Kempowski-Nachlass

Splitter der Erinnerung

Der Schriftsteller Walter Kempowski im Jahr 2004
Der Schriftsteller Walter Kempowski im Jahr 2004 © dpa / picture alliance / Wüstneck
Von Maike Albath · 21.04.2014
Mit seiner Sammel- und Aufbewahrungsmanie hat Walter Kempowski der Erinnerungskultur in Deutschland einen großen Dienst erwiesen. Aus seinem Nachlass erscheint nun ein voluminöser Band mit anonymen Stimmen zur bundesrepublikanischen Gesellschaft.
Walter Kempowski (1929-2007) war ein manischer Sammler. Der Verfasser so berühmter Romane wie "Tadellöser und Wolff" (1971) und "Uns geht's ja noch gold" (1972) hob alles auf, was ihm zwischen die Finger geriet, sammelte fremde Tagebücher, Briefe und Postkarten, schaltete Anzeigen, um Korrespondenzen und private Zeugnisse vor der Vernichtung zu bewahren. Außerdem liebte er systematische Befragungen von Zeitgenossen, woraus er schon früh kleine Collagen fabrizierte, mitunter auch Hörspiele.
Mit seiner Sammel- und Aufbewahrungsmanie hat er der Erinnerungskultur in Deutschland einen großen Dienst erwiesen, vor allem, was die Aufarbeitung der gesellschaftlichen Umbrüche während des Zweiten Weltkrieges betrifft. Seine monumentale, zehnbändige Chronik "Echolot" umfasst Feldpostbriefe einfacher Soldaten ebenso wie Zitate aus Ernst Jüngers oder Thomas Manns Tagebüchern oder Aufzeichnungen von Goebbels.
Die vielen Fragen des Walter kempowski
Nun hat die langjährige Mitarbeiterin Kempowskis Simone Neteler aus dem Nachlass des Schriftstellers seinen Vorgaben entsprechend ein Stimmen-Cluster aus lauter Erinnerungssplittern zusammengestellt und in Buchform herausgebracht: "Plankton. Ein kollektives Gedächtnis" ist der Band programmatisch überschrieben, der zugleich im Internet fortgeführt wird.
Walter Kempowski, ewig von neuen Projekten getrieben, stellte zunächst Freunden und Verwandten, später auch Zufallsbekanntschaften immer wieder die verschiedensten Fragen: nach dem Verlauf der Schulzeit, nach einschneidenden Lebensereignissen wie dem Tod eines nahen Menschen, der ersten Liebe oder politischen Verwerfungen, nach der Seele oder der Bibel, aber auch nach alltäglicheren Gegebenheiten wie Nachbarn, einem Möbelstück, Lieblingsessen oder Reisen. Plankton fischen nannte Kempowski diese Tätigkeit.
Kempowski wollte einen "Plankton-See" erschaffen
Der ziegelsteindicke Band reiht eine Unmenge anonymer Zeugnissen aneinander, jeweils abgesetzt durch die Berufsbezeichnung der Befragten, etwa Mediziner, Kaufmann, Schriftsteller, Bauer, Schülerin, Buchbinder, manchmal aber auch unspezifischer wie "eine Frau", häufig ergänzt durch das Geburtsjahr und ein Stichwort zum Thema. Das reicht von Eintragungen, wie "Ein Mann. Mauerfall/ Wiedervereinigung/ Das war für mich die große Begegnung mit dem Kapitalismus, dass da zwei Klassen existierten", bis zu längeren Ausführungen eines Landwirtes, Jahrgang 1911, über Hitler.
Bei den Partikeln handelt es sich um nicht weiter geglättete Originaltöne. Das Ergebnis ist ein vielfältiges Mosaik, aus dem man einen Eindruck von der Verfasstheit der bundesrepublikanischen Gesellschaft gewinnt. Da das umfangreiche Material aber nicht ästhetisch überformt ist, gestaltet sich die Lektüre auf die Dauer etwas ermüdend. Kempowski wollte laut seiner Aufzeichnungen im Tagebuch einen "Plankton-See" erschaffen, es sollte im Unterschied zum Echolot gerade keine Montage sein, sondern "ein Schwarm, eine stetige Menge".
Um ein literarisches Werk handelt es sich nicht – für das Verständnis der verschiedenen Verfahren Kempowskis ist das Buch dennoch bedeutsam, und eine aufschlussreiche Quelle bietet es allemal.

Walter Kempowski: Plankton. Ein kollektives Gedächtnis
Knaus Verlag München
832 Seiten, 49,99 Euro

Mehr zum Thema