Keine Fixierung auf den Holocaust

Von Matthias Bertsch · 26.10.2012
Als Dieter Graumann 2010 zum Präsidenten des Zentralrats der Juden gewählt wurde, war er der erste Präsident, der die Shoah selbst nicht erlebt hat. Auch sonst unterscheidet er sich in vielem von seinen Vorgängern und hat in seinem gerade erschienenen Buch einen Akzentwechsel angekündigt.
Als die Literaturwissenschaftlerin Rahel Salamander das Buch von Dieter Graumann vor kurzem im Jüdischen Museum in Berlin vorstellte ["Nachgeboren – Vorbelastet? Die Zukunft des Judentums in Deutschland"], fing sie mit einem persönlichen Geständnis an:

"Aus alten Zeiten erinner ich noch lebhaft, wie sehr ich mich seinerzeit gewundert habe, wie ein Jude Dieter heißen kann, und wir haben im Freundeskreis darüber gerätselt, ob dieser Dieter denn wirklich Jude sei."

Ein Rätsel, das Dieter Graumann wenig später bei der Lesung aus seinem Buch auflöste. 1950 in Israel geboren, zog seine Familie bereits wenig später in die Bundesrepublik – nicht aus Liebe zu Deutschland, sondern weil dem durch KZ-Haft gesundheitlich schwer angeschlagenen Vater das Klima in Israel nicht bekam. Als Sechsjähriger wurde Dieter Graumann in Frankfurt am Main eingeschult, bis zu diesem Tag hieß er David.

"Als mein erster Schultag dann endlich gekommen war, stellten meine Eltern mich vor den Spiegel im Schlafzimmer, nahmen mich in die Mitte und sagten feierlich: "David! Ab heute heißt du Dieter." David, das klang meinen Eltern damals viel zu jüdisch. Sie hatten Angst um mich, Angst davor, dass ich in der Schule viel zu rasch als jüdischer Junge identifiziert werden könnte, denn damals war es noch keineswegs "modern", so wie heute, sich biblischer Namen zu bedienen."

Eine vollkommen unnötige Umbenennung, wie Graumann heute sagt. Denn schließlich antwortet "Dieter" bereits in der ersten Schulstunde auf die Frage, welcher Religion er angehöre, wahrheitsgemäß mit "jüdisch".

"Ich habe meinen Eltern es ja erst viele, viele Jahre später erzählt, dass ich bereits am ersten Tag geoutet wurde als jüdischer Junge. Sie hätten sich ja große Sorgen gemacht und für uns von der zweiten Generation war und ist es wichtig, dass wir unseren Eltern nicht wehtun, dass wir sie behüten müssen nach allem, was sie durchgemacht haben. Das war für uns immer ein absolutes Tabu: Wir waren die Eltern unserer Eltern und sind es unser ganzes Leben lang geblieben."

Rebellieren gegen die Eltern, wie es andere in den 60er und 70ern taten, war für Graumann unvorstellbar. Sein politisches "Coming Out" war nicht die Studentenbewegung, sondern ein Theaterstück. Als im Oktober 1985 in Frankfurt Rainer Werner Fassbinders "Der Müll, die Stadt und der Tod" uraufgeführt werden sollte, demonstrierte Graumann mit anderen Mitgliedern der jüdischen Gemeinde, weil sie das Stück für eindeutig antisemitisch hielten: Hinter der Figur des "gierigen Immobilienspekulanten" war unschwer Ignatz Bubis zu erkennen – der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt und spätere Präsident des Zentralrats der Juden.

Graumann bezeichnet Bubis als seinen politischen Mentor, doch so sehr er sich auch an ihm und den anderen Vorgängern im Zentralrat orientiert, in einem Punkt will er sich deutlich unterscheiden. "Wir müssen raus aus der Position der Dauermahner" betont er immer wieder, die Zukunft des Judentums in Deutschland - so der Untertitel des Buches – dürfe nicht die Fixierung auf den Holocaust sein sondern sei ein lebendiges und vielfältiges Judentum. Im Kern sei das Judentum schließlich eine Religion – mit den gleichen Problemen wie das Christentum.

"Wenn wir uns in Deutschland umschauen, da haben die beiden großen Kirchen in den letzten 20 Jahren 8 Mio Mitglieder verloren, und im Judentum nimmt auch die Kraft des Glaubens ab, und es fragt sich, was hält Juden zusammen? Für mich ist es die Religion besonders, für andere ist es mehr etwas, was mit Kultur, Schicksalsgemeinschaft zu tun hat, mit einem gefühlten Judentum. Das ist oft das Bewusstsein, dass man eine Opfergemeinschaft ist, ich glaube, dass darf es nicht alleine sein, und ich glaube, inzwischen müssen wir akzeptieren, dass es viele Optionen gibt für Menschen, sich mit dem Judentum zu identifizieren. Für mich selbst wird es immer an allererster Stelle die Religion, der Glaube sein."

Die Vielfalt der jüdischen Selbstverständnisse sei eine Bereicherung – genau wie die Zuwanderung der vielen Juden aus der ehemaligen Sojwetunion. In Sachen Integration könne sich die Mehrheitsgesellschaft ein Beispiel daran nehmen.

"Die jüdische Gemeinschaft besteht im Moment zu 90 Prozent aus Menschen, die erst in den letzten zwanzig Jahren zu uns gekommen sind. Bei uns sollen zehn%e 90 Prozent integrieren, das Wort passt ja gar nicht mehr, wer schafft das schon in Deutschland?! In Deutschland wird über Integrationsprobleme gejammert, es werden zum Teil schreckliche Bücher darüber geschrieben. Aber wir leben Integration vor auf ganz vorbildliche, aktuelle Art und Weise mit einer ganz besonderen Willkommenskultur, ich glaube, das ist zum Beispiel schon etwas, wo andere etwas von uns lernen könnten."

Eine Willkommenskultur, die sich Graumann während der Beschneidungsdebatte auch gegenüber Juden und Muslimen gewünscht hätte. "Dass Religion nicht besonders populär ist in diesem Land, wusste ich", sagt er, aber was vor allem im Internet an Judenhass oder Muslimfeindschaft hoch gekommen sei, das habe ihn schon schockiert:

"Auch die seriöse Debatte ist in vielen Bereichen, finde ich, schief gelaufen, denn nirgendwo auf der Welt finden sie auch von den Kritikern diese schneidende Schärfe, die unerbittliche Härte, diesen groben Anklageton wir nur hier in Deutschland, das ist mehr als auffällig, und wenn uns Juden unterstellt wird, wir seien quasi notorische Kinderquäler ist das einfach nicht mehr zu ertragen. Wir brauchen keine Nachhilfestunden, was Kinderliebe angeht, dahinter stand oft eine geradezu besessene Bevormundung, für die ich dann am Ende kein Verständnis mehr hatte."

Auch gegenüber manch fundamentaler Israelkritik fehlt ihm das Verständnis Graumann lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihm der jüdische Staat immer eine zweite Heimat sein wird. In seinem Buch beschäftigt er sich vor allem mit dem Antizionismus der Linkspartei und dem Israel-Hass der Islamisten. Doch es sind nicht nur diese Gruppen, die ihm Sorgen machen. Dass mit der Philosophin Judith Butler vor kurzem eine extrem Israel-kritische Jüdin den Frankfurter Adorno-Preis erhalten hat, ist für ihn kein Einzelfall.

"Das Gefühl habe ich, dass man als Jude in Deutschland einen Preis bekommt viel leichter, wenn man kritisch und feindselig sich gegenüber Israel positioniert, das ist auffallend in den letzten Jahren und ich halte das für eine ganz schlechte Angewohnheit, die mir überhaupt nicht gefallen kann. Ich glaube, es hat auch damit zu tun, dass, wer sich als Jude kritisch zu Israel äußert, eine besondere Aufmerksamkeit bekommt in diesem Land, das finde ich schade."
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