Klassische Musik

Auf den letzten Ton folgt Stille

Der Koreaner Myung-Whun Chung nimmt in der Semperoper in Dresden den Applaus entgegen.
Nur nicht zu früh klatschen, heißt die Regel im klassischen Konzert. Viele halten sie nicht ein. © picture alliance / dpa / Matthias Creutziger
Von Erik von Grawert-May · 12.02.2016
Nicht klatschen, bevor der letzte Ton verklungen ist – diese Regel gilt im Konzertsaal. Und auch in anderen Lebensbereichen könnte es eine gute Übung sein, Töne und Worte erst ausklingen zu lassen, bevor man reagiert, meint der Wirtschaftsethiker Erik von Grawert-May.
Mit dem letzten Ton sei die Musik noch nicht zu Ende, schrieb Daniel Barenboim in seinem Buch "Klang ist Leben". Aus dem Satz spricht die Erfahrung eines Pianisten und Dirigenten, der sich von Zuhörern schon so einiges gefallen lassen musste.
Wenn der erste Ton in Beziehung zu der vorausgehenden Stille stehe, heißt es weiter, dann müsse der letzte in Beziehung zu der Stille stehen, die auf ihn folge. Und so werde ein allerletzter expressiver Moment erzeugt. Deshalb sei es so störend, wenn ein begeistertes Publikum zu applaudieren beginne, bevor der letzte Ton verhallt sei.
Das Phänomen ist weit verbreitet. Man begegnet ihm nicht nur im Konzertsaal, auch im Radio, besonders in E-Musik-Sendungen. Moderatorinnen und Moderatoren können es oft genug nicht abwarten, mit ihrer Stimme mitten in die Stille hineinzuplatzen.
Bach-Performance mit Kopfhörern
Das ist sogar noch untertrieben. Die Stille darf sich gar nicht erst ausbreiten. Wie Barenboim es moniert, brechen sie in die ausklingende Schluss-Sequenz ein, als wenn der letzte Ausdruck der Interpretation nur eine Pause ist, die übergangen werden kann.
Kürzlich hat die Performance-Künstlerin Marina Abramovič in New York ein für sie typisches Experiment mit Hörern der Goldberg-Variationen von Bach gemacht. Zu Beginn der Veranstaltung mussten erstmal alle Gäste ihre elektronischen Geräte, einschließlich der Uhren, abgeben und bekamen Kopfhörer aufgesetzt, sodass sie völlig von der Außenwelt abgeschnitten waren.
Das zog sich etwa eine halbe Stunde hin. Derweil verloren sie, wie von Abramovič beabsichtigt, das Gefühl für Zeit und Raum. Erst kurz bevor der Pianist Igor Levit loslegte, durften die Besucher die Kopfhörer ablegen. So vorbereitet, wurde ihre Konzentration auf Bachs Musik extrem gesteigert – ebenso die Sensibilität für die nie endenden Geräusche der Stadt New York. Man nahm sie plötzlich bewusst wahr.
Angst vor der Stille
Die Performance-Künstlerin will mit ihren Projekten nebenbei auch Angst erzeugen. Das gelingt ihr glänzend. Stille macht Angst. Man muss sie erst künstlich kultivieren, damit sie als Wohltat empfunden wird. Aber warum macht sie Angst? Weil der Mensch erst lernen muss, sie auszuhalten.
Es ist, als ob ihn etwas zum Klatschen und zum Sprechen so zwingen würde, dass er immer zu früh damit beginnt. So, als befände er sich ständig im Wald, wo er aus Verlorenheit zu pfeifen anfängt. Diese Ungeduld begleitet auch durch Gespräche, obwohl eine lebendige Unterhaltung durchaus anregend sein kann.
Es gibt Seminare, da werden die Teilnehmer gebeten, andere in der Runde aussprechen zu lassen, auch danach noch einen Moment zu schweigen, das Gesagte nachwirken zu lassen, sich Zeit für eine Antwort zu nehmen. Manchmal stellen sie dann überrascht fest, dass der Redner in die Stille hinein unvermutet weiterspricht, einen Gedanken beendet, vielleicht sich endlich traut, Wesentliches folgen zu lassen.
Ausklingen-Lassen als Methode
In aller Regel aber lastet die Stille auf einem. Zu Recht fürchtet sich davor, wer sie schnell zerreißt. Gerade unter Spannungen eines Streites zeigt sich, dass es mehr Mühe macht, die Stille auszuhalten, als sie zu durchbrechen, gerade wenn sie sich zu lange ausbreitet.
Nur wenigen Menschen gelingt ein stummer und zugleich einvernehmlicher Dialog im Beieinandersein. Es zu erlauben, dass Töne und Worte ausklingen, zeugt von Respekt für den anderen und ist eine Form guten Benehmens oder klugen Umgangs miteinander.
Es ist also nie zu spät, sich selbst auf die Probe zu stellen, sich im Sinne von Abramovič und Barenboim auf ein Exerzitium in Sachen Stille einzulassen. Um sich besser für Musik oder fürs Gespräch zu wappnen.
Erik von Grawert-May, aus der Lausitz gebürtiger Unternehmensethiker, lebt in Berlin. Letzte Veröffentlichungen "Die Hi-Society" (2010), "Roma Amor - Preußens Arkadien" (2011), "Theatrum Belli" (2013). www.grawert-may.de
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