Klassiker

Der Goethe der Ukraine

Taras Schewtschenko
Der ukrainische Schriftsteller Taras Schewtschenko (1814-1861) © dpa / picture alliance / bifab
Von Vera Block · 09.03.2014
Mitten im Konflikt mit Russland feiert die Ukraine den 200. Geburtstag ihres größten Dichters: Taras Schewtschenko gilt als Begründer der ukrainischen Nationalliteratur. Doch ein verstaubter Klassiker ist er nicht.
Eine Demonstration vor der ukrainischen Botschaft in Berlin, während sich die Ereignisse auf dem Maidan überschlagen. Gelb-blaue Fahnen, Putin-Karikaturen, Plakate mit Freiheitsparolen. Ein Mann um die 30 im ukrainischen bestickten Trachtenhemd hält einen blau-gelb bemalten Karton in die Höhe. Darauf eine Textzeile:
"Und dieser Satz, der heißt 'switaje, kraje neba plaje' - 'Der Morgen graut und ich sehe das Feuer im Himmel.' Und der Rest des Gedichtes beschreibt: 'Schau dir dieses schöne Land an, und ich werde über die Wolken fliegen, da, wo man ein Land sieht, wo kein Herrscher herrscht, wo keine Ketten sind, wo keine Peitschen sind, wo die jungen Männer nicht zur Armee getrieben werden, wo die Frauen deswegen nicht weinen müssen, die Mütter' … Und ich finde, das passt heutzutage immer noch.
Mein Großvater hat sich sein Leben lang für die Unabhängigkeit der Ukraine, als es noch in der Sowjetunion war, eingesetzt. Ich spreche leider kein Ukrainisch, aber ich habe von Schewtschenko seit ich klein bin gehört, dass er im Grunde genommen der ukrainische Goethe oder Victor Hugo ist.“
Zwangsarbeit in Kasachstan
Schewtschenko war nicht der erste, der in ukrainischer Sprache schrieb, aber der erste, dessen Texte im russischsprachigen Kulturraum als vollwertige Literatur wahrgenommen wurden, sagt der ukrainische Philosoph und Historiker Andriy Portnov. Für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist aber nicht nur sein Werk, sondern auch sein Schicksal außerordentlich:
'Als Leibeigener geboren, schaffte er es, namhafte russische Kulturschaffende auf sich aufmerksam zu machen. Sie sammelten Geld, kauften Schewtschenko frei und ermöglichten ihm ein Studium an der Petersburger Kunstakademie. Als er aber seine politischen Gedichte in ukrainischer Sprache veröffentlichte, wurde Schewtschenko verhaftet und zu zehn Jahren Zwangsarbeit nach Kasachstan verbannt. Kurze Zeit nach seiner Rückkehr erlag Schewtschenko seinen Krankheiten. Und wurde sehr schnell zur wichtigsten Symbolfigur der ukrainischen Literatur.'
Und das ist er bis heute. Vor allem seine romantische Lyrik ist volksnah. Schewtschenko ließ sich von wehmütigen Volksliedern inspirieren und schrieb zornige Zeilen gegen die Leibeigenschaft und Monarchie. All das erreicht die Menschen in der Ukraine auch heute noch unmittelbar:
'"Kak umru pochoronite na Ukraine milij, posredi schirokoj stepi vyrojte mogilu'- Wenn ich sterbe, dann bitte ich Sie, mich auf meiner geliebten Ukraine zu beerdigen.“
… rezitiert Galina von der Euromaidan-Mahnwache, einer Infostelle, die im Januar in Berlin gegründet wurde.
Gedichte auf den Barrikaden
Zur gleichen Zeit sah man in den Nachrichten zwischen den Barrikaden und Feuerstellen auf dem Maidan Bilder von Taras Schewtschenko als Jüngling mit wehenden Locken oder als alten Mann mit üppigem herunterhängendem Schnurrbart. Demonstranten sangen Lieder zu seinen Gedichten:
"Das erste Opfer auf dem Maidan, Sergej Nigojan, hatte in den Barrikaden von Maidan ein Gedicht von Taras Schewtschenko vorgetragen."
… erzählt Galina und zeigt einen kurzen Film, der im Internet kursiert: Der junge bärtige Mann blickt in die Kamera und ballt die rechte Hand zum Protest.
In der Ukraine tragen heute die Universität und das Opernhaus Schwetschenkos Namen. Zu Zeiten der Sowjetunion gehörte der Dichter als großer Internationalist zum Kanon. In fast jeder Stadt von Armenien bis nach Litauen gab es nach ihm benannte Straßen. Doch nach dem Zerfall der UdSSR ließ in Russland die Begeisterung für den ukrainischen Dichter nach.
Seine pro-ukrainische Einstellung wurde als anti-russisches Ressentiment gedeutet und mitunter in eine radikal-separatistische Ecke gestellt. Auch heute, sagt der ukrainische Historiker und Philosoph Andriy Portnov, wird das Œuvre Taras Schewtschenkos von diversen gesellschaftlichen Gruppen instrumentalisiert. Der ukrainische Philosoph erinnert sich an eine Geschichte der jüngsten Vergangenheit:
"Das ist eine große Ironie der Geschichte. Vor kurzem hat der damalige Präsident Janukowitsch einen Vorschlag eingebracht, den Geburtstag Taras Schewtschenskos am 9. März zum Tag der nationalen Einheit zu ernennen. Doch ein paar Tage später musste er aus Kiew flüchten. Im gewissen Sinne hat Taras Schewtschenko ihm einen bösen Streich gespielt."
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