Kerry Howley: "Geworfen"

Besessen von Gewalt

MMA Welmeisterschaft 2013 in Myanmar
MMA Welmeisterschaft 2013 in Myanmar. MMA steht für Mixed Martial Arts (Gemischte Kampfkünste im Deutschen). © picture-alliance / dpa / Foto: Nyein Chan Naing
Von Dirk Knipphals · 12.04.2016
Zwei Männer, die in einem käfigähnlichen Ring wie besessen aufeinander einhauen, das ist die Welt des MMA. Philosophin Kit gerät in einen dieser Nahkämpfe und kommt davon nicht mehr los. Dem Leser geht es mit "Geworfen" von Kerry Howley ähnlich.
In der US-amerikanischen Stadt Des Moines besucht eine Philosophie-Studentin eine Tagung über Husserl. In einer Pause stromert sie herum und gerät zufällig in eine Veranstaltung, die genau das Gegenteil von einem akademischen Theorieaustausch darstellt: Sie stolpert in einen MMA-Kampf hinein. MMA, Mixed Martial Arts, das ist die Form des Nahkampfs, in der die Kämpfer mit voller Gewalt aufeinander losgehen.
So beginnt das Buch "Geworfen" der Autorin Kerry Howley, das sich zuerst sehr seltsam ausnimmt, sich aber zu einer faszinierenden Geschichte über Besessenheiten auswächst. Als Besessene beschreibt Kerry Howley die beiden Kämpfer, Sean Huffman und Erik Koch, die sie über Jahre begleitet und bis in die letzten Winkel ihres Bewusstseins analysiert. Als Besessenheit beschreibt sie auch das eigene Projekt, sich in die Subkultur des MMA zu begeben. Zur Kämpferin selbst wird sie nicht; das Oktagon, den achteckigen Käfig, in dem die Kämpfe stattfinden, betritt sie niemals. Aber sie begleitet die Kämpfer zu ihrem Training und bis in ihr Privatleben.

Interessanter Detailreichtum

Interessant ist das Buch durch seinen Detailreichtum, vor allem aber durch seine Perspektive: Die Welt der Philosophie und die Welt des MMA beschreibt Kerry Howley nicht als Gegensätze. Sie verknüpft sie, und zwar überzeugend. Ihr Langzeitbeobachtung versteht sie als "Projekt in experimenteller Philosophie", was sie antreibt sei ein "Interesse an der Natur und Struktur von Erfahrung". Sie beruft sich auf die Klassiker Schopenhauer, Nietzsche und Artaud, wenn sie die These aufstellt, das "ein verstörendes – oftmals gewalttätiges – Rituale alle Sinne um ein Vielfaches schärft".
Man wird als Leser nicht unbedingt zum Fan dieser martialischen Sportart. Aber indem die Autorin ihre eigene, für sie selbst überraschende Faszination zu verstehen sucht, lässt sie auch die Leser die Faszination an diesen gewalttätigen Spektakeln nachvollziehen. Dass das ein Männerding ist, dass sich auf der ungebremsten Leidenschaft für MMA kein bürgerliches Leben aufbauen lässt – Kerry Howley weiß das alles natürlich. Aber der Glutkern, das Besondere, das es hier zu verstehen gibt, ist noch etwas anderes: Die Welt der MMA erscheint in ihrer Darstellung, die reportagehafte Elemente mit einer reflektierenden Ebene mischt, als ein Raum für körperliche Grenzerfahrungen, durchaus auch als dionysisches Reservat für Ekstase.

Bezug zu Heidegger

MMA ist so kein seltsames Randgebiet, sondern ein Erfahrungsraum, den man hinzuziehen muss, wenn man wissen will, wie der Mensch ist. Die Verknüpfung mit der Philosophie geht dabei bis in den Titel des Buches hinein. "Geworfen", das bezieht sich zum einen auf die Kämpfer im achteckigen Ring, zum anderen aber auch auf Heideggers Konzept der Geworfenheit: dass wir in die Welt geworfen wurden ohne Vorbereitung und ohne Zustimmung. So genau und gleichzeitig mit soviel Abstand hat wohl noch niemand auf die Gewaltrituale der MMA geblickt.

Kerry Howley: "Geworfen"
Aus dem Amerikanischen von Simone Jakob
Ullstein Verlag, Berlin 2016
336 Seiten, 20,00 Euro

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