Kinderbuch-Klassiker

Alice trägt jetzt Turnschuhe

Theaterszene aus "Alice hinter den Spiegeln"
Schauspielerin Margaret Rutherford 1954 zusammen mit Carol Marsh im Wimbledon Theatre in London in dem Stück "Alice hinter den Spiegeln" nach Lewis Carroll. © picture alliance / dpa / Foto: PA
Von Eva Hepper · 03.07.2015
Als Lewis Carrolls "Alice im Wunderland" 1865 erschien, ahnte er wohl nicht, welchen weltweiten Erfolg seine Geschichte von Alice, die durch einen Kaninchenbau in eine Märchenwelt gelangt, haben würde. Die niederländische Zeichnerin Floor Rieder hat das Buch neu illustriert.
Sie trägt noch immer ein Kleid, und auch das lange Haar ist ihr geblieben. Doch ihr Look hat sich dennoch total verändert: Chucks statt Spangenschühchen, keine Puffärmelchen mehr, sondern ein körperbetont geschnittenes Dress mit gewagtem Insektenmuster. Auf dem Kopf ein modische Hut, auf der Nase eine Nickelbrille, auf dem Rücken ein Rucksack. So tritt "Alice im Wunderland" an ihrem 150. Geburtstag den Leserinnen und Lesern entgegen, zumindest wenn es nach der jungen niederländischen Zeichnerin Floor Rieder geht.
Bereits Lewis Carroll wusste um die Bedeutung der Illustrationen für seine Geschichten. "Alice im Wunderland", erstmals erschienen 1865, und das nicht minder berühmte Nachfolgewerk "Alice hinter den Spiegeln"(1871) ließ der Schriftsteller von einem der namhaftesten Zeichner seiner Zeit bebildern: John Tenniel. Generationen von Kindern sind seither mit seinen Illustrationen groß geworden. Doch schon immer haben sich weltweit Hunderte Illustratoren an eine Neuinterpretation gewagt, darunter viele bekannte Künstlerinnen und Künstler wie etwa Tove Jansson, Salvador Dali oder Yayoi Kusama. Zu ihnen gesellt sich nun Floor Rieder.
Floors Zeichenstil ist Retro
Die 1985 geborene Niederländerin setzt auf Tradition und Moderne zugleich. So wirkt ihre Alice mit den Turnschuhen zum flotten Kleid zwar frisch und zeitgemäß, Floors Zeichenstil jedoch ist Retro. Ihre wunderbar originellen Figuren und Szenerien erscheinen wie Druckgrafiken aus den 20er- und 30er-Jahren. Den berühmten 5-Uhr-Tee etwa arrangiert sie mit wenigen kräftigen Strichen: ein orangefarbener Tisch, drumherum expressionistisch anmutende Stühle in grün, im Hintergrund ein Haus (mit zwei Schornsteinen, die wie die Ohren des Besitzers, des Schnapphasen aussehen), das Ganze gerahmt von einer floralen Ornamentik auf schwarzem Grund. Eine originelle Technik ermöglicht Floor Rieder diesen Look: Die Illustratorin streicht schwarze Farbe auf Glasplatten und kratzt die Motive direkt mit der Feder ein. Anschließend scannt sie die Bilder und koloriert sie am Rechner.
Es applaudiert ein Eichhörnchen
Neben der Retroanmutung fällt Rieders Betonung von Symmetrien ins Auge: eine Verbeugung vor Lewis Carrolls Liebe zur Mathematik. Wenn sich Alice etwa nach dem Proportz-Wettlauf verbeugt, dann applaudiert je ein Eichhörnchen – eins links und eins rechts. Und das gehetzte Kaninchen zu Beginn der Geschichte verliert sich in einem Raum, der spitz auf einen Fluchtpunkt zuläuft und wie gespiegelt wirkt.
Herrlich anzusehen und gestalterisch überzeugend sind zudem die vielen Zeichnungen, die direkt in den Text fließen und diesen zu Verschiebungen zwingen. Die Grinsekatze etwa hängt so im Baum, dass ihre Pfote direkt in den Text ragte, würde dieser nicht weichen. Und als wäre das nicht schon Bildfreude genug, lässt sich das Buch auch noch wenden. In Spiegelschrift erscheinen dann die Lettern "Alice hinter den Spiegeln". So bietet das kompakte, bibeldicke Buch mit dem schönen Leinenrücken beide Geschichten. Sie treffen sich – ganz symmetrisch – in der Mitte. Perfekt gelungen, eine besonders schöne Neufassung, die sich zu Recht auch mit dem Klassiker von John Tenniel messen kann.

Lewis Carroll: Alice im Wunderland & Alice hinter den Spiegeln
Illustrationen von Floor Rieder
Aus dem Englischen von Christian Enzensberger
Gerstenberg Verlag 2015
384 Seiten 25,00 Euro
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