Kindesmisshandlung

Tod durch Behördenversagen?

Ein Ordner mit der Aufschrift "Yagmur" liegt am 06.03.2014 bei einer Sitzung des parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Bürgerschaft im Rathaus in Hamburg.
Zum Fall Yagmur wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss gegründet. © dpa / picture alliance / Malte Christians
Von Axel Schröder · 14.04.2014
Die Eltern der getöteten dreijährigen Yagmur sitzen in Untersuchungshaft - der Vater wegen Totschlags, die Mutter wegen unterlassener Hilfeleistung. Die Hamburger Behörden hatten die Gefahr für das Mädchen rechtzeitig erkannt. Warum aber haben sie nichts unternommen?
Morgens um fünf Uhr, am 18. Dezember 2013 geht der Notruf ein. Eine 26-jährige Mutter ruft den Notarzt. Zusammen mit ihrem ein Jahr jüngeren Mann und der dreijährigen Tochter lebt sie im Osten Hamburgs, in Mümmelmannsberg. Die Rettungssanitäter versuchen, das Kind wiederzubeleben. Ohne Erfolg. - Die dreijährige Yagmur starb an einem Leberriss und inneren Blutungen, ergibt die Obduktion. Die Mutter behauptet: Ihre Tochter ist beim Herumlaufen in der Wohnung gestürzt. Die Leberverletzung lässt sich dadurch aber nicht erklären, so ein Polizeisprecher zwei Tage nach ihrem Tod:
"Die Art und Weise, wie man dann stürzen würde, dafür gibt es so keine Hinweise. Auch in der Wohnung nicht. Und das zweite ist, dass wir neben dieser Verletzung auch einige – ich sage mal: blaue Flecken sowohl älterer Art als auch frischerer Art haben, die auf eine gewisse Form von Misshandlung hindeuten. Und deshalb gehen wir derzeit davon aus, dass das Kind gewaltsam ums Leben gekommen ist."
Yagmurs Eltern sitzen in Untersuchungshaft. Gegen den Vater wird wegen Totschlags, gegen die Mutter wegen Beihilfe und unterlassener Hilfeleistung ermittelt. Nana Frombach, Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft:
"Der Vater hat den Vorwurf, den wir ihm machen, nicht eingeräumt. Die Mutter hat umfassende Angaben gemacht. Und die Angaben der Mutter haben unter anderem dazu geführt, dass wir diese beiden Haftbefehle beantragt haben."
Yagmur ist das fünfte Kind, das seit 2004 in Hamburg zu Tode kam, obwohl die Jugendämter der Stadt längst eingeschaltet waren. Wenige Tage nach ihrem Tod kam heraus: Die Hamburger Staatsanwaltschaft ermittelte seit Januar 2013 gegen Yagmurs Vater. Erstattet hatte die Anzeige wegen zweifacher versuchter Tötung des Kindes der Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Klaus Püschel. Mitte Januar war Yagmur mit schweren Verletzungen an Kopf und Bauch ins Krankenhaus eingeliefert und von Püschel untersucht worden. Sein Bericht:
"Yagmur hatte schwerste Verletzungen am Kopf und im Bachbereich. Die Verletzungen waren ungewöhnlich massiv. Ich habe das Mädchen als hochgradig gefährdet angesehen."
Erst wenige Wochen zuvor war die damals zweijährige Yagmur von ihrer Pflegemutter zu ihren leiblichen Eltern gezogen. Erst ermittelte die Staatsanwaltschaft nur gegen Yagmurs Vater. Später auch gegen die einstige Pflegemutter. Nachweisen konnten die Ermittler das Delikt beiden nicht. Im November 2013 wurde das Verfahren eingestellt. Aber schon vier Wochen zuvor war die Dreijährige aus einem Kinderschutzhaus zu ihren Eltern zurückgekehrt. Mit Zustimmung des Familiengerichts, mit Zustimmung des Jugendamts.
Untersuchungsausschuss wurde eingeschaltet
Aufklärung über die Hintergründe des Falls soll ein Ende Februar mit breiter Mehrheit beschlossener Parlamentarischer Untersuchungsausschuss liefern. André Trepoll von der CDU leitet den Ausschuss. An viele kleine unglückliche Zufälle will er im "Fall Yagmur" nicht glauben:
"Das ist ja das was uns auch in den ganzen anderen Fällen in Hamburg, die in den letzten Jahren geschehen sind – Lara-Mia, Chantal und andere Fälle – was uns immer wieder dann im Nachhinein präsentiert wird: 'Das ist eine Verkettung von unglücklichen Umständen!' Nur ich finde, damit darf man sich nicht zufrieden geben. Deshalb habe ich mich auch bereiterklärt, diese Aufgabe zu machen. Und finde es richtig und wichtig, dass sich jetzt damit jemand beschäftigt, der mal einen Blick von außen darauf wirft."
Alle Parteien betonen dabei, den Ausschuss nicht zur politischen Profilierung nutzen zu wollen. Immerhin stehen in einem Jahr die nächsten Bürgerschaftswahlen an und der Ausschuss wird seinen Abschlussbericht erst in der heißen Wahlkampfphase abliefern. Für den Ausschussvorsitzenden André Trepoll schließt das Stillhalteversprechen aber nicht aus, auch den ranghöchsten Vertreter des SPD-Senats vor den Ausschuss zu laden:
"Richtig ist, dass der Erste Bürgermeister, der Präsident des Senats in Hamburg die politische Gesamtverantwortung trägt. Und er hat sich ja auch zu dem Fall geäußert und hat schon zurückgewiesen, dass es an der Personalausstattung liegt. Und deshalb interessiert die Abgeordneten auch – kann ich mir vorstellen – den Bürgermeister dazu zu hören. Wie er zu dieser Einschätzung kommt. Und wie er uns das dann begründet. Wo uns Mitarbeiter und Leute vom Fach sagen:Nein, es gibt nach wie vor eine starke Überlastung und Inanspruchnahme des Allgemeinen Sozialen Dienstes. Und dazu wird er sich natürlich äußern müssen. Wenn er als Zeuge vorgeladen wird."
Hamburgs Sozialsenator Detlef Scheele versprach kurz vor Weihnachten schnelle Aufklärung. Und hielt sich mit einer Einschätzung auffällig zurück. Der Senator verwies auf die schon zwei Tage nach Yagmurs Tod eingeleitete Untersuchung der Jugendhilfeinspektion. Eine Einrichtung, die er selbst als Reaktion auf den Drogentod der 12-jährigen Chantal im Januar 2012 ins Leben gerufen hatte. Zur stetigen Qualitätskontrolle der zehn Hamburger Jugendämter und der 36 angegliederten Allgemeinen Sozialen Dienste, der ASDs. Und zur Untersuchung besonders gravierender Fälle. Der Sozialsenator gibt zum "Fall Yagmur" keine Interviews mehr. So lange nicht, bis der Untersuchungsausschuss seine Arbeit abgeschlossen hat.
Acht Fallbearbeiter kümmerten sich um die Familie
Horst Tietjens leitet die Jugendhilfeinspektion. Untergebracht ist sie im siebten Stock der Sozialbehörde. Tietjens sitzt an seinem PC und erklärt die Datenbank, in der die Details aller Hamburger Betreuungsfälle gespeichert sind. Und auf die nur die jeweiligen Fallbearbeiterinnen und Fallbearbeiter der Jugendämter Zugriff haben. Der Beamte hat Zugriff auf alle Datensätze. Er darf sie lesen, nicht verändern. Tietjens gibt eine Kennziffer ein. Sofort hat er das heftige Leben eines 12-jährigen Jungen vor sich. Sauber gegliedert, in Tabellenform:
"Das ist die Startseite. Da finden sie zum Beispiel: Verdacht auf Kindeswohlgefährdung, Verdacht auf Kindeswohlgefährdung. So. Zum Beispiel hier: Da hat die Polizei gemeldet, da hat das Rechtsmedizinische Institut gemeldet. Mit Strafanzeige. Und hier haben Sie: Kinderwohlgefährdung kann nicht ausgeschlossen werden. Dann gibt es ein Hilfe- und Schutzkonzept. Alles ist nachlesbar. Aber das Reizwort ist im Grunde: KWG – Kindeswohlgefährdung."
Dreieinhalb Stellen, seine eingeschlossen, stehen Horst Tietjens für die Arbeit der Jugendhilfeinspektion zur Verfügung. Faktisch – die Erkrankung eines Kollegen ist schuld – sind es nur zweieinhalb Stellen. – Noch vor Weihnachten begann das kleine Team, die ersten Akten zum "Fall Yagmur" zusammenzusammeln. Aus den Jugendämtern Bergedorf, Eimsbüttel und Hamburg-Mitte. Zweimal war Yagmurs Familie umgezogen, acht verschiedene Fallbearbeiter kümmerten sich nacheinander um die Mutter, ihre Tochter und den sechsjährigen Bruder. Er lebte schon seit Jahren bei seinen Großeltern, Yagmur bei einer Pflegemutter, auf Wunsch der leiblichen.
Plakate, Rosen, Kerzen und Kuscheltiere liegen am 19.12.2013 zum Gedenken vor einem Hauseingang im Stadtteil Billstedt in Hamburg.
Mitte Dezember 2013 war die dreijährige Yagmur in der Wohnung seiner Eltern im Stadtteil Billstedt an einem Leberriss innerlich verblutet.© dpa / picture alliance / Malte Christians
Das schildert der – an vielen Teilen geschwärzte – Bericht der Jugendhilfeinspektion, den Tietjens und seine Mitarbeiter aus den gesammelten Fallakten erstellt haben. Unabhängig von der Leitung der Sozialbehörde haben sie gearbeitet, betont Tietjens. Ausgestattet mit dem Recht, die Herausgabe von Akten auch erzwingen zu können. Ende Januar legte die Jugendhilfeinspektion ihren Bericht vor:
"Die Kernaussage ist: Es ist eine Verkettung von Fehlern unterschiedlicher Institutionen, die sich tragisch miteinander verbunden haben zu einer tragischen Entwicklung. Das heißt: Es sind 'Allerweltsfehler' teilweise. Sodass Aussagen von Mutter oder Vater mit gutem Glauben begegnet wurde. Dass Interventionen getroffen wurden, die sozusagen nicht streng kontrolliert wurden in ihrer Wirkung. Und dass der Grundsatz verletzt wurde, der eigentlich Sozialarbeit im Bereich der Allgemeinen Sozialen Dienste leiten muss: Bei jedem Menschen, den ich treffe, dem ich auch helfen will, mit dem ich spreche, muss ich immer unterstellen: Es kann auch ganz anders sein! Und diese kritische Distanz, die ist verlorengegangen. Und ist eigentlich ein 'Allerweltsproblem'!"
Der Untersuchungsausschuss wird heute die Beweiserhebung starten. Zeugen vernehmen, Akten studieren, weitere Akten anfordern oder Gutachten erstellen lassen. Beleuchtet werden soll die Rolle einzelner Jugendamtsmitarbeiter, des Familiengerichts, von Rechtsmedizinern und der Staatsanwaltschaft. Vor allem geht es um die Schnittstellen zwischen den einzelnen mit dem Fall befassten Jugendämtern. Und zwischen den Jugendämtern, der für Yagmur zuständigen Kita und dem Familiengericht. Zwischen Familiengericht und Staatsanwaltschaft. Es geht um die Zeiträume, Abläufe und Entscheidungen, ohne die Yagmurs Tod vielleicht hätte verhindert werden können. Und es geht um die Personalausstattung der Jugendämter, so Christiane Blömeke, Bürgerschaftageordnete der Grünen und Mitglied des Untersuchungsausschusses:
"Bundesweit gibt es die Forderung: Ein Mitarbeiter soll nicht mehr als 28 Fälle zeitgleich bearbeiten. In Hamburg haben wir durchschnittlich 70 bis 80 Fälle pro Mitarbeiter. Das ist schon mit dem gesunden Menschenverstand schwer zu schaffen, diese Fälle. Und denn jeden einzelnen gleich im Auge zu behalten."
Abhilfe durch zusätzliches Personal?
Blömeke fordert deshalb Sozialsenator Detlef Scheele auf, auf die Überlastungsanzeigen aus den Jugendämtern schnell zu reagieren, schnelle Abhilfe zu schaffen. Durch zusätzliches Personal. Der Senator lehnt das ab, will zunächst genau untersuchen, ob und wo tatsächlich Stellen fehlen. Und das hält Blömekes Ausschusskollegin von der SPD, Melanie Leonhard, für den richtigen Weg:
"Wenn wir jetzt hier auf den Fall gucken, war es so, dass es im Fall des Jugendamtes Eimsbüttel zu keinem Zeitpunkt so war, dass die Mitarbeiterin eine Überlastungsanzeige gestellt hatte oder ihre Abteilung. Die war immer sehr dicht dran, die hat den Fall sehr eng verfolgt."
Und dort war Yagmurs Leidensgeschichte sehr präsent: Die Mitarbeiter wussten von den schweren Schädel- und Bauchverletzungen, von den Ermittlungen gegen den Vater. Im Eimsbütteler Jugendamt entstand auch die Idee, das Kind nach seinem Krankenhausaufenthalt in einem Kinderschutzhaus unterzubringen. Wo genau, wurde Yagmurs Eltern nicht mitgeteilt. Zeitgleich zu dieser sogenannten Inobhutnahme strengte die zuständige Familienrichterin ein zweites Verfahren an. Yagmurs Eltern sollte das Sorgerecht entzogen werden. Mutter und Vater des Kindes wehrten sich dagegen. Rechtsanwalt Rudolf von Bracken übernahm den Fall. Seine Kanzlei nennt er "Büro für Kinderrechte". In seinem Büro stehen neben dicken Bänden mit juristischen Texten auch Gesellschaftsspiele für seine jungen Klienten, Kuscheltiere und Spielzeug.
"Diese Mandanten sind nicht bei mir gewesen und haben gesagt: Wir wollen unser Kind schlagen! Und dafür müssen wir das wieder nach Hause haben. Und dass es Gewaltvorfälle bei dem Kind gab."
Und ein laufendes Ermittlungsverfahren wegen Yagmurs schweren Kopf- und Bauchverletzungen. Infrage kamen ihr Vater und die einstige Pflegemutter. Dazu noch das Verfahren zum Sorgerechtsentzug durch das Familiengericht. Rechtsanwalt von Bracken riet den Eltern, von sich aus Jugendamt und Familiengericht ein Angebot zu machen. Per Vollmacht umfangreiche Kontrollen im Elternhaus zuzulassen.
"Das Gericht hat gesagt: Wenn die Eltern das freiwillig tun, diese Vollmachten erteilen – das Jugendamt kann kommen! In allen Bereichen kann es kommen! Was braucht ihr noch? Und so ist das Gerichtsverfahren ausgegangen: Die Eltern haben Hilfe akzeptiert, Information und richtige Kontrolle."
Täglich sollten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes nach Yagmur schauen, die Eltern Unterstützung bei der Erziehung bekommen. Yagmur sollte den halben Tag in einer Kindertagesstätte betreut werden. Die Erzieher fest ins Kontrollkonzept eingebunden werden, so der Anwalt.
Eine unerwartete Wendung
Zeitgleich zu den Gesprächen mit der Familienrichterin ermittelte die Hamburger Staatsanwaltschaft weiter wegen Kindesmisshandlung gegen Yagmurs Vater und ihre Pflegemutter. Auch Yagmurs Mutter wurde für eine Befragung vorgeladen. Als sie den Termin wegen Krankheit absagt, haken die Ermittler nicht nach und verzichten auf ihre Aussage. - Im Mai nimmt das Verfahren eine neue, ganz unerwartete Wendung: Yagmurs frühere Pflegemutter schreibt in einer E-Mail an die Staatsanwaltschaft, dass sie Angst habe und sich nicht sicher sei, ob sie nicht vielleicht doch etwas mit Yagmurs Verletzungen zu tun haben könnte. Im Oktober - zwei Monate, bevor sie mit schweren Kopf- und Bauchverletzungen ins Krankenhaus kommt – habe sie, erinnert sich die Pflegemutter, Yagmur in einem Tragekorb stark hin und her geschaukelt, um das Kind zu beruhigen. Im Bericht der Jugendhilfeinspektion ist die E-Mail im Wortlaut abgedruckt:
"Ich schaukelte sie immer stärker und gestresster. Für mich gab es nach diesem Ereignis keine erkennbaren Anzeichen (Übelkeit, Erbrechen, Blutergüsse), dass ich sie verletzt haben könnte."
Einmal sei Yagmur nachts aus dem Bett gefallen. Ein anders Mal habe sie sich den Kopf an einer Schwimmbadrutsche gestoßen. Und weiter:
"In einer Nacht Mitte Dezember war ich völlig übermüdet und habe Yagmur an mich gedrückt, ihren Kopf gehalten und bin mit ihr herumgehüpft. Ich bin mir mittlerweile nicht mehr sicher, ob dieses Hüpfen nicht die gleiche Auswirkung haben könnte wie Schütteln."
Die Sorge der Pflegemutter um eine mögliche Mitschuld bewerten die Fallbearbeiterin im Jugendamt und die von ihr zu Rate gezogenen Kollegen am 7. Mai 2013 fast als Geständnis. Und sehen Yagmurs Vater nun entlastet. Im Bericht der Jugendhilfeinspektion heißt es dazu:
"Diese Schuldvermutung der Pflegemutter wurde von unterschiedlichen Personen in Folge unterschiedlich interpretiert und die Begrifflichkeit verselbständigte sich. In der zeitlichen Folge wurde die Schuldvermutung der Pflegemutter unter anderem als Schuldeingeständnis (teilweise gleichgesetzt mit Tatnachweis) interpretiert und bekam dadurch eine nicht angemessene Überhöhung in der Bedeutung."
Und das geschah, so der Bericht, obwohl die von Pflegemutter geschilderten neuen Details Yagmurs im Januar diagnostizierte Verletzungen im Bauchbereich nicht erklären konnten.
Im Juli 2013 gibt die Familienrichterin grünes Licht: sie akzeptiert von Brackens Vorschlag. Durch engmaschige Kontrollen in Kita und in der Wohnung der Familie durch den Allgemeinen Sozialen Dienst, den ASD, soll die Sicherheit des Kindes gewährleistet werden. Aber die Rückkehr Yagmurs verzögert sich. Solange ihre Mutter noch nicht zuhause, sondern auf einer Kur ist, lebt Yagmur weiter im Kinderschutzhaus. – Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt, die Familie ist nach Hamburg-Mümmelmannsberg umgezogen, soll das Jugendamt in Billstedt den Fall übernehmen. In einem Übergabegespräch erklärt die bisherige Fallbearbeiterin ihrer Nachfolgerin, worauf im "Fall Yagmur" zu achten ist. Formal korrekt sei das Gespräch abgelaufen, erklärt Horst Tietjen von der Jugendhilfeinspektion. Aber bezweifelt, dass der Fall in seiner Komplexität im neuen Jugendamt wirklich angekommen ist:
"Es ist nicht in den Akten nachlesbar, sondern das ist eher eine Interpretation dessen, was man rudimentär findet. Oder sich im Nachhinein mit der fallführenden Kraft ergeben hat. Aber auf jeden Fall können wir feststellen, dass die Dokumentation des Falls rigoros abgebrochen ist. Und sie können eine These aufstellen: Wenn ein Fall gut dokumentiert ist, ist auch das Fallverständnis groß. Wenn aber die Dokumentation abbricht und nur noch handschriftliche Aufzeichnungen da sind, dann gibt es natürlich Interpretationsspielräume. Und sie können es beispielsweise daran festmachen: Wenn gesagt wird, die Kita hatte einen Kontrollauftrag. Aber die Kita nicht wusste, was sie kontrollieren sollte, dann haben sie natürlich Tür und Tor geöffnet für unterschiedliche Betrachtungsweisen."
Nach wie vor gibt es keine Vorschrift, die verlangt, dass beide Seiten – die Fallbearbeiter des früheren und die des neuen Jugendamts – das Übergabeprotokoll gegenzeichnen müssen. Verfügen könnte eine solche Vorschrift die oberste Fachaufsicht der Jugendämter, der Sozialsenator, so Tietjen.
Wurden Akten nicht ausführlich gelesen?
Tatsächlich wird der "Fall Yagmur" im neuen Jugendamt, in Hamburg-Billstedt völlig neu interpretiert. Der Verdacht besteht, dass Akten nicht gelesen wurden. Akten, die auf die potentielle Gefahr für Yagmur in ihrem Elternhaus hinwiesen. Auf die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, ihre schweren Verletzungen vom Frühjahr 2013.
"Bei dem empfangenden Jugendamt, was dann die Zuständigkeit übernommen hat, da war das auf einmal nicht mehr eine Kindeswohlgefährdung mit dieser Alarmeinstufung, sondern da war eine schlichte Hilfegewährung. Und das geht dann ins Routinemäßige: Ja, da müssen wir mal eine Familienhilfe installieren, da suchen wir mal einen Träger. Und dann geht's zur Angebotsberatung und so weiter und so fort. Also: Der Alarm ist dann raus! Da sollte man sich das noch mal überlegen, wie diese Übergaben funktionieren. Aber eigentlich ist das – auch nach den Regeln, die es gibt – durfte das nicht passieren, dass der Alarm einfach so erlischt."
Sogar die klaren Regeln, die die Familienrichterin in den Verhandlungen mit Rechtsanwalt Rudolf von Bracken vereinbart hatte, die Grundvoraussetzungen für eine Rückkehr Yagmurs zu ihren Eltern, wurden offenbar missachtet oder sie waren der neuen Fallbearbeiterin gar nicht bekannt.
Die Hilfen und Kontrollen durch ASD-Mitarbeiter lehnte Yagmurs Vater plötzlich ab. Das Jugendamt nahm das hin, ohne das Familiengericht zu informieren. Und auch die Idee, mit Yagmurs Kita einen klaren Kontrollauftrag zu vereinbaren, wurde nicht umgesetzt. Yagmurs Geschichte scheint ihre Erzieherin gar nicht gekannt zu haben, so Horst Tietjen:
"Hier war es ja durchaus so, dass die Bezugserzieherinnen für sich durchaus festgestellt haben, dass das Kind beispielsweise geblutet hat oder auch Abschürfungen hatte. Und selbst die Bezugserzieherin sich beraten hat mit der Leitung, ob dieses nicht etwas ist, was nach der eigenen Kinderschutzrichtlinie hätte gemeldet werden müssen. Insofern gab es ein Gespräch mit der Mutter, die aber – und denn kommt das Problem mit der Leichtgläubigkeit hinein – eine ganz normale übliche Erklärung hatte: 'Da war der Cousin wieder mal da, der hat das Kind gehauen!' oder 'Das Kind ist hingefallen!' oder ähnliches. Sodass aufgrund einer mangelnden Absprache auch keine Meldung erfolgte."
Ab Anfang November kommt Yagmur plötzlich nicht mehr in die Kita. Ihre Tochter sei krank, erzählt die Mutter am Telefon. Ein Arztbesuch aber schon geplant. - Das Jugendamt erfährt davon nichts. Sechs Wochen vergehen. Ohne Kontrollen des Jugendamtes, ohne Hinweise der Kita.
Rechtsanwalt Rudolf von Bracken hat den Fall zu diesem Zeitpunkt längst abgehakt, verlässt sich auf die getroffenen Absprachen. Die in der Regel, so der Anwalt, auch eingehalten werden. Die Staatsanwaltschaft stellt ihr Ermittlungsverfahren ein: Wer Yagmur die schweren Schädel- und Bauchverletzungen zugefügt hat, konnte nicht geklärt werden. - In der Nacht vom 17. Auf den 18. Dezember stirbt Yagmur an inneren Blutungen.
Ermittelt wird gegen ihre Eltern und gegen Yagmurs Fallbearbeiterin aus dem Jugendamt in Hamburg-Billstedt. Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss soll, so die Grüne Christiane Blömeke und Melanie Leonhardt von der SPD, nicht nur aufklären, sondern auch die Lösungen erarbeiteten, die die Lücken im System schließen. So gut es geht:
Leonhard: "Es gab ja schon direkt Anfang Januar die Entscheidung der Bezirksämter und der Sozialbehörde, alle Fälle, in denen solche Rückführungen jetzt anstehen, einmal der Aktenprüfung zu unterziehen. Und es eben auch genau das passiert. Aber niemand, der mit Jugendhilfe und solchen Fällen zu tun hat, würde so weit gehen, zu sagen: Es gibt eine Situation, wo tragische Dinge nicht wieder oder niemals wieder passieren können!"
Blömeke: "Wir werden nie hundertprozentige Sicherheit haben für alle Kinder. Aber wir können dazu beitragen, dass wir die Rahmenbedingungen so gestalten, dass das so nicht noch mal passiert."