Kein Vordenker der Demokratie

Robert Leicht im Gespräch mit Ita Niehaus · 08.08.2009
Der Journalist Robert Leicht kritisiert die heutige Darstellung Calvins als "Vordenker der Demokratie". "Calvin ging es um die Herrschaft Gottes, aber nicht um die Herrschaft des Volkes", so Leicht.
Ita Niehaus: Rund 90 Millionen reformierte Christen berufen sich auf ihn weltweit, auf den Reformator Johannes Calvin, der 1509, also vor 500 Jahren, geboren wurde. Mit zahlreichen Veranstaltungen wird an den Genfer Reformator erinnert, und es wird nicht nur erinnert, es wird auch diskutiert.

Wie aktuell ist Johannes Calvin heute noch? Calvin und die Demokratie zum Beispiel - was hat er uns da heute noch zu sagen? Darüber sprach ich vor der Sendung mit Robert Leicht, Journalist, Professor an der Universität Erfurt und Robert Leicht war auch Chefredakteur der "Zeit" und mehrere Jahre Ratsmitglied der EKD.

Herr Leicht, in der Diskussion um Calvin wird immer wieder gesagt, Calvin sei wichtig gewesen für die Entwicklung der modernen Demokratie. Ich würde gerne einmal Calvin zitieren. Er schreib in seiner "Institutio", die Aristokratie oder ein aus ihr und der bürgerlichen Gewalt gemischter Zustand steht weit über allen anderen, denn die Gebrechlichkeit und Mangelhaftigkeit der Menschen brächten es mit sich, dass es sicher und erträglicher ist, wenn mehrere das Steuerruder halten, sodass sie also einander gegenseitig beistehen, sich gegenseitig belehren und ermahnen und so auch Willkür im Zaume halten. Herr Leicht, halten Sie Calvin auch für einen Vordenker der Demokratie?

Robert Leicht: Ich weiche davon ab, weil die wirklichen Wurzeln der modernen Demokratie wesentlich woanders liegen und weil die Wirksamkeit von Calvin woanders viel wichtiger ist, als auf dem Gebiet der Entwicklung zur Demokratie hin.

Niehaus: Wenn ich Sie richtig verstehe: Calvin und die Demokratie haben also nichts miteinander zu tun?

Leicht: Na, zunächst einmal muss man sagen, dass die Menschen im frühen 16. Jahrhundert an allerlei Fragen gedacht haben, aber nicht daran, wie man eine Demokratie einrichtet. Das war überhaupt nicht das Thema.

Calvin ging es um die Herrschaft Gottes, aber nicht um die Herrschaft des Volkes, und die religiösen Strömungen in der frühen Reformation - das heißt, er ist ja schon der Reformator, fast der, nicht ganz der zweiten, aber der Generation, die Luther folgt -, die haben andere Dinge im Kopf gehabt. Und sein eigenes Verhalten ist nicht so, dass wir es sehr sympathisch finden können. Immerhin hat er einen Menschen, der anders dachte als er in religiösen Fragen, durchaus nicht selber hingerichtet, aber dafür gesorgt, dass er hingerichtet wurde, nämlich Michael Servet, und immerhin sind in einem Jahr seiner Wirksamkeit in Genf 34 sogenannte Hexen verbrannt worden.

Das alles ist kein Vorbild für Demokratie. Ob dann die geistige Strömung, die sich Calvinismus nannte und die nicht unbedingt identisch ist mit dem, was Calvin gesagt hat, oder ob die Reformierten heute oder im 20. Jahrhundert, die nicht alle wirklich Calvinisten oder nur Calvinisten sind, in der Demokratie sich tapferer geschlagen haben als die Lutheraner, das kann man dann im Einzelnen diskutieren. Aber eins bleibt immer wahr: Keine der Kirchen - weder die katholische noch die evangelische in ihren Abteilungen Luther und reformierte und unierte und was auch noch -, keine dieser Kirchen war eine antreibende Kraft auf dem Weg zur Demokratie.

Niehaus: Trotzdem hat er die Leitung auf mehrere Schultern verteilt in den Gemeinden. Er trat für Transparenz, für Offenheit ein. Das klingt doch erst mal so ganz demokratisch.

Leicht: Ja, zu einer Demokratie gehört nun mehr als die Verteilung von Ämtern. Ich könnte sehr drastisch argumentieren und sagen, selbst in Diktaturen hat es Funktionsteilung gegeben. Und ich will ja nicht bestreiten, dass das im Wesentlichen eine vernünftige Art ist, politische Aufgaben zu lösen, nur wenn Sie dann sehen, mit welcher rabiaten Weise religiöse Abweichler verfolgt wurden, wie wenig Toleranz galt, mit welcher Illiberalität er seine Kirchenzucht durchsetze, dann muss ich doch sagen, dass zur Demokratie ein bisschen mehr gehört - oder jedenfalls zu einer freieren Gesellschaft -, als die Verteilung von Funktionen auf verschiedene Leute. Es gehört dazu, eben auch zu glauben, dass die Menschen freiheitlich und offen miteinander umgehen können, dass man Meinungsunterschiede aushält, anstatt die Abweichler schlicht zu verbrennen.

Niehaus: Also keinerlei innerkirchliche Anregungen zur Demokratisierung?

Leicht: Ja, wann haben wir denn in Deutschland, sagen wir mal, die Demokratie bekommen? 1919. Und bis dahin haben beide Kirchen, ich will nicht sagen erbitterten Widerstand geleistet, aber sie haben das Gottes Gnadentum verherrlicht und haben im 19. Jahrhundert, das kann man ja nun bis in die heutige Berliner Sozialdemokratie verfolgen, die Arbeiterbewegung konsequent ignoriert.

Es hat der preußische König auf die Revolutionäre von 1848 schießen lassen. Dieser König war zugleich der Bischof, der oberste, der hat auf seine Gemeindemitglieder schießen lassen. Gut, der war nun aber auch zur Hälfte reformiert, wie die Preußen ja so waren. In anderen Gegenden war das anders gewesen, und nun würde ich behaupten: Dass es anderswo liberaler zuging, hatte wenig mit den religiösen, sondern mehr mit den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen eines selbstständigen Bürgertums zu tun.

Niehaus: Hat sich denn Calvin überhaupt interessiert für das, was wir heute Staat und Gesellschaft nennen, oder ging es ihm, Sie haben es schon angesprochen, nicht mehr vor allem um die Ehre Gottes und die Moral?

Leicht: Er war der Überzeugung, dass das ganze menschliche oder sagen wir mal christliche Leben allein dazu diente, die Ehre Gottes zu verherrlichen. Natürlich war ihm klar, dass diese Welt regiert werden muss. Er war auch der Meinung, dass Kirche eine andere Funktion hat als die staatliche Obrigkeit, aber natürlich hat er die Obrigkeit als von Gott gesetzte Ordnung verstanden, der man, wie gesagt, bis an den Rand der Tyrannei zu gehorchen habe und gegen die es keine Auflehnung geben konnte. Das ist ihm auch nicht vorzuhalten, das haben alle anderen auch so gedacht.

Ich sehe eher in der Überbetonung der Vorgeschichte der Demokratie, sagen wir mal aus dem Reformiertentum, einen Versuch, mit den unangenehmen Seiten unserer Reformatoren zurechtzukommen und zu sagen, na ja, sie haben ein paar Leute umgebracht, ein paar Hexen verbrannt, waren rigoros in ihrer Kirchendisziplin, aber letztlich haben sie doch die Demokratie angestoßen. Das kann man aus dem weiten Rückblick da und dort, kann man da Elemente dafür finden, aber ihre Intention war das nie gewesen.

Niehaus: Gibt es überhaupt etwas, was Sie an Calvin besonders beeindruckt hat, oder bleibt er für Sie doch eher der rigide Moralist, der tyrannisch auf einem tugendhaften Leben besteht?

Leicht: Calvin ist ja letztlich, wie Luther oder fast ein Schüler Luthers, natürlich ein sehr eindrucksvoller Theologe. Und was er zur Rechtfertigung des Menschen vor Gott als eben allein aus Gnade gesagt hat, das bleibt ja alles richtig und wahr und dem verdanken wir viel. Ich muss allerdings befürchten, dass seine Art, den Gottesgedanken auf die Spitze zu treiben in dieser sogenannten Prädestinationslehre - also darin, dass, bevor die Menschen überhaupt geboren sind, schon feststeht, wer von ihnen verworfen sein wird und wer auserwählt -, dass er dort in einer frührationalistischen Weise das menschliche Denken über Gott formal logisch auf einen Punkt getrieben hat, wo es fast absurd wird.

Niehaus: Also dann doch lieber Luther anstelle von Calvin?

Leicht: Na, der Luther hat auch wieder nun seine Sündenregister vollgeschrieben - wie jeder von uns nebenbei -, aber ich finde ihn letztlich ein bisschen humaner - oder um zu sagen: viel humaner, im Übrigen auch viel musischer und lebensfroher.

Niehaus: Calvin war sicherlich kein Demokrat im heutigen Sinne. Welche Bedeutung hat er denn dann heute noch?

Leicht: Luther ist in seiner Wirkung zunächst weithin auf die deutschen Territorialstaaten beschränkt geblieben. Der Genfer Reformator Calvin - auch durch die Gründung einer Akademie in Genf, die Ausbildung trieb an Leuten, die sich dann europaweit verbreiteten -, Calvin hat die Reformation internationaler gemacht, als sie Luther allein gemacht hätte.

Niehaus: Calvin und die Demokratie. Das war der Publizist Robert Leicht, vielen Dank für das Gespräch!