Ken Loach

"Analoges Schneiden ist eine ganz eigene Erfahrung"

Die britische Regielegende Ken Loach auf der Berlinale.
Die britische Regielegende Ken Loach auf der Berlinale. © picture alliance / dpa / Britta Pedersen
Moderation: Susanne Burg · 09.08.2014
In "Jimmy's Hall" erzählt der britische Filmemacher Ken Loach erneut vom Konflikt zwischen Irland und Nordirland. Wir haben ihn gefragt, was den bekennenden Sozialisten an dem Thema fesselt - und warum er noch immer analog dreht.
Patrick Wellinski: Man muss es sich schon mal auf der Zunge zergehen lassen: Seit 60 Jahren macht Ken Loach Filme. Längst gehört der Brite damit zu den wichtigsten und einflussreichsten europäischen Filmemachern. Und wie kaum ein anderer bleibt er sich und seinen Themen bis heute treu. Als ausgewiesener Sozialist interessieren Loach schon immer die Lebensgeschichten der englischen Arbeiterklasse, so wie er sie in seinen sozial-realistischen Meisterwerken wie "Kess", "Mein Name ist Joe" oder zum Beispiel auch in "Sweet Sixteen" gezeigt hat. Das andere große Gebiet, das Loach mit seinen Filmen regelmäßig beackert, ist die Geschichte Großbritanniens. So auch in seinem neuesten Film "Jimmy's Hall". Der Film feierte bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes seine Weltpremiere und läuft ab Donnerstag dann in unseren Kinos. Und eine Glückliche, Susanne Burg nämlich, hat mit Ken Loach sprechen können. Susanne, sag mal, wie war denn die Begegnung mit Ken Loach.
Susanne Burg: Ja, ich habe ihn in einem Garten eines Berliner Hotels getroffen, ein formvollendeter Gentleman, der sofort aufstand, als ich kam, mir die Hand reichte. Er ist ja mittlerweile schon 78 Jahre, scheint immer schmaler zu werden, ist aber eine unglaublich wache, aufmerksame Person, immer interessiert am Austausch, an der Kommunikation, am Menschen. Und dabei hat er ja seine sehr dezidierten politischen Meinungen, die er ja auch in seinen Filmen immer wieder transportiert. Und ich finde auch, in seinen Filmen greift er diese Themen auf, aber es sind nie nur Thesenfilme. Ihn interessieren immer auch die Beziehungen zwischen den Menschen.
Thematisch geht es jetzt im neuen Film "Jimmy's Hall" also um Irland, und die Auseinandersetzung mit Irland und Nordirland, die zieht sich durch seine Filmografie. Er hat das Thema behandelt in "Das Geheimprotokoll", "Hidden Agenda" und in "The Wind That Shakes the Barley". Ich habe ich ihn dann auch als Erstes gefragt, warum er irische Geschichte immer wieder aufgreift? Ob er als Engländer eine besondere Verantwortung verspürt?
Ken Loach: Also, Irland war ja unsere erste Kolonie. Und einen kleinen Rest davon haben die Briten immer noch kolonialisiert. Sie sehen: Die Geschichte beider Länder ist sehr eng miteinander verbunden. Und es war immer schon so, dass die herrschende Klasse Britanniens Irland mit unterschiedlichen Gesetzen unterdrückte. Im 19. Jahrhundert haben sie sogar versucht, die Bevölkerung – im wahrsten Sinne des Wortes – verhungern zu lassen. Über viele Jahre wurde zudem Militär im Land stationiert – alles nur, um den Unabhängigkeitsdrang der Iren zu unterdrücken. Dieses Vorgehen gegen Irland illustriert die Funktionsweise des Imperialismus, es zeigt, wie eine Kolonialmacht mit ihren Kolonien umgeht. Und das auf sehr klare, klassische Art und Weise. Diese Erkenntnis ist daher nicht nur aus einer historischen Perspektive interessant, sondern auch für uns, hier und heute.
Burg: Ihr letzter Film, der sich damit auseinandergesetzt hat, "The Wind That Shakes the Barley", spielt 1920/21 während des irischen Unabhängigkeitskrieges. Nun setzen Sie in "Jimmy's Hall" 1932 ein. Die Republik Irland ist nun zehn Jahre alt. Warum gerade in diesem Jahr?
Geleitet vom Wunsch nach Freiheit
Loach: Wissen Sie, die Geschichte von Jimmy Gralton entdeckte ich ganz unabhängig von meinen anderen Arbeiten. Es ist die Geschichte eines Mannes und seiner Freunde, die in ihrem Dorf einen Ort der Freiheit etablieren wollen, wo man tanzen, singen, spielen, aber auch politisch diskutieren und debattieren kann. Es ist klar, dass die Machthaber diesen Ort der Freiheit missbilligten. Und dieser Konflikt war für mich Grund genug, diese Geschichte zu erzählen.
Zufälligerweise findet das Ganze tatsächlich zehn Jahre nach dem Bürgerkrieg statt. Und plötzlich merkten wir selber, dass wir eine Art Fortsetzung von "The Wind That Shakes the Barley" drehten, aber eben auch eine Geschichte über den Freiheitswunsch dieser jungen Menschen.
Burg: Wenn Leute an den Nordirland-Konflikt denken, dann denken sie häufig an die 1970er-Jahre und an den Blutsonntag. Warum war es Ihnen wichtig, zu zeigen, dass die Wurzeln viel weiter zurückgehen?
Loach: Wenn man sich fragt, warum heute etwas passiert, dann versteht man das nur, wenn man in die Geschichte blickt. Das ist für das historische Verständnis sehr wichtig. Und die Gewalt der 1970er-Jahre kam ja nicht aus dem Nichts. Der Norden Irlands war damals von britischen Truppen besetzt, zu Unrecht, wie viele heute meinen. Und das gelang vor allem mit der Hilfe der unionistischen Protestanten, einer pro-britischen Gruppe, die die Mehrheit bildeten. Für die irisch-nationalistischen Katholiken hingegen resultierte diese Gemengelage aus einer permanenten Unterdrückung im Arbeitsleben oder im Bildungswesen. Diese Diskriminierung wurde vornehmlich von den Briten verursacht. Und das Gefühl der Machtlosigkeit und Unterdrückung führte zu den Gewaltausbrüchen der irischen Widerstandskämpfer in den 1970er-Jahren.
Es ist ein bisschen wie heute das Verhältnis zwischen Palästina und Israel. Die Ersteren werden unterdrückt und wehren sich dagegen, und das durchaus mit Gewalt. Und schon beginnt der Teufelskreis aus Gewalt und Tod. Aber was hier besonders wichtig ist, ist die Tatsache, dass es sich dabei um unterschiedliche Arten von Gewalt handelt, die man eben nicht miteinander vergleichen kann. Die Gewalt der Besatzer ist nicht dasselbe wie der Wiederstand der Besetzten. Darin liegt ein qualitativer Unterschied!
Burg: Und was ist mit der Macht der katholischen Kirche?
Loach: Ich sehe das so: Die Kirche hatte damals diesen Einfluss, weil die wirtschaftliche und politische Klasse ihn ihr zugestanden hat. Natürlich ist es so, dass eine zu mächtige Kirche ganz schnell zu einem Problem werden kann. Aber am Ende ist das wahre Problem die Einflussnahme der ökonomischen Macht. Am Ende steht die Kirche im Dienst der herrschenden ökonomischen Verhältnisse und schützt sie, denn dann kann sie sagen, die Reichen müssen reich bleiben, weil Gott das so will, oder die Armen sollten arm bleiben, weil Gott das für eine gute Idee hält. Sie sehen, wie eng diese Wechselbeziehung sein kann, und das ist der Grund, warum man gegen diese unheilige Allianz vorgehen und vor allem Widerstand leisten sollte.
Burg: Wenn wir auf den Film kommen: Es ist ein Kostümfilm, aber die Leute wirken nicht verkleidet. Was haben Sie gemacht, um den Film so gegenwärtig wirken zu lassen?
Loach: Das war die Arbeit meines Ausstatters, und der macht das großartig. Ich finde es sehr wichtig, dass Filme, die in der Vergangenheit spielen, nicht gleich aussehen wie aus dem Museum. Die Schauspieler dürfen nicht so spielen, als wüssten sie, dass sie Kostüme tragen und hier historische Figuren verkörpern. Das kann man übrigens gut durch die Sprache erreichen: Wenn meine Darsteller umgangssprachlich sprechen, ungefähr so, wie man es heute in Irland auf der Straße hört, dann durchbrechen sie ein wenig das staubige Klischee des Kostümfilms.
Burg: Einmal ist es die Sache des Drehbuchautors, klar, dann der Kostümbildner. Wie schaffen Sie es aber, dass die Leute in ihrer Kleidung und mit den Dialogen sich wohlfühlen und es dann natürlich aussieht.
"Meine Darsteller wissen nie, wohin die Reise ihrer Figur geht"
Loach: Ich drehe chronologisch, also von Anfang bis Ende. Meine Darsteller bekommen das jeweilige Drehskript nur ein paar Tage vorher und wissen nie so richtig, wohin die Reise ihrer Figur geht. Es funktioniert also vieles über den klassischen Überraschungseffekt. Es gibt da in "Jimmy's Hall" eine Szene, in der Frauen singen, und plötzlich stürmen bewaffnete Männer den Raum. Das wussten die Darstellerinnen aber nicht, und ihr Gesichtsausdruck, dieser Schock, das kann man nicht spielen. Das funktioniert nur durch die Überraschung. Ich habe also versucht, etwas Echtes, Unverfälschtes vor der Kamera zu erschaffen, etwas Authentisches. Das ist der Job des Regisseurs. Und damit ist klar, dass vieles mit genauer Vorbereitung zu tun hat.
Ich muss sehr intensiv mit den Darstellern besprechen, wie die Verhältnisse der Figuren zueinander sind, und dann muss man die ganze Besetzung sehr behutsam durch den Film navigieren. Ich sage dann immer, das was wir heute drehen, das ist die Probe für das, was wir morgen drehen. Und dann entsteht ein Fluss. Mein Film ist letzten Endes all das, was alle gemeinsam vor der Kamera erfahren haben, und nicht das, worüber man vorab theoretisch gesprochen hat. So gehen die Erfahrungen von Drehtag zu Drehtag über. Das Drehen wird zu einem organischen Prozess, und ich muss dann immer weniger erklären, denn alle fühlen schließlich, was jetzt richtig wäre.
Burg: Sie haben den Film analog gedreht und hatten große Schwierigkeiten, das entsprechende Filmmaterial zu bekommen. Was bevorzugen Sie an der analogen Technik?
Loach: Das ist ein ganz anderes Medium. Es verhält sich wie Ölfarbe zur digitalen Fotografie. Auf Filmmaterial zu drehen hat etwas viel Haptischeres, es ist viel sinnlicher, viel sensibler, viel feiner als digitales Filmemachen. Digital zu drehen hat immer etwas Mechanisches. Interessant ist ja, dass viele versuchen, den digital gedrehten Film im Nachhinein so zu bearbeiten, dass er mehr wie analog gedreht aussieht. Wie absurd! Auch weil das Celluloid eine unnachahmliche Qualität hat. Es ist weniger präzise. Details können so auch mal verschwinden, und das Bild bekommt etwas Träumerisches. Und analoges Schneiden ist dann wieder eine ganz eigene Erfahrung. Weil Sie dann eine Idee der Kontinuität ihrer gefilmten Geschichte bekommen. Alles ist mehr im Fluss.
Doch wenn es dann um die technische Umsetzbarkeit geht, sieht es sehr düster aus. Es gibt zwar noch die Apparate, aber die ganze Infrastruktur, um analog zu drehen und zu schneiden, fehlt. Es gibt ja kaum mehr analogen Film! Und während der Dreharbeiten zu "Jimmy's Hall" ist uns das Material tatsächlich einmal ausgegangen. Wir schrieben verzweifelte Briefe an Produktionsfirmen in der ganzen Welt, und zum Glück haben viele geantwortet und uns mit ihren Restbeständen geholfen.
Burg: Es war überall zu lesen, Sie verabschieden sich mit diesem Film vom Kino. Vor fünf Jahren haben Sie auf die Frage, warum Sie doch immer weiter arbeiten, geantwortet: Vermutlich Angst. Sie wüssten einfach nicht, was Sie mit Ihrer Zeit anfangen sollten, wenn Sie keine Filme mehr drehen. Hat sich das jetzt geändert?
Loach: Nein, eigentlich nicht. Es gibt einfach einen Punkt, an dem Sie sich als alter Mann einfach nicht mehr bewegen können. Ich habe das mal gesagt, als es gerade so ruhig um mich herum war, und es klang damals so schön: Ruhestand. Ich habe dann spaßhaft gesagt, dass ich es mir noch mal überlege, wenn England Fußballweltmeister wird. Aber das ist ja bekanntlich gründlich schief gelaufen...
Nein, Scherz beiseite, wissen Sie: Es ist einfach sehr anstrengend, einen Film zu drehen. Und die Kräfte lassen bei mir nach. Aber nein – "Jimmy's Hall" ist wahrscheinlich nicht mein letzter Film. Ich spreche häufig mit Paul, meinem Drehbuchautor, und meiner Produzentin, und ich merke, es gibt noch so viele Geschichten zu erzählen. Aber die Gesundheit muss es einem am Ende erlauben. Und was auch wichtig ist: Man darf sich selbst nicht zum Affen machen. Also: Drücken Sie mir dir Daumen, dass es nicht so weit kommt.
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