Kindernothilfe fordert mehr Hilfe für Jungen und Mädchen in Haiti

Jürgen Schübelin im Gespräch mit Christopher Ricke · 31.03.2010
Der Koordinator der Kindernothilfe für Haiti, Jürgen Schübelin, kritisiert, dass die Lage der Kinder bei der Geberkonferenz in New York zu wenig berücksichtigt werde.
Christopher Ricke: Jürgen Schübelin ist jetzt mit mir verbunden, er ist der Koordinator der Kindernothilfe auf Haiti. Guten Tag, Herr Schübelin!

Jürgen Schübelin: Guten Tag!

Christopher Ricke: Kindersklaverei haben wir gehört, Kindersklaverei in der westlichen Hemisphäre – das ist ein harter Begriff. Was muss man sich denn da vorstellen?

Schübelin: Das sind hier in Haiti Kinder, die in Haushalten der Allerärmsten arbeiten. Auf Haitianisch nennt man diese Kinder Restavec. Das kommt von dem französischen Wort restez avec – bei jemandem bleiben. Das sind Kinder, die von ihren eigenen Familien abgegeben werden, um dann bei Familien in Armenvierteln in Wharf Jérémie zu landen und dort den Haushalt zu führen. Und das passiert in ganz, ganz frühen Jahren. Kinder im Alter von fünf, sechs Jahren werden von ihren Eltern weggegeben beziehungsweise von ihren Müttern, die alleinerziehend, weggegeben, weil die einfach nicht mehr alle Münder füttern können.

Ricke: Das Problem gab es schon vor dem Beben, es hat sich jetzt noch einmal verschlimmert. Wie kann man denn diesen Kindern helfen?

Schübelin: Was die Kindernothilfe hier im Port-au-Prince und an anderen Orten in Haiti tut: Wir unterstützen Programme mit lokalen Partnern, die zunächst mal diese Kinder identifizieren, die sie ausfindig machen und die diesen Kindern helfen, zumindest zur Schule gehen zu können, also Anlaufstellen zu haben, wo sie sich treffen, wo sie betreut werden und wo sie mit motiviert werden, um zur Schule gehen zu können. Weil normalerweise gehen ... von diesen rund 300.000 Kindern hier in Haiti geht kein einziges zur Schule oder gehen die allermeisten überhaupt nicht zur Schule, weil eben die Familien, die sie beschäftigen, tagsüber nicht auf diese Kinder verzichten können.

Ricke: Muss man nicht viel früher anfangen, muss man nicht zu den Müttern gehen und ihnen erklären, dass es Unrecht ist, Kinder wegzugeben?

Schübelin: Ja, das ist ein historisches Phänomen, das steckt ganz, ganz tief hier sagen wir mal auch in der Kultur dieses Landes drin. Unser Ziel ist es – deswegen arbeiten wir da auf verschiedenen Ebenen, einmal mit diesen Programmen, mit den lokalen Partnern, in der direkten Unterstützung dieser Kinder –, aber unser Ziel ist es natürlich, hier auch durch einen Bewusstseinsbildungsprozess, durch ein Aufmerksammachen dafür, wie Sie sagen, dass es Unrecht ist, diese Kinder wegzugeben, das Übel an der Wurzel anzugehen. Aber dafür braucht man sehr, sehr viel Geduld, sehr, sehr viel Zeit. Kindernothilfe investiert viel Geld in ländliche Entwicklungsprojekte. Also wir versuchen lokalen Organisationen zu helfen, um die Lage der Menschen auf dem Land zu verbessern und auf diese Weise einfach Bedingungen zu schaffen, die es Familien ermöglichen, ihre Kinder gar nicht mehr abgeben zu müssen.

Ricke: Jetzt lese ich in Ihren Zahlen, dass Sie 3000 Kinder erreichen in neun Kinderzentren, dass diese Kinder da Zuflucht finden, Schutz und Nahrung. Jetzt höre ich von UNICEF, 1,5 Millionen Kinder auf Haiti leiden Not. Das Verhältnis: 0,2 Prozent findet bei Ihnen Hilfe, 99,8 Prozent können überhaupt nicht erreicht werden. Wie groß ist denn Ihre eigene Verzweiflung, die eigene Ratlosigkeit, dass man nur so wenig tun kann, nur einen Tropfen auf den heißen Stein?

Schübelin: Ja, es sind Gott sei Dank inzwischen etwas mehr Kinder, die wir erreichen. Also wenn ich alle Programme, die wir fördern und unterstützen, zusammenrechne, kommen wir auf über 7000 Kinder, aber trotzdem, das ist viel, viel zu wenig. Gott sei Dank gibt es hier sehr viele Organisationen, die ähnlich arbeiten und sich ähnlich engagieren. Trotzdem natürlich erreichen wir alle zusammen, die wir zurzeit in Haiti arbeiten, bei Weitem nicht die Zahl von Kindern, die wir erreichen müssten. Und das macht uns sehr betrübt. Wir können nur jeden Tag uns anstrengen, wir können nur dazu beitragen, dass Haiti nicht in Vergessenheit gerät, um einfach auch über die Mittel zu verfügen, unsere Arbeit ausweiten zu können. Und es gibt einen weiteren Aspekt: Es muss natürlich gelingen, dass der haitianische Staat auch seiner Verantwortung gerecht wird. Jetzt beginnen am Ostermontag hier wieder die Schulen zu arbeiten beziehungsweise Notschulprogramme in Gang zu kommen, und die Hoffnung ist, dass über diese Notschulprogramme sich eben insgesamt auch die Situation der Kinder verbessert. Aber das ist viel, viel Arbeit, die vor uns liegt. Wir sehen das Licht am Ende des Tunnels noch lange nicht.

Ricke: Heute findet nun die Haiti-Wiederaufbaukonferenz in New York statt, die Weltgemeinschaft steht zusammen, hilft dabei, ein Land wiederaufzubauen. Haben Sie den Eindruck, dass in der politischen Debatte ausreichend auch an die Kinder in Haiti gedacht wird?

Schübelin: Nein, den Eindruck haben wir nicht. Das nehmen wir so nicht wahr. Die meisten Themen sind wie üblich bei solchen Konferenzen erwachsenen-zentriert, und schon in den ganzen zurückliegenden, jetzt beinahe drei Monaten ist aus unserer Wahrnehmung nicht ausreichend an die Kinder gedacht worden, obwohl sie die größte Gruppe innerhalb der Betroffenen bilden. Wir würden uns wünschen, dass Politiker genauer hinschauen, wie es Kindern geht, dass Programme – Unterstützungsprogramme und Wiederaufbauprogramme – einfach kinder-zentrierter gedacht werden, dass Kinder im Mittelpunkt von allen Anstrengungen stehen, dass Kinderrechte bei der Diskussion um das, was jetzt zu tun ist, einfach eine stärkere Rolle spielen. Und das ist einfach aus unserer Wahrnehmung so noch nicht der Fall.

Ricke: Jürgen Schübelin, der Koordinator der Kindernothilfe in Haiti. Vielen Dank, Herr Schübelin!

Schübelin: Ich danke Ihnen!
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