Killer in Argentinien

18.01.2011
Ein schneller, brutaler, schnörkelloser Krimi aus dem argentinischen Ganoven-Milieu – mit den typischen Defiziten des Genres: Blasse Protagonisten, fragwürdige Zufälle und ein ambivalentes Verhältnis zu Gewalt. Zur außergewöhnlichen Lektüre wird der Text erst dann, wenn der Autor den Krimiplot verlässt.
Buenos Aires, Anfang 1978. Seit zwei Jahren regieren die Militärs, bald beginnt die Fußball-WM, und El Negro, ein kleiner Ganove, sucht Anschluss an die Bande eines größeren Ganoven. El Polaco, der Boss, betraut den Neuen mit einer Mission: Er soll eine Lieferung Drogen, versteckt in vier Pkws, über die Grenze nach Chile bringen. An einer Straßensperre kommt es jedoch zu einer Schießerei, zwei Banditen sterben, und El Negro taucht auf Geheiß des Polaco ein Weilchen unter. La Paraguaya versorgt ihn, "ein prächtiges Weib", so sieht es El Negro, "ein Raubtier mit den goldenen Augen eines Tigers". Aus der Notgemeinschaft wird ein Paar, zu spät bemerkt El Negro, dass die Paraguaya dem Boss gehört.

Bei einem neuen Einsatz geht El Negro in eine Falle, er wird verhaftet. Nach der Entlassung Jahre später arbeitet El Negro wieder für El Polaco, und wieder geht der Einsatz schief; El Negro muss drei Männer töten. Jetzt wird ihm klar, wer Schuld hat an seinem Pech und an acht Jahren Kerker: El Polaco. Der rachsüchtige Nebenbuhler. In einem Billardcafé treffen sich die Kontrahenten zum Showdown ...

"Und der Engel spielt dein Lied" - ein schneller, brutaler, schnörkelloser Krimi - zeigt die für viele Krimis typischen Defizite. Blasse Protagonisten, fragwürdige Zufälle. Ein ambivalentes Verhältnis zu Gewalt. El Negro, die Identifikationsfigur, ist auch ein Killer. Betont coole Gesten, Sprüche, Szenen. Abgehackte Dialoge und abgenutzte Sprachbilder: Augen wie Stilette, wie Gewehrläufe.

Andererseits verrät das Buch den Willen zu literarischer Gestaltung: Raúl Argemí, der Verfasser, nutzt verschiedene Blickwinkel, er wechselt vom allwissenden Erzähler zur Ich-Perspektive und zurück. Er arbeitet filmisch, mit Schnitten, Vor- und Rückblenden, mit Beschleunigung und Verlangsamung. Dank kurzer Kapitel bleibt das Buch spannend, der Leser kann immer folgen. Zentrum des Romans ist der eine kurze Streit zwischen El Negro und El Polaco, der finale Dialog im Billardcafé. Verblüffend: Argemí hat den Auftritt aufgesplittert in knapp zwei Dutzend Miniszenen, fast sind es Standbilder, zwischen die er seine Rückblenden schiebt.

Zu außergewöhnlicher Lektüre wird der Text, wenn der Autor den Krimiplot verlässt. Wenn er plötzlich über die Geschichte der Einwanderernation Argentinien meditiert, über polnisch-jüdische Immigranten und ihren Zuhälterring "Varsovia". Oder wenn er die Symbiose zwischen privaten und staatlichen Gangstern beschreibt: Während der Diktatur 1976-83 drängten Militär wie Polizei ins organisierte Verbrechen, Mafia und Behörden kooperierten.

Und ein Frösteln erzeugt das Buch, sobald der Verfasser seine eigene Geschichte einfließen lässt. Raúl Argemí, geboren 1946 in der Provinz Buenos Aires, war in den frühen Siebzigern Mitglied einer linken Terrororganisation. Zehn Jahre verbrachte er im Gefängnis, als "unheilbarer" Marxist saß er in der Todeszelle. Einige Figuren spiegeln diese Erfahrungen, die Straßenkämpfe, den Horror, die Folter. Literatur, so sagte Argemí in einem Interview, sei für ihn auch ein Mittel, Geister und Obsessionen auszutreiben.


Besprochen von Uwe Stolzmann

Raúl Argemí: Und der Engel spielt dein Lied. Roman
Aus dem Spanischen von Susanna Mende
Unionsverlag, Zürich 2010
192 Seiten, 16,90 Euro