dieses Versprechen einander geben und das staatlich registriert wird, dann kein Problem.

Kassel: Das sind aber, Frau Plett, viele nationale Regelungen, über die wir gesprochen haben, und ich glaube, es wird schon klar: Schon da wird es sehr schwierig werden, alles anzugleichen, da wird es auch – so habe ich Sie verstanden – eine Parallelentwicklung auf dem juristischen, aber auch auf dem gesellschaftlichen Bereich geben müssen. Wie sieht es dann denn aber eigentlich im, ich nenne das jetzt mal so, internationalen Rechtsverkehr aus? Es ist ja zum Beispiel so: Im Personalausweis steht gar kein Geschlecht, im Pass aber schon. Wenn wir jetzt in Deutschland beschließen würden, in den Pass schreiben wir auch kein Geschlecht mehr – würde das überhaupt funktionieren? Käme man noch in jedes Land rein? Ich glaube nicht.

Plett: Ja, das ist eine gute Frage, das ist dann auch letztlich eine Tatsachenfrage, weil es gibt ja schon Länder, die haben bei Geschlecht dann in der Tat ein "X", Australien, Neuseeland, statt "M" oder "F", und gerade der Reiseverkehr, da gibt es auch internationale Verwaltungsabkommen, die aber nicht so weit gehen können, dass nationales Recht gezwungen wird, etwas, was es als falsch erkannt hat, dann trotzdem fortzuführen. Also diese Verwaltungsabkommen können nur verlangen, dass das befolgt wird. Wie es dann im individuellen Reiseverkehr wird, kann ich heute auch nicht sagen, Diskriminierung droht, jetzt hätte ich fast gesagt, natürlich, im Recht ist nichts natürlich, aber Diskriminierung droht leider doch auch häufig. Und ein weiteres Problem kommt auch da wieder, Verwaltung, die heutzutage digitalisiert ist, wie oft füllen wir Formulare aus, und ich versuche es schon länger, den Geschlechtseintrag mal offen zu lassen, …

Kassel:
Geht technisch meistens nicht.

Plett:
Geht technisch nicht, es geht nicht weiter. Also da wird auch eine Menge passieren müssen, und auch außerhalb der staatlichen Verwaltung, bei ganz normalen Verbänden, Kaufhäusern oder wo immer, bei der Bank, überall wollen sie das Geschlecht wissen. Also da wird sich auch einiges tun müssen.

Kassel: Mir geht am Schluss unseres Gespräches noch eine – ich glaube, es ist im weitesten Sinne eine rechtsphilosophische – Frage durch den Kopf. Ich frage mich oft bei neuen Gesetzen oder veränderten Gesetzen, die die sexuelle Selbstbestimmung betreffen: Was ist die Aufgabe des Gesetzgebers? Ist es die Aufgabe, eine bereits existierende gesellschaftliche Realität auch in Gesetze umzusetzen, oder ist es manchmal auch die Aufgabe, Gesetze zu schaffen, die die gesellschaftliche Realität verändern?

Plett: Das ist ein bisschen die Frage nach Henne und Ei. Also empirische Untersuchungen zeigen: Wenn der Gesetzgeber zu schnell vorauseilt, sozusagen in einer noch moderneren, aufgeklärteren Interpretation der Grundrechte, die ja Maßstab für alles andere Recht sind, und es dann von der Bevölkerung nicht angenommen wird, das führt auch zu nichts. Das hatten wir in den 70er-Jahren mit der damaligen Ehe- und Scheidungsrechtsreform. Auf der anderen Seite lässt sich auch nicht sagen, dass die Gesetze immer nur gesellschaftlicher Entwicklung hinterher hängen, weil die gesellschaftliche Entwicklung ja auch nicht so eindeutig ist. Also das Echo, das jetzt diese neue Regelung ausgelöst hat, was ich da gelesen habe, also jetzt beispielsweise in Blogs oder Kommentaren im Internet zu Veröffentlichungen, das ist ja auch gar nicht einheitlich, das ist breit, und das ist jetzt noch eine Minderheit, die diese Regelung gut findet, weit über den Betroffenenkreis hinaus, aber noch eine Minderheit. Aber ich denke, es wird sich verbreitern und der gesellschaftliche Wandel hat schon begonnen, dass das auch akzeptiert wird, dass Geschlecht nicht nur männlich oder weiblich bedeutet, wie es das das ganze 20. Jahrhundert hindurch getan hat. Aber wir sind jetzt im 21. Jahrhundert, und in früheren Jahrhunderten war die Sichtweise auch schon mal etwas offener, vielleicht nicht der Umgang, aber doch die Sichtweise, und von daher bin ich eigentlich ganz guter Zuversicht, dass sich das auch regeln lassen wird, was jetzt geregelt werden muss, aufgrund dieser neuen Bestimmung.

Kassel: Diese neue Bestimmung besagt zunächst erst mal nur, und sie ist in Kraft seit vergangenem Freitag, dass, wenn es nicht eindeutig festgestellt werden kann, auch kein eindeutiges Geschlecht eingetragen werden muss ins Personenstandregister, und wir haben jetzt besprochen, was das bedeuten kann, muss und vielleicht auch wird, was die weitere Entwicklung angeht. Ich danke für dieses Gespräch herzlich, Konstanze Plett war bei uns im Studio, Juristin und Gender-Expertin von der Uni Bremen. Danke Ihnen!

Plett: Danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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