Kinderhospiz

Leben mit dem Tod

Gedenksteine am "Erinnerungsteich" im Garten des Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin
Gedenksteine am "Erinnerungsteich" im Garten des Kinderhospiz Sonnenhof in Berlin © dpa / picture alliance / Ole Spata
Von Thomas Gith · 28.02.2016
Im Berliner Kinderhospiz Sonnenhof bekommen die Bewohner alle medizinische und pflegerische Hilfe, die sie für ihre letzte Lebensphase brauchen. Unser Reporter hat zwei Familien begleitet und starke Gefühle zwischen Angst, Trauer und Freude erlebt.
(Beatmungsgerät)
Die neunjährige Houda liegt auf ihrem Bett und atmet nicht. Ihr Mund ist leicht geöffnet, ihr Blick an die Decke gerichtet. Durch eine Kanüle im Hals wird ihr Sauerstoff zugeführt. Das regelmäßige Pumpen der Beatmungsmaschine verstummt hier nie. Tag und Nacht ist es zu hören.
Pfleger Oliver Kroiß steht an Houdas Bett und versorgt die kleine Patientin:
"Was ich jetzt eben mache, sie wird ja künstlich beatmet, und da hat sie ein so genanntes Tracheostoma, also, um das laienhaft auszudrücken, hat man einen Schnitt in der Luftröhre gemacht. Wo jetzt ein kleiner Schlauch drin steckt, über den sie beatmet wird. Und da ist ein Verband drum und der muss eben täglich gewechselt werden, täglich zweimal sogar bei uns. Und das mache ich jetzt."
Der junge Pfleger streift sich Gummihandschuhe über, hebt den Sauerstoffschlauch an und löst den darunter liegenden, etwa handtellergroßen Zellstoffverband. Vorsichtig hebt er den schützenden Zellstoff an, zieht ihn dann vom Hals weg:
"Wichtig ist jetzt natürlich auch, wenn der Verband nicht drauf ist, zu gucken, wie das Stoma aussieht. Also es ist ja quasi doch eine Wunde, die zu beurteilen ist. Ja, es ist ganz leicht gerötet, was aber einfach auch immer mal wieder sein kann. Es ist leicht gereizt, sieht aber eigentlich gut aus."
Der Rand des vernarbten Loches in Houdas Luftröhre glänzt rötlich. Oliver Kroiß nimmt eine Salbe, streicht etwas von ihr auf den Luftröhrenschnitt. Dann streift er die Gummihandschuhe ab, wirft sie weg, zieht neue an.
Hygiene ist enorm wichtig, denn Infektionen gilt es auch wegen Houdas Luftröhrenschnitt so gut es geht zu vermeiden. Die Neunjährige liegt währenddessen still auf ihrem Bett, guckt an die Decke. Manchmal verkrampft sie die Arme, die sie wegen einer spastischen Lähmung stark angewinkelt hält. Rund ein- bis zweimal pro Woche pflegt Oliver die neurologisch schwer behinderte Houda. Ob sie ihn erkennt, weiß er nicht:
"Schwierig, also es gibt so Momente, wo ich mir tatsächlich denke, ha, es könnte jetzt sein, dass die Reaktion jetzt ist, weil sie mich erkennt. Und dann gibt es aber auch wieder Momente, wo ich denke, na ja, jetzt bin ich total fremd für sie. Das lässt viel Raum für Interpretation."

Am Wochenende lebt die Familie im Sonnenhof

Seitdem Houda wegen einer fehlgeschlagenen Operation künstlich beatmet werden muss, liegt sie im Kinderhospiz Sonnenhof. Eineinhalb Jahre sind es mittlerweile. Zu Hause konnten ihre Eltern sie nicht mehr pflegen. Und das, obwohl sie erfahren sind in der medizinischen Versorgung ihrer Tochter:
"Guten Morgen Houda. Guten morgen, (lacht, küsst), guten Morgen Habibi (Kuss). Wir haben momentan so eine liebe Maus hier liegen. Mmh, na, gleich kommen Hischam und Nura (Kuss)."
Houdas Vater Mohammed Nasser begrüßt seine Tochter. Es ist Sonntagmorgen. Der Vater ist gerade aufgestanden und mit einem Becher Kaffee in der Hand ins Zimmer gekommen. Zärtlich streichelt er über den Kopf seiner Tochter, küsst sie. Seine Frau und die beiden weiteren Kinder Hischam und Nura kommen kurz darauf noch etwas verschlafen ins Zimmer.
Am Wochenende lebt die ganze Familie im Sonnenhof, in einem der dortigen Familienzimmer, die extra für die Angehörigen eingerichtet wurden. Als ihre Mutter und die Geschwister Houda an diesem Sonntagmorgen begrüßen, lächelt die Kleine übers ganze Gesicht:
"Sie zeigt das auch in der letzten Zeit ganz deutlich. Das ist leider nicht immer so gewesen. Oft haben wir auch vergeblich neben ihr gestanden und keine Reaktion bekommen. Aber jetzt, die letzte Zeit…Es ist immer wieder schön, hier reinzukommen und sie mit so einem Lächeln zu sehen."
Der 11-jährige Hischam und die 13-jährige Nura streicheln ihrer Schwester über den Kopf, geben ihr Küsse. Ganz langsam dreht Houda den Kopf zur Seite, lächelt. Sprechen kann die Neunjährige nicht. Auch, was sie von ihrer Umwelt wahrnimmt, ist unklar. Neben ihrem Luftröhrenschnitt hat sie einen künstlichen Darmeingang für Nahrung und knapp überm Bauchnabel einen weiteren Schlauch, über den sie Medikamente bekommt. Gravierend sind auch ihre starken Krämpfe am ganzen Körper, die bereits kurz nach der Geburt begannen.
"Also Houda auf die Welt kam, nach zwei Minuten waren dann die ersten Krämpfe dar. Es war komisch für uns, aber man wusste in der Zeit erst mal noch gar nichts. Wir waren nach zwei Tagen wieder zu Hause, für ganze fünf Tage und sind dann zurückgegangen ins Krankenhaus und da wurde mein Kind dann monatelang erst mal untersucht und dann kam man zu dem Ergebnis, dass sie höchstwahrscheinlich Schwerst- und Körperbehindert wird. Damals wusste man noch gar nichts, aber man wusste, dass das Anfälle sind. Es waren Anfälle, die fast stündlich da waren. Für uns ist natürlich erst mal der Boden unter den Füßen weggefallen. Das war für uns ein riesen Schock, weil ab diesem Tag hat sich die Welt für uns verändert."

"Wir haben Glück, dass sie noch lebt"

Seit ihrer Geburt ist Houda ein Pflegefall. Was der Grund für ihre vielfältigen Erkrankungen ist, ist bis heute unklar. Dennoch konnten ihre Eltern sie fast acht Jahre lang zu Hause versorgen. Doch Houdas Gesundheit verschlechterte sich zunehmend. Als sie vor eineinhalb Jahren eine neue Magensonde bekommen sollte, kam es zu einem schweren Zwischenfall. Seitdem wird das Mädchen künstlich beatmet, erzählt ihr Vater:
"Bei der Sondeneinlegung haben die Ärzte dann den Darm ein bisschen zerstört. Es gab innere Blutungen. Sie war zwei Monate auf der Intensivstation. Und da hat sie so viel erlebt, dass die Zentralkatheter irgendwann später nicht mehr reingingen. Und es war oft immer das Gespräch, was machen wir jetzt? Und wir haben Glück, dass sie noch lebt. Also sie hat Phasen gehabt, sie musste auch Bluttransfusionen kriegen und mit der Situation ist es schwierig, ein Kind zu Hause zu pflegen."
Houda kam ins Kinderhospiz Sonnenhof. Dass sie nicht sehr lange leben wird, scheint sicher zu sein. Doch wann sie stirbt, können auch die Ärzte nicht sagen. Immerhin: Hier im Hospiz wird sie pflegerisch und medizinisch umfassend versorgt. Krankenkasse und Pflegeversicherung zahlen den Hospizaufenthalt der jungen Patienten. Und alles läuft in enger Absprache mit der Familie, erzählt Pfleger Oliver Kroiß, als er Houda an diesem Morgen einen hellroten Strickpullover anzieht, auf dessen Vorderseite ein dunkelrotes Herz prangt.
"Ich muss auch immer gucken, dass die Houda schön gekleidet ist. Weil ihre Schwester, die Nura, da kriege ich sonst Ärger. Die legt nämlich ganz, ganz großen Wert drauf, dass die Houda immer schön gekleidet ist. Die haben auch ganz, ganz viele Klamotten im Partnerlock (lacht). Sehr witzig."
Nura steht derweil neben Houdas Bett, hört dem Pfleger zu und lächelt etwas verlegen. In ihren Händen hält sie eine blaue Stretchjeans mit lockerem Gummizug, die sie an diesem Morgen für ihre Schwester zum Anziehen ausgesucht hat.
Nura: "Also mir gefallen halt besonders gut rote Sachen oder pinke. Oder es gibt auch so Hello Kitty."
Vater Mohammed: "Wollte halt gerade sagen, die eine Krankheit haben wir doch auch." (Familie und Pfleger lachen).
Nura: "Ja, und sie sitzt ja im Wagen, dass es halt gemütlich für sie ist. Dass also keine Gummis oder sowas fest drücken."
Vater Mohammed: "Da achtet sie manchmal mehr als der Papa drauf."
Nura und Pfleger Oliver ziehen Houda gemeinsam die blaue Jeans an. Als die Neunjährige angekleidet ist, rollt ihr Bruder Hischam den Therapiestuhl ans Bett. Es ist eine Art gepolsterter Buggy mit Kopfstütze, an dessen Seiten Geräte für die künstliche Beatmung und die Ernährung hängen. Der Vater befestigt noch eine Notfalltasche mit Medikamenten am Buggy. Fertig.
Mohammed Nasser: "Es ist immer noch nicht schön zu sehen, wie viele Geräte manchmal rankommen. Aber es ist beruhigend, weil man weiß, dadurch ist sie noch bei uns. Also die erste Zeit war das wirklich immer mit so einem Schrecken verbunden, wenn man gesehen hat, wie viele Teile man am Buggy festbinden muss, allein um jetzt runter zum Frühstück zu gehen. Aber man lebt sich komischerweise in viele Sachen ein."
Mohammed Nasser nimmt den Therapiestuhl und hält ihn fest, während der 11-jährige Hischam seine Schwester aus dem Bett hebt und in den Stuhl setzt. Er stöpselt die Schläuche für Beatmung und Ernährung um, legt Houda noch eine Decke über die Beine. Die Neunjährige bleibt während der ganzen Prozedur fast komplett regungslos. Jetzt endlich kann die ganze Familie eine Etage nach unten gehen – um zu frühstücken.

Entlastung für die Eltern

Barthelmai: "Ja… aber den brauchst du gar nicht! (Clara schreit) Abhusten? Einmal Pause? Clara hol mal Luft! Super…"
Ein paar Zimmer weiter auf demselben Flur im Sonnenhof sitzt Pflegerin Heidrun Barthelmai auf einem Bettrand. Sie hält die zweijährige Clara auf ihrem Schoß. Clara hat rotgeäderte Gesichtshaut, dünne Haare und eine transparente Inhalationsmaske vor dem Mund. Nebliger Dunst kommt aus der Maske.
Barthelmai: "Clara muss viermal am Tag mit Kochsalz inhalieren. Das soll ihre Atemwege anfeuchten. Und das Sekret, das sie halt innerhalb der Atemwege hat, so flüssig machen, dass sie es halt gut abhusten kann. Die Mischung, die wir machen, ist sozusagen Ostsee- und Nordseeluft."
Immer wieder verkrampft sich Clara bei der Inhalation am ganzen Körper, wird steif, überstreckt die Arme. Eine Dystonie, also eine starke Bewegungsstörung, ist ihr sichtbarstes Handicap. Hinzu kommen Hirnzysten, eine starke neurologische und eine Sehbehinderung sowie ein Stridor, also krankhafte Atemgeräusche.
Barthelmai: "Wow, ich höre das Ende! Guck mal, jetzt kommt gar kein Nebel mehr raus. (Clara hickst). Ja, jetzt können wir aufhören. Ja, fertig (Inhalationsgerät geht aus)."
Heidrun Barthelmai nimmt die Inhalationsmaske von Claras Mund, streichelt dem kleinen Mädchen über den Rücken. Die Zweijährige hustet ihr Sekret ab. Anders als Houda ist Clara nur für kurze Zeit im Hospiz. Um die Eltern, die sie sonst zu Hause pflegen, etwas zu entlasten. Eine gute Übergabe ist daher enorm wichtig. Die Pflegerin holt Claras Akte aus einer Schublade hervor, nimmt einen Zettel heraus:
"Die Eltern schreiben uns immer Steckbriefe. Oder wir bitten sie auch, uns Steckbriefe zu schreiben. Meinetwegen steht hier jetzt, Clara hat Schluckstörungen, deshalb hat sie auch eine Peg-Anlage, also sie kriegt über ihren Magen, direkt über eine Leitung, ihre Ernährung."
Alle zwei Stunden bekommt Clara derzeit 80 Milliliter Sondenkost. Größere Portionen verträgt sie nicht. Lediglich nachts gibt es eine sechsstündige Pause. Letztlich ist es Vollzeitpflege. Denn Clara kann sich kaum selbst bewegen, sie kann nicht sprechen, nicht selbstständig essen. Rund um die Uhr muss jemand bei ihr sein, ihr Sondenkost und Medikamente geben, mit ihr inhalieren, sie pflegen. Fast zwei Jahre lang leisteten die Eltern das ununterbrochen zu Hause. Dann waren sie völlig erschöpft, erzählt Claras Mutter, die 30-jährige Sandra Thias:
"Es gibt bei Clara in dem Sinne auch keinen richtigen Tag- und Nachtrhythmus. Was zum einen die Komponente hat, dass man einfach wenig Schlaf hat, als auch die psychischen Anforderungen, die ohnehin vorhanden sind mit einem schwerstkranken Kind zu Hause. Und jetzt im Dezember hatten wir es zum ersten Mal, dass wir Clara hier gelassen haben in Berlin, ganz alleine und mit dem Zwillingsbruder zu den Großeltern gefahren sind."
Clara war für zwei Wochen zur Entlastungspflege im Kinderhospiz. Auch für ihren gesunden Zwillingsbruder Emil war das eine gute Erfahrung. Da Claras Versorgung im Alltag oft alles dominiert, muss er häufig zurückstecken. Hinzu kommt, dass Claras Eltern Sandra und Matthias im Hospiz andere Eltern kennengelernt haben, die in einer ähnlichen Situation sind. Gerade Claras Vater Matthias profitiert enorm davon. Durch die Erkrankung seiner Tochter und die belastende Pflege war er seelisch völlig erschöpft, erzählt er. Jetzt geht er regelmäßig in die Männergruppe, die sich im Hospiz trifft:
"Man kann über seine Probleme sprechen. Die Männer, die dort sind, die verstehen einen, die haben ja auch ähnliches oder dasselbe durchgemacht. Ich habe teilweise Freunde, die kennen mich zwanzig Jahre, die wissen gar nicht, was bei mir zu Hause losgeht. Sie können das ja gar nicht wissen, wie ich mich fühle in der Hinsicht oder wie es mit Clara so ist. Aber in dieser Männergruppe, die verstehen es einfach."

Freundschaften zerbrechen wegen der Überforderung

Es ist eine Erfahrung, die auch Mohammed Nasser gemacht hat. Durch die langjährige Pflege seiner Tochter zu Hause zerbrachen viele Freundschaften, erzählt er. Die Hilflosigkeit bei den häufigen Gesundheitskrisen des Kindes, die Angst vor dessen Tod, die Überforderung durch die permanente Pflege verändern das Leben komplett. Im Kinderhospiz haben er und seine Frau Familien in ähnlichen Lebenslagen kennengelernt. Treffpunkt ist meist der Gemeinschaftsraum:
"Also wir haben hier sehr viel Unterstützung gekriegt, auch menschlich und seelisch. Weil in der Phase, als wir hier reingekommen sind, war man ziemlich am Ende gewesen. Ob es nun mit der Angst zu tun hatte, die man sonst getragen hat. Aber auch sonst die Einsamkeit, das hört sich blöd an, die wir sonst zu Hause haben, haben wir hier nicht mehr so extrem."
Mohammed Nasser sitzt mit seiner Frau und seinen drei Kindern im Aufenthalts- und Speisebereich des Hospizes. Am großen Gemeinschaftstisch haben weitere acht Kinder, deren Geschwister und Eltern Platz genommen. Die Erwachsenen unterhalten sich angeregt beim Essen, einige Kinder spielen. Es ist ein großer, heller Raum. Die Fenster reichen von der Decke bis zum Boden, durch sie fällt der Blick in den Garten des Hospizes. Der Sonnenhof ist ein Ort für Pflege und Leben. Neben Aufenthaltsraum und Garten gibt es daher im Keller des Hauses auch ein Schwimmbad. Zusammen mit der Mutter waren die Kinder schon einige Male dort, erzählt Houdas Bruder Hischam:
"Also, eigentlich mag sie nicht so, ins Wasser zu gehen. Aber hier hat sie sich halt getraut. Weil hier waren wir dann halt alleine unten und das Wasser ist hier ja zum Glück auch nicht so groß und tief, deswegen sind wir dann auch mal zusammen runtergegangen."
Pflegebereich, Schwimmbad und Aufenthaltsräume sind nahe beieinander. Mit dem Fahrstuhl geht es vom Gemeinschaftsraum eine Etage nach oben.
Erneut im Pflegetrakt angekommen, steigen Hischam und Nura aus:
"Und hier im Flur sind halt rechts und links die Zimmer von den Kranken, die hier sind. Und neben dem Fahrstuhl ist das Medikamentenzimmer, da ist fast alles grün. Und da sind halt die Medikamente und die Krankenschwestern. Es gibt ja auch viele hier, die Medikamente bekommen, wie meine Schwester Houda und die sind dann da alle aufbewahrt."

Jedes Zimmer hat ein Märchen

Der Pflegetrakt wirkt wie ein kleines Krankenhaus. Ganz anders als der helle und lebendige Aufenthaltsraum direkt darunter. Doch auch im Pflegebereich wird versucht, eine möglichst wohnliche Atmosphäre zu schaffen. Auf den Zimmertüren sind verschiedene Holzfiguren aus Kinderbüchern und Märchen befestigt, erzählt Nura und bleibt vor einer Tür stehen:
"Also jedes Zimmer hat halt ein Märchen. Es gibt zum Beispiel die kleine Hexe oder die Raupe Nimmersatt. Und jedes Zimmer, zum Beispiel Houda, hat die kleine Hexe. Jedes Zimmer hat halt so ein Bild, da steht dann die kleine Hexe mit dem Namen, das die Leute, also die Krankenschwestern, dann wissen, dass es Houdas Zimmer ist."
Aus dem Bad, das nur ein paar Schritte entfernt liegt, verbreitet sich unterdessen ein wohliger Geruch. Heidrun Barthelmai lässt gerade ein Bad für Clara ein, schüttet ein paar Tropfen ätherisches Öl in die Wanne:
"Im Wasser ist jetzt eine Mischung aus Lavendel und Mandarine rot. Lavendel kennt Clara schon und das ist ja auch das, was so ein bisschen beruhigt und einen runter kommen lässt und auch ihre Dystonien ein bisschen vermindert."
Claras Mutter Sandra Thias zieht ihre Tochter unterdessen aus, setzt sie dann mit der Hilfe von Heidrun Barthelmai in die Wanne. Kaum ist Clara im Wasser, überstreckt sie sich, macht sich steif. Die neue Situation verunsichert das kleine Mädchen.
Vorsichtig wäscht die Mutter ihre Tochter mit einem Waschlappen ab, während Pflegerin Heidrun Barthelmai das Mädchen hält. Claras gesunder Zwillingsbruder Emil hat sich unterdessen auf einen Hocker gestellt, hält sich am Badewannenrand fest und guckt ins Wasser.
Emil: "Kalt!"
Mutter: "Kalt? Ne, das ist nicht kalt. Schön warm, nicht (plätschern)."
Emil: "Ja."
Mutter: "Willst du mal den Lappen haben Emil?"
Emil: "Ja."
Mutter: "Dann kannst du Clara ein bisschen waschen, kannst du so machen." (plätschern)
Emil: (freut sich)
Mutter: "Super Emil."
Wenn Clara längere Zeit im Hospiz ist, können sich ihre Eltern nicht nur um sich selbst, sondern auch ausgiebig um Emil kümmern. Denn im Alltag muss sich der kleine und neugierige Blondschopf oft zurücknehmen. Weil Pflege und Gesundheitskrisen seiner Schwester alles dominieren, erzählt seine Mutter:
"Er muss bestimmt zurückstecken. Auf eine andere Art und Weise zurückstecken als andere Geschwisterkinder würde ich sagen. Klar, es ist gänzlich ein anderes Leben, was andere Geschwisterkinder führen, keine Frage. Er sieht ja auch Clara, ich denke schon, dass er mittlerweile auch mitgekriegt hat, dass Clara anders ist, dass ihre Bedürfnisse gänzlich anders sind als seine. Also er muss mitunter schon sehr geduldig sein, das stimmt."

Das Los der "Schattenkinder"

Geschwister von chronisch und lebensverkürzt erkrankten Kindern geraten schnell aus dem Blickfeld. Zu sehr stehen Pflege und Sorge um das kranke Kind im Mittelpunkt. Die Aufmerksamkeit ist ganz auf sie gerichtet. Nicht aus böser Absicht – sondern oft aus Hilflosigkeit und Überforderung. Nicht umsonst bezeichnet man die Geschwister als Schattenkinder, erzählt Heidrun Barthelmai:
"Also mit Diagnosestellung haben ja die Eltern einfach ein höheres Augenmerk auf das kranke Kind. Weil die natürlich auch Angst haben, dass sie da irgendwas übersehen könnten. Und sie möchten natürlich, dass es dem kranken Kind möglichst lange möglichst gut geht. Und dann wird halt auch schon mal vergessen zu fragen bei den gesunden Kindern, wie war es in der Schule, was hast du, wo denkst du gerade drüber nach? Und deshalb im Schatten stehend von dem kranken Kind."
Auch das Leben des 11-jährige Hischams und der 13-jährige Nura ist stark durch die Erkrankung ihrer Schwester geprägt. Als Houda noch zu Hause war, organisierten ihre Eltern den Alltag fast vollständig um die Pflege herum. Trotzdem haben die Nassers versucht, Houda ganz in den Alltag und in das Leben ihrer Geschwister zu integrieren. Auch, damit die sich nicht vernachlässigt fühlen, erzählt ihr Vater:
"Houda hat ja nicht immer hier gelebt und da haben wir auch alles zusammen mit Houda gemacht. Also die Kinder auch in der Schule mit Houda abgeholt, also so, dass sie sich von Anfang an, von Geburt an, dran gewöhnt haben. Wir haben jetzt eine andere Schwester und wir lieben sie trotzdem und haben uns nie dafür geschämt und das war glaube ich so auch die Stärkung, dass sie jetzt selber auch in einem gewissen Alter darüber erzählen und auch in der Schule dazu gerade stehen. Dann entwickelt sich auch kein Neid oder kein Hass auf das kranke Kind, wenn ein Elternteil immer weg ist."
Denn tatsächlich müssen Hischam und Nura ihren Vater im Alltag oft entbehren. Seit eineinhalb Jahren lebt der im Sonnenhof, ist, als Houda ins Hospiz kam, in eines der dortigen Elternzimmer gezogen, um möglichst immer bei seiner kranken Tochter zu sein. Nur manchmal ist er seitdem bei seiner Familie zu Hause. Immerhin: Von Freitagabend bis Sonntagnachmittag kommen Hischam, Nura und ihre Mutter ins Hospiz, damit die ganze Familie zusammen ist.
Nura: "Wir sind jetzt gerade in unserem Zimmer, wo wir als Familie schlafen. Houda hat ein eigenes Zimmer. Und meine Mutter und mein Vater schlafen dort, und ich und mein Bruder halt hier auf der blauen Couch, die kann man aufmachen."
Hischam: "Die kann man ganz leicht eigentlich aufklappen. Man muss nur das Kissen wegnehmen, einmal nach oben, was rausziehen, also nach hinten ziehen dann, das Kissen umdrehen und reinlegen, fertig."
Das Zimmer der Nassers ist rund 20 Quadratmeter groß. In der hinteren linken Ecke des Raums, direkt vorm Fenster, steht das Bett der Eltern. Es gibt einen Kühlschrank, einen Fernseher, zwei rote Sofas und die blaue Couch, die nachts zum Bett für die Kinder wird. Auf einen kleinen Beistelltisch liegt außerdem eine CD, die Hischam stolz hochnimmt. Zusammen mit seiner Schwester und einem weiteren Mädchen, dessen Bruder ebenfalls im Sonnenhof war, haben sie die Musik aufgenommen.
Hischam: "Vorne haben wir halt ein Bild von uns, da wo wir halt auf dem Teppich liegen. Und über uns steht halt unser Bandname Hiklanu. Das ist halt hier die CD, auf der Rückseite stehen halt die Lieder."
Nura: "Und für wen das ist, also für Josef und Houda. Weil wir haben ja eigentlich die CD zusammen für sie gemacht."
Der Musiktherapeut des Sonnenhofes hat die Kinder auf die Idee zur CD gebracht. Sie konnten Lieder für ihre kranken Geschwister aufnehmen. Für Houda und für Josef, den kleinen und sterbenskranken Bruder von der befreundeten, neunjährigen Klara.
"Stay with me" heißt das Lied, das sich Nura und Hischam ausgesucht haben und bei dem sie am heutigen Sonntag mitsingen. Es ist ein Lied für ihre kranke Schwester Houda. Und eine Chance für alle, auch im Hospiz lebendig zu sein – trotz Krisen und Trauer. Houda gefällt es sichtlich: Sie sitzt auf dem Schoß ihres Vaters, der zur Musik mitwippt, strahlt übers ganze Gesicht.
Mohammed Nasser: "Und jetzt hat sie wahrscheinlich gerade gedacht, ihr singt für sie, na."
Nura: "Ich meinte doch, immer, wenn sie unsere CD hört, fängt sie an zu lachen. Das hat sie auch gerade gemacht."
Die Musik heitert die ganze Familie Nasser auf. Trotz der traurigen Erinnerung, die auch mit ihr verbunden ist. Denn Josef, der zweijährige Bruder von Klara also, die auf der CD mitgesungen und sie ihrem Bruder gewidmet hat, ist bereits gestorben. Gerade die Kinder hatten dabei einen engen Kontakt zu Josef.
Nura: "Also, wo Josef hier war, hat ihn Hischam meistens immer so abends auf dem Arm genommen und dann ist er eingeschlafen. Und wir kannten ihn halt auch so. Weil, wenn die Klara hier war, haben wir ihn auch halt gesehen."
Hischam: "Es gibt ja auch hier einen Abschiedsraum. Da sind halt dann die Verstorbenen und da kann man ihn halt dann verabschieden und da waren wir auch dabei. Und wir waren auch auf der Beerdigung von Josef."
Die neunjährige, gesunde Klara konnte sich in dieser schweren Phase sehr auf Nura und Hischam stützen. An Josefs Todestag haben sich die Geschwister eine Zeit lang mit Klara zurückgezogen, einen Film mit ihr geguckt, Chips gegessen – auch, um das Mädchen etwas abzulenken, erzählt Mohammed Nasser:
"Als Josef uns verlassen hat, Gott habe ihn selig, da haben meine Kinder erstaunlicherweise dann wirklich die Begleitung von Klara ein, zwei Tage übernommen. Wir wollten nach Hause fahren und dann, als wir die Nachricht gekriegt haben, dann wollten sie doch nicht mehr nach Hause und wollten Klara zur Seite stehen. Und sie haben gesagt, dass gleiche kann uns genauso passieren und wir würden uns auch freuen, wenn jemand neben uns ist."

Kultur des Abschieds und der Trauer

Für Hischam und Nura war Josefs Tod eine prägende Erfahrung. Auch, weil sie ihm nahe standen. Mit seiner Schwester sind sie bis heute befreundet, treffen sie regelmäßig. Im Sonnenhof hat die ganze Familie Nasser auch durch diese Erfahrung gelernt, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen:
"Das Schlimmste für die Eltern ist, einem Geschwisterkind zu erklären, dass seine Schwester sterben wird. Und das haben wir hier geschafft. Dank der Unterstützung von den ganzen lieben Menschen, dass wir auch selber Kinder hier kennengelernt haben und verabschiedet haben. Das ist nichts Schönes, aber für uns war das schön, weil meine Kinder haben sich von Menschen verabschiedet, oder von anderen Kindern, die nicht ihre Schwester ist. Und das war für uns erst mal sehr schön, dass meine Kinder nicht als erstes in ihrem Leben ihre Schwester verabschieden."
Die Abschieds- und Trauerkultur ist im Sonnenhof fest verankert, auch die Seelsorge spielt hier eine große Rolle. Damit sich die Familien auf den Abschied von ihrem Kind einstellen können und die hinterbliebenen Eltern über den Tod ihres Kindes hinwegkommen.
Der zweijährige Emil tobt im sonnendurchfluteten Aufenthaltsraum des Hospizes, spielt mit seinem Vater. Seine Zwillingsschwester Clara, die vorhin die Inhalationsmaske vor dem Mund hatte, sitzt derweil auf dem Schoß ihrer Mutter. Als Clara geboren wurde, sagten die Ärzte, dass sie wohl nicht alt werden würde. Doch was genau heißt das, fragten sich die Eltern? Sind es 30 Jahre, 15 Jahre – oder weniger? Eine Antwort können auch die Mediziner nicht geben. Für Matthias Niederleig und seine Frau Sandra Thias ist das Thema Tod daher noch nicht so präsent:
"Man denkt das als Vater ja nicht, dass man seine Tochter vielleicht beerdigen muss. Klar hat man im Hinterkopf immer solche Gedanken, aber das ist jetzt noch nicht so im Vordergrund, dass ich sage, dass ich das täglich habe und mich damit auseinandersetzen muss. Also dafür haben wir überhaupt keinen Raum im Alltag. Also unseren Alltag betrifft ja eigentlich nur, dass wir immer zu den Arzttermin fahren, zu den Therapien, dann wie gesagt unsere Arbeit. Also, das ist noch nicht so drin."
Abschiedsraum im Hospiz Sonnenhof
Abschiedsraum im Hospiz Sonnenhof© Björn Schulz Stiftung
Auch Familie Nasser denkt nicht ständig an Houdas möglichen Tod. Wie alt sie wird, weiß niemand genau. Ihre Pflege ist aber nur noch im Hospiz möglich. Und der Tod ist hier natürlich gegenwärtiger als im Alltag zu Hause. Im Sonnenhof gibt es daher auch einen schönen Ort für Entspannung und Abschied: den Garten. Nura geht einen kleinen Sandweg entlang, bleibt dann stehen:
"Also wir sind jetzt hier beim Erinnerungsteich. Und die Kinder, die sterben, die Familien die können dann halt immer einen Stein wenn sie wollen malen, halt als Erinnerung und hier an den Teich legen."
In der Mitte des Teiches sprudelt eine kleine Wasserquelle hervor, am Rand liegen bunt bemalte Steine: Namen, Geburts- und Todesdaten von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen sind auf ihnen zu lesen. Um den Teich herum stehen hohe, alte Bäume. Auch Hischam hat hier schon einen Abschiedsgruß hinterlassen: Ein mit Sand und Steinen gefülltes Glas, auf dessen Deckel "Phillip" steht.
Nasser: "Das war auch ein junger Mann, der hier leider seinen Abschied gefunden hat. Aber auch vorher noch zwei, drei Wochen Freundschaft mit uns geschlossen hat."
Hischam: "Ja, wir haben noch mit ihm Fußball geguckt, da wo Deutschland die WM, da wo Deutschland halt gewonnen hat."
Im Winter hat Hischam das Glas im Haus verstaut, damit es bei strengem Frost nicht zerbirst. Im Frühling, wenn die Sonne wieder kräftig scheint, legt er es zurück an den Erinnerungsteich. Um an Phillip und all die anderen Kinder und Jugendlichen zu erinnern, die hier in friedlicher Umgebung und unter Menschen, die sie kennen und lieben, gestorben sind.
Thomas Gith: "Dass im Kinderhospiz auch gelacht wird, hätte ich erst mal nicht erwartet. Genauso wenig, dass Eltern teilweise monatelang im Hospiz wohnen, um immer bei ihrer kranken Tochter oder ihrem Sohn zu sein. Wie sehr beides beiden Seiten hilft – das habe ich, glaube ich, jetzt begriffen."
Der Journalist Thomas Gith
Thomas Gith© privat
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