Klassenprimus

Von Margarete Blümel · 28.05.2008
Gegen Mitternacht sind die U-Bahnen der Metropole Seoul mindestens ebenso voll wie nach Büroschluss. Kein Abteil, in dem nicht Dutzende von Teenagern erschöpft den Kopf an die Schulter ihres Sitznachbarn gelehnt haben. Während andere sich die müden Augen reiben, teilnahmslos vor sich hinschauen oder auf ihrem Stehplatz von einem Bein aufs andere treten, um ja nicht in Schlaf zu sinken.
Die jungen Leute haben einen etwa 18-stündigen Schultag hinter sich. Sofort nach dem Unterricht in ihrer jeweiligen Oberschule sind die Jugendlichen zum "Hakwon", ihrem privaten Nachhilfeinstitut, geeilt. Bis kurz vor Mitternacht bringen die Schüler dort ihre Kenntnisse auf Vordermann. Ein Drill, der keine Verschnaufpause und keinen Ruhetag kennt. Kurz gefasst, sagt die Universitätsprofessorin Eung-Jeung Lee, lautet das Credo: Wer in der zwölften Klasse mehr als vier Stunden schläft, verschläft seine Karriere.

E.- J. Lee: "Wenn man an der Seoul National Universität studiert hat oder an den besten zehn Universitäten studiert hat, hat man bessere Chancen auf einen guten Job. Deswegen macht man das."

Die Studenten der Seoul National University haben gut lachen, denn sie haben es bereits geschafft. Wer hier, am renommiertesten Bildungsinstitut des Landes, aufgenommen werden möchte, muss bei den Aufnahmeprüfungen um die 95 Prozent aller Mitstreiter überflügeln.

Um so weit zu kommen, bringen nicht nur die Schüler selbst, sondern auch deren Familien jedes Opfer. Viele Eltern verschulden sich bis an ihr Lebensende, um den Privatlehrer oder das besonders angesehene Nachhilfeinstitut für ihr Kind zu finanzieren.

E.–J. Lee: "Dass dieser Bildungseifer dermaßen stark geworden ist, hat auch mit unserem sozialem Hintergrund zu tun. Denn in der traditionellen Gesellschaft gab es keinen Geburtsadel. Nur die eigene Leistung adelt, wenn man das Staatsexamen geschafft hat. Das war ja die einzige Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Und das gilt bis heute noch! Es gibt nichts anderes als Bildung!”"

Fast alle führenden Positionen des Landes sind mit Kandidaten besetzt, die nach dem Examen an einer südkoreanischen Eliteuniversität studiert haben. Studenten aus wohlhabenderen Familien krönen ihre Bildungslaufbahn schließlich mit einem Abschluss an einer amerikanischen Hochschule. Dies gilt als die sicherste Kombination, um nach der Heimkehr in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Bildung Karriere zu machen.

Ein Werdegang, sagt die Soziologin Dr. Sun Mi Kang, den inzwischen auch viele junge Frauen anstreben.

S. M. Kang: ""Immerhin verlassen heute schon etwa 80 Prozent der Mädchen die Oberschule mit dem Abitur. Viele von ihnen besuchen danach die Universität und erwerben den Bachelor of Arts. Und um die 50 Prozent dieser Frauen sind danach berufstätig."Immer schneller, immer höher hinauf – im Alltag ist das durch kritikloses Wiederkäuen des Lehrstoffes und unbedingten Respekt dem Lehrer gegenüber zu schaffen. Die Saat für dieses Verhalten keimt schon in den konfuzianisch strukturierten Grundschulen.

Etwa 20 Jungen und Mädchen sitzen, die Beine über Kreuz, auf dem Fußboden des Klassenraumes. Seit fast zwei Stunden liest der Lehrer seinen Schülern aus den Lehren des Konfuzius vor. Sobald eine Textpassage beendet ist, hebt er kurz den rechten Arm. Das ist das Zeichen für die Kinder, die zuletzt gehörten Kernsätze zu wiederholen.

Beom Choi: "”Wir haben es dem Konfuzianismus zu verdanken, dass unser Land sich in den vergangenen Jahrzehnten vom Agrarland in einen boomenden Industriestaat verwandelt hat. Einer der wichtigsten Kernsätze im Konfuzianismus besagt, dass der Mensch sein Herz und seine Gedanken unter Kontrolle zu halten hat. Das, wiederum, ist gemäß der konfuzianischen Lehre nur durch eine ständige Erweiterung des Wissens zu erlangen. Das beständige Lernen, das Mehren von Wissen, wird als charakterbildende Maßnahme begriffen. Der Lehrer als Vermittler dieses Wissens gilt als unantastbar und wird sehr verehrt. Die Lehrmethoden sind von Strenge und von ständigen Wiederholungen geprägt. Für Menschen aus dem Westen sieht all das vielleicht rigide aus und ist schwer nachzuvollziehen. Aber der große Erfolg, den unsere Wissenschaftler erworben und den unser Land erwirtschaftet hat, diesen Erfolg müssen wir fast durchweg dem Einfluss des Konfuzianismus zuschreiben.""

Erzählt Professor Il-Beom Choi von der konfuzianischen Sungkyunkwan Universität in Seoul, der allerdings auch die Gefahren einer solchen Haltung sieht:

Beom Choi: "Dass die Menschen hier den Prinzipien des Konfuzianismus folgen und großen Wert auf ihre Bildung legen, ist ohne Zweifel gut. Und dass uns diese Geisteshaltung weltweit konkurrenzfähig macht – wer wollte das bemängeln? Nur - welche Dimensionen das Ganze angenommen hat, dass Abiturfeiern fast schon nationale Ereignisse sind und welchem Stress die Jugendlichen unterliegen, das müsste mehr in Frage gestellt und diskutiert werden."

Einer der angehenden Studenten hat es sich nach seinem langen Schultag kurz nach Mitternacht im Bahnabteil gemütlich gemacht. Er hat die Beine auf seine Tasche gelegt und den Kopf nach hinten sinken lassen. Sein Mund ist leicht geöffnet. Wäre das Fahrtgeräusch nicht so laut, könnte man ihn sicherlich schnarchen hören. Die Zeitung ist unbemerkt von seinem Schoß zu Boden geglitten. "Weltweiter Stolz!" lautet ihre Schlagzeile. "Koreas Universitäten auf der Überholspur!"