Klangbrücken-Festival ehrt Mauricio Kagel

Fahrradklingeln und verrutschte Marschmusik

Der Komponist Mauricio Kagel im elektronischen Studio des WDR im Jahre 1960.
Der Komponist Mauricio Kagel im Jahre 1960. © WDR
Von Agnes Bührig · 06.04.2016
Bei Mauricio Kagel gerieten Sinfoniekonzerte zur Performance, ersetzten Fahrradklingeln Instrumente, die Marschmusik verlor den Takt. Nun widmet das Festival für gegenwärtige Musik Klangbrücken in Hannover dem Komponisten seine vierte Ausgabe.
Es weht eine frische Brise um die Oper Hannover. 111 Radfahrerinnen und Radfahrer tauchen plötzlich im Schwarm auf, zischen und pfeifen wie der Wind, klingeln und fahren rasch am Publikum vorbei. Kein Wunder, sagt Stephan Meier, künstlerischer Leiter von "Musik 21 Niedersachsen" und Dirigent des Konzerts im Rahmen des Klangbrücken-Festivals in Hannover. So sei das eben mit einer Brise, wie Mauricio Kagel sein 1996 entstandenes Werk genannt hat.
"Der Wind weht, wo er will, und eine Brise: Da muss man nicht immer gleich eine Antwort haben, woher die kommt."
Dann tritt ein glatzköpfiger, beleibter Herr auf dem Balkon der Oper ans Mikrofon
"Ich freue mich, Euch hier zu sehen, eine einzige Nation von Könnern."
Selbstverliebt mimt der Schauspieler Steve Karier den Herrscher, monologisiert über Begriffe wie Nation, Grenze, Feind. "Der Tribun - für einen politischen Redner, Marschklänge und Lautsprecher" – so hat Kagel seine Demaskierung von Macht und Obrigkeit aus dem Jahr 1979 genannt. Begriffe, die auch heute wieder erschreckend aktuell sind und viele Zuschauer ins Grübeln bringen. Zumal sich kurz darauf eine Marschkapelle in Bewegung setzt. Das ist typisch für Kagel, sagt Klaus Angermann, Chefdramaturg der Staatsoper Hannover, gilt der gebürtige Argentinier doch als Begründer des instrumentalen Theaters.
"Er hat damit auch den Musikbegriff insgesamt erweitert. Dass es eben keine scharfen Grenzen gibt bei ihm zwischen Musik und Theater, zwischen Musik und Film oder Musik und Tanz, sondern dass diese Dinge auf sehr schillernde und interessante Weise ineinander über gehen."

Mauricio Kagel spielte mit den Gattungen

Das Spiel mit den Gattungen zeigt sich auch in der Oper, beim Sinfoniekonzert des Niedersächsischen Staatsorchesters. Bevor es los geht, nimmt sich der Dirigent Jonathan Stockhammer die künstlerische Freiheit, sich einen Whisky einzugießen. Theatralisch geht es weiter: Eine Frau betritt die Bühne, völlig aufgelöst, einen Brief mit scheinbar schrecklichem Inhalt in den Händen. Allein mit Vokalen gestaltet die Mezzosopranistin Mareike Morr den Inhalt des Briefes – statt Worte in Musik zu kleiden transportiert Kagel dessen Aussage allein nonverbal.
Von der Performance bis zum Sinfoniekonzert – das Festival Klangbrücken zeigt eindringlich, wie Mauricio Kagel mit Ausdrucksformen experimentiert hat und sich wenig um die Konventionen der Musikwelt scherte. Die Marschmusik verliert den Takt und rutscht ab ins Surreale, der Fahrradfahrer wird zum Sänger, das Theater ist allgegenwärtig.
"Kagel kam vom Theater und als er als Komponist in Darmstadt sich präsentieren konnte, hat er eingeschlagen wie eine Bombe. Warum? Weil er offensichtlich etwas dazu gebracht hat, was vorher nicht da war. Vielleicht so etwas wie das richtige Leben – oder auch nur: der gesunde Menschenverstand."
Sagt Stephan Meier und erinnert an Kagels legendäre Ferienkurse für Neue Musik in Darmstadt in den 1960er-Jahren. Alltagsgegenstände wurden zu Instrumenten umdefiniert, Instrumente zu Alltagsgegenständen, um ihnen neue Klänge und Sichtweisen zu entlocken.

Ein Duett als Tennisduell

"Match" heißt Kagels Stück von 1964, das Studierende der Musikhochschule präsentieren. Auf der Bühne sitzen sich zwei Cellisten gegenüber, gekleidet wie Tennisspieler in kurzen weißen Hosen, Turnschuhen, eine Basecap auf dem Kopf. In der Mitte ein Perkussionist als Schiedsrichter – hinter Xylophon und allerlei Schlagwerk. Musikalisch werfen sie sich die Bälle zu, ab und zu versucht der wild gestikulierende Schlagzeuger sie zu stoppen. Das ist unfreiwillig komisch.
"Humor ist eigentlich grundsätzlich eine außermusikalische Qualität, das heißt, es kommt ein theatraler Aspekt rein. Ich weiß, dass das dem Kagel gern mit auf den Leib geschrieben – oder gedichtet wurde. Er hat sich auch nicht großartig dagegen gewehrt, aber er war doch gerade in den letzten Jahrzehnten sehr daran interessiert, bestimmte Formen zu schreiben und zu bedienen, die erstmal auch als Konzertform in den Rahmen des Üblichen hinein passten."
Sagt Manos Tsangaris, der in den 70er-Jahren bei Kagel studiert hat.
"Kagels Spuren" heißt das Konzert in der Hochschule, bei dem unter anderem seine und die Musik von Carola Bauckholt erklingen – auch sie eine Kagel-Schülerin. Vor fünf Jahren hat sie das Stück "Zugvögel" geschrieben.
Bauckholt braucht frische Klänge, sagt sie selbst. Diese finde sie meist außerhalb der Musik. Statt musikalische Klischees zu reproduzieren, sucht sie nach Klängen, die sie faszinieren und die sie in unkonventionelle Spielweisen und Klangfarben überträgt. Wie hier mit Oboe, Klarinette, Saxophon und Fagott
Es ist nicht das einzige Konzert, bei dem Kagels Ideen weiterentwickelt werden. Eine Klangbrücke vom Gestern ins Heute wird auch das Konzert "Zeitenlabyrinth" schlagen - mit präparierten Instrumenten der Renaissance-Zeit nach Kagels Vorgaben wie der Schalmei und der Theorbe, einer Laute mit Bass-Seiten. Bei "Kagel Reconstructed" werden zum Abschluss des Festivals dann die Werke "Tactil" und "Unter Strom" erneut zu hören sein. Für sie gab es keine Partitur mehr. Der Pianist Luk Vaes hat sie mit Hilfe von Beteiligten der Uraufführung rekonstruiert. Mit oder ohne Partitur – Mauricio Kagels Werk lebt weiter!
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