Kleine Malaisen mit großer Bedeutung

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 19.01.2006
Eine minimalistische Dramatik der Ereignisse zeichnet die Romane des Belgiers Jean-Philippe Toussaint aus. Es geht um die heitere Absurdität des zivilisierten Lebens, den Irrsinn, der in den Objekten des Alltags lauert – so auch in "Der Photoapparat". Joachim Unseld hat den Roman neu übersetzt.
Wer zur Auffassung neigt, dass schon das ganz normale Leben mit seinen alltäglichen Vollzügen und seinem Selbstverwaltungsaufwand den Menschen vor schier unlösbare Probleme stellt (vom Erringen von Liebe, Sinn und Wohlstand ganz abgesehen), der hat in Jean-Philippe Toussaint seinen Autor gefunden. Der 1957 geborene Belgier schreibt kurze Romane über kleine Malaisen mit großer Bedeutung.
Der Ich-Erzähler in "Der Photoapparat", seinem zweiten Roman aus dem Jahr 1989, jetzt neu übersetzt von Joachim Unseld, fasst eines Tages den Entschluss, den Führerschein zu machen. Aber schon im Vorfeld der Anmeldung bei der Pariser Fahrschule kommt es zu unerwarteten Hindernissen und Schwierigkeiten. Allein die notwenigen Unterlagen zusammenzubekommen, grenzt ans Übermenschliche.

Die Realität ist keine gerade Straße. Überall lauern Abzweigungen. Im Fahrschulbüro lernt er die attraktive Pascale Polougaievski kennen, die dort als Sekretärin arbeitet, eine junge Frau mit "liebenswert verschlafenem Anblick", "naturgegebener Mattigkeit", ja "sensationeller Schläfrigkeit" - genau das, was er mag. Schon nach seinem nächsten Besuch in der Fahrschule begleitet er die alleinerziehende Mutter beim Abholen ihres Sprösslings Klein-Pierre.
Eingeschoben wird nun der Bericht einer Reise nach Mailand, deren Zweck undurchsichtig bleibt, die dem Roman aber - der Ich-Erzähler laboriert an Hühneraugen - eine große Fußpflege-Szene einträgt. Zurück in Paris, setzen sich die Tücken des Alltags fort. Dem Heizstrahler in der Fahrschule ist das Gas ausgegangen; und das nächste Abenteuer besteht darin, eine neue Gasflasche zu besorgen. Hier, in der Mitte des schmalen Buches, liegen seine stärksten Passagen: Eindrucksvoll wird die Lebenswelt der Supermarktparkplätze, Vorstadtwohnblöcke und Autobahnzubringer beschrieben - Tristesse der Pariser Banlieue.

Es folgt ein Wochenendausflug des Paares nach London. Erschöpft trifft man ein, legt sich im Hotelzimmer ins Bett, schaltet den Fernseher an, um sich die Live-Übertragung eines Billardspiels anzuschauen. Später kommt es tatsächlich zu einem ersten Liebesakt von ausgesprochen schläfrigem Charme. Wie immer bei Toussaint ist nichts von Zielstrebigkeit zu spüren; alles ereignet sich ungeplant und beiläufig.

Nach einem berühmten Satz des Philosophen Pascal verdankt sich das Unglück der Menschen dem Umstand, dass sie unfähig seien, in Ruhe allein in ihrem Zimmer zu bleiben. Vor diesem Hintergrund erscheint es aufschlussreich, dass die junge, so liebenswert müde Frau im Roman Pascale heißt – und dass der Erzähler sein Zimmer verlässt, um eine höhere Form der Mobilität anzustreben. Alles Mögliche passiert, nur dem erwünschten Führerschein kommt er keinen Schritt näher.

Unwillkürlich denkt man bei der Lektüre auch an Jaques Tati. Die heitere Absurdität des zivilisierten Lebens, der Irrsinn, der in den Objekten des Alltags lauert – dergleichen führt uns der legendäre Filmkomiker mit seiner existentiellen Ungeschicklichkeit vor, und darum geht es auch in den Büchern Toussaints mit ihrer minimalistische Dramatik der Ereignisse. Mit einer Mischung aus Erstaunen, Feindseligkeit und vorsichtigem Respekt bewegt sich Toussaints Antiheld durch die Wirklichkeit, die letztlich, so ist er sich gewiss, doch nur eine Attrappe ist. Er versucht, "die Realität zu zermürben, wie man beispielsweise auch eine Olive mürbe machen kann, bevor man sie erfolgreich auf eine Gabel spießt". Die eigene Saumseligkeit und Handlungsschwäche erscheint in diesem wohlwollenden Licht als gezielte Taktik, um die Oberhand zu behalten.

"Im Kampf mit der Wirklichkeit, musst du sie entmutigen." Toussaints Ironie arbeitet kokett mit der notorischen Realitätsschwäche des Geistesmenschen. Wie die Helden Thomas Bernhards treten seine Hauptfiguren als philosophische Charaktere auf, ohne dass der Autor (wiederum wie Bernhard) sich über weite Strecken darum bemühen würde, diese geistige Kapazität auch inhaltlich auszuweisen. Im letzten Drittel werden schließlich philosophierende Passagen eingeschaltet, wattstarke Erleuchtungen, in denen es nun plötzlich ironiefrei um die "Verzweiflung des Seins", die "Tiefen des Seins" oder das "Höllenspektakel der Welt" geht. Die Toussaint-Interpreten spielen gerne mit und lassen die lakonischen Texturen des Autors im Licht der Bedeutsamkeit erstrahlen. Bezüge zu Epikur, Seneca oder dem Zen-Buddhismus werden hergestellt; hinter jeder dargestellten Banalität lauert der philosophische Mehrwert.

Und was hat es mit dem Titel auf sich? Bei der Rückkehr von London nach Paris entdeckt der Ich-Erzähler im Restaurant der Fähre einen herrenlosen Fotoapparat. Er entwendet ihn; knipst den Film mit verwischten Aufnahmen im Dunkeln voll, auf denen vor allem seine Füße und die Treppenstufen des Schiffes zu sehen wären. Er nimmt den Film heraus, wirft die Kamera über Bord. Das gibt zu denken. Darüber hinaus könnte der Fotoapparat das Wappentier dieses Schriftstellers sein. Seine Romane setzen sich zusammen aus vielen Nahaufnahmen – Schnappschüsse, die meist etwas Nebensächliches fokussieren. Seine Romane setzen auf Beschreibungskunst; sie haben kaum Dialoge und keine entschlossen voranschreitende oder auch nur mit logischer Konsequenz entwickelte Handlung.

Ungeachtet mancher Einwände darf man dem Roman elegante Schwermut attestieren. Es geht um die große Vergeblichkeit aller Anstrengungen, aber dann überrascht das Leben die Figuren Toussaints immer wieder auch mit Momenten anrührenden zwischenmenschlichen Glücks. Aus der Mattigkeit gehen Zustände großer Klarheit hervor. Diese Balance zwischen weltanschaulichem Pessimismus und Lebensfreundlichkeit gehört zu den schönsten Qualitäten des belgischen Beckett.

Jean-Philippe Toussaint: Der Photoapparat
Aus dem Französischen von Joachim Unseld
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt, 2005,
120 Seiten
15,90 Euro