"Keine Wahrheiten, sondern Ansichten"

Horacio Verbitsky im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 28.09.2010
Die Opposition argentinischer Zeitungen gegen die Regierung Kirchner beruht nicht auf journalistischen, sondern auf politischen und wirtschaftlichen Gründen, sagt der bekannteste Journalist des Landes, Horacio Verbitsky.
Stephan Karkowsky: Ein Mann und sein Kampf für die Wahrheit. In Argentinien gilt Horacio Verbitsky als Ikone des Journalismus. Er steht stellvertretend für die Aufdeckung von Missständen, gilt als unbestechlich und er scheut auch den Kampf mit den mächtigen Militärs nicht. Heute Abend sitzt er auf einem Podium der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Vorher soll er uns verraten, wie es steht um den unabhängigen Journalismus Argentiniens.

Horacio Verbitsky, buenos dias y bienvenido, guten Tag!

Horacio Verbitsky: Buenos dias, muchas gracias...

Karkowsky: Danke schön! Wer viel mit Lateinamerikanern zu tun hat und sich zu erkennen gibt als Journalist, merkt schnell: Der Glaube, dass Journalismus unabhängig sein kann, soll und zumeist auch ist, ist in Lateinamerika so gut wie tot. Hinter jedem Medium vermuten etwa Argentinier eine eigene politische Agenda. Sie erwarten von den Medien keine Wahrheiten, sondern Ansichten. Woher kommt dieses tiefe Misstrauen eigentlich?

Verbitsky: Ja, das ist ein relativ neues Phänomen, denn es ist so, dass wir in Argentinien gegenwärtig einen sehr intensiven politischen Prozess durchleben, in dem natürlich auch die Hauptmedien, die Medien – einige, nicht alle, aber die Hauptmedien – auch eine politische Rolle spielen. Und in dem Sinne, wenn man die erste Seite liest, dann glaubt man nicht, was da steht, sondern versucht immer die Botschaft zu entschlüsseln, die dahinter verborgen ist.

Und das ist auch sehr bezeichnend, dass gegenwärtig wir in Argentinien eine politische Debatte führen über die Unabhängigkeit des Journalismus. Das hat seinen Ursprung in einer Anklage, die von der jetzigen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner erhoben wurde und die im Zusammenhang steht mit der ökonomischen Konzentration der Medien und deren Verbindung zu der Militärzeit.

Und es ist auch so, dass die Hauptfabrik zur Herstellung von Zeitungspapier, also wo die ganzen Zeitungen in Argentinien gedruckt werden, ein Zusammenschluss von der Zeitschrift "Clarín", der Zeitung "La Nación" und dem argentinischen Staat ist. Die drei haben sich zusammengeschlossen und sind die Teilhaber dieses Werkes. Und das ist eine Anomalie, das ist etwas, was es in keinem anderen Land der Welt gibt.

Diese Vereinigung wurde im Jahr 1977 gegründet. Das war also noch die Zeit der tiefsten Militärdiktatur. Und 1978 gab es dann einen Besuch der interamerikanischen Gesellschaft für Presse, die also die Zeitschriften ganz Amerikas, von der Antarktis bis zu Arktis, vertritt. Die hatten damals, 1978, einen Besuch in Argentinien durchgeführt, um sich über die Situation bei den Menschrechten zu informieren, und sind da auf sehr erstaunliche Ergebnisse gestoßen.

Und die Vertreter dieser Vereinigung hatten in ihrem Bericht gesagt, dass ihnen die Verleger der Hauptzeitung, der wichtigsten Zeitung Argentiniens gesagt haben, dass die nationale Sicherheit Argentiniens den Vorrang hat vor der Pressefreiheit. Und diese Abgesandten oder diese Vertreter dieser Vereinigung, das waren also Direktoren von zwei Zeitungen aus den USA, und sie haben dann ihre Sorge zum Ausdruck gebracht über die Situation der Verhafteten und haben nach den Verschwundenen gefragt, und die Vertreter der wichtigsten Zeitungen Argentiniens haben ihnen dann darauf erwidert, dass sie sich keine Sorgen machen sollten, dass das alles Terroristen wären und dass die Sache schon in Ordnung ginge.

Karkowsky: Dass während der Militärdiktatur kritischer Journalismus schwierig bis unmöglich ist, das ist verständlich, aber wie war die Situation danach, wie konnten Sie ein investigativer, aufklärerischer Journalist werden in einer Gesellschaft, die diesen Posten eigentlich gar nicht zu vergeben hatte?

Verbitsky: Es gab also auch während der Diktatur einige herausragende Beispiele für einen investigativen Journalismus und wirklich auch Beispiele von einer sehr hohen Qualität, zum Beispiel eben diese Charta von Rodolfo (…), einem bekannten Schriftsteller damals, der also wenige Stunden, nachdem er diese Charta veröffentlicht hatte, verschwunden ist, den man verschwinden ließ. Das war also wirklich ein großes Beispiel für einen investigativen, für einen herausragenden Journalismus.

Und ich habe also auch während der Zeit der Diktatur einen Artikel veröffentlicht über die Verbrechen, die in der Mechanikschule der Armee begangen wurden. Und natürlich war es so, dass sowohl diese Charta von Walsh als auch meine Erkenntnisse illegal heimlich veröffentlicht wurden. Also es gab keine Möglichkeit, das in einem legalen Medium unterzubringen, weil, wie ich bereits sagte, eben diese legalen Tageszeitungen und Medien mit der Diktatur gemeinsame Sache gemacht haben.

Karkowsky: Sie legen sich an mit Geheimdiensten und Militärs – nicht zuletzt ist es Ihren Berichten zu verdanken, dass seit 2003 die Strafverfolgung von Militärs wieder möglich wurde. Sie haben also ganz offensichtlich mächtige Feinde. Wie gefährlich ist Ihr Beruf?

Verbitsky: Es ist schwierig, weil es ist eine Arbeit, die jahrelang nicht von anderen Kollegen begleitet wurde, die auch keine Begleitung durch die Gesellschaft gefunden hat. Die Gesellschaft hat es vorgezogen, den Blick in eine andere Richtung zu lenken und die Zeit einfach zu vergessen, so wie das auch hier in Deutschland der Fall war. Und dann kommt irgendwann so ein Moment, wo es nicht mehr weitergeht, und das ist dann der Augenblick, wo die Dinge beginnen sich zu ändern.

Und so ein Moment war 1993, als der damalige Präsident Menem dem Senat Unterlagen über zwei hohe Offiziere der Marine zugeschickt hat und in diesem Schreiben darum gebeten hat, dass sie in den nächsten Dienstrang befördert werden sollen. Und ich habe damals in der Zeitung "Página/12" einen Artikel veröffentlicht über diese beiden Marineoffiziere, habe in diesem Artikel berichtet, dass sie an Entführungen beteiligt waren, dass sie an Folter beteiligt waren, dass sie an der Ermordung von zwei französischen Nonnen mitbeteiligt waren, die damals in Buenos Aires entführt worden waren, und das hat also doch sehr große Bewegung verursacht.

Die ganze Sache hat dann noch ihre eigene Dynamik entwickelt: Der damalige Präsident Menem hat also ein Gerichtsverfahren gegen mich angestrengt, der ganze Prozess hat eine sehr gute Entwicklung, einen sehr guten Verlauf genommen, ich wurde also freigesprochen. Und das Gericht hat in der Urteilsbegründung nicht nur gesagt, dass ich das Recht, sondern dass ich auch die Pflicht gehabt habe, darüber zu berichten.

Karkowsky: In Argentinien heute stehen viele Medien in offener Opposition zu den Regierungen von Nestor und Cristina Kirchner. Man könnte das bewerten als gutes Zeichen: Hier schaut der Journalismus als vierte Macht im Staate den Mächtigen auf die Finger, oder?

Verbitsky: Allgemein gesprochen ist das eine richtige Feststellung, aber wenn man sich den Einzelfall mal ansieht, dann ist die Situation doch anders bei uns, denn man kann sagen, dass die großen Medien doch mit großem Wohlgefallen über die Regierung Kirchner und dessen Frau berichtet haben. Da gab es Einklang, bis eben dann Kirchner begonnen hat, Maßnahmen zu ergreifen, die sich gegen die Interessen dieser großen Tageszeitungen richteten, und da begann die Opposition gegen die jetzige Regierung. Und es ist auch eine geschlossene Opposition, eine Opposition, die durchaus anhält, die aber nicht auf journalistischen Gründen beruht, sondern für die gibt es mehr politische beziehungsweise Unternehmerinteressen.

Karkowsky: Man weiß, dass Sie die Kirchners gewählt haben, dass Sie ihre Politik unterstützen, vor allem ihren kritischen Umgang mit den Militärs, mit der Kirche, mit der Wirtschaft. Wenn Sie nun von einem Korruptionsskandal hören würden, der die Regierung stürzen könnte, würden Sie dennoch keinen Moment zögern, um darüber in "Página/12" zu berichten?

Verbitsky: Ich habe also auch über Korruptionsfälle, einige Korruptionsfälle berichtet, die in der Regierung Kirchner aufgetreten sind, und auch eine Zeitschrift, die also wirklich ganz erklärt der Opposition angehört, "Noticias", hat also auf dem Titelblatt mein Foto gebracht, "El Perro", also mein Spitzname, der Hund ist wieder auf der Spur.

Karkowsky: Okay. Horacio Verbitsky, muchas gracias, Ihnen vielen Dank für das Gespräch! Wir hatten bei uns den bekanntesten investigativen Journalisten Argentiniens, der ist heute in Berlin Teilnehmer einer Podiumsdiskussion der Heinrich-Böll-Stiftung über das Ende der Straflosigkeit der argentinischen Militärs. Muchas gracias!

Verbitsky: Muchas gracias ustedes!