Kein Gregor Samsa

22.09.2010
Ein Mann in Therapie: Immer wieder sieht er sich als Insekt, das durch die Wohnung krabbelt. In dem vor Metaphern wimmelnden Roman schlüpft der libanesisch-kanadische Autor Rawi Hage in den Körper eines Traumatisierten.
Der namenlose Held und Erzähler dieser Geschichte lebt als Immigrant in Montreal. Er ist einsam, abgebrannt und rastlos. Er hat gerade einen halbherzigen Selbstmordversuch hinter sich und muss sich nun einer angeordneten Therapie unterziehen.

Die Gespräche mit der Therapeutin fördern nach und nach die Vorgeschichte dieses jungen Mannes zutage: Er ist aus dem Libanon zur Zeit des Bürgerkriegs geflohen und er wird von einem Trauma verfolgt - der Ermordung seiner Schwester, für die er mitverantwortlich ist.

Die Wahrnehmung dieses Mannes oszilliert zwischen Hellsichtigkeit und Wahnvorstellungen. Immer wieder sieht er sich selbst als Insekt, als Kakerlake, die durch schmalste Spalten in fremde Wohnungen schlüpft, um zu schnüffeln und zu stehlen.

Diese Gelegenheitsgaunereien gehören zum schillernden Bild der Kakerlake in diesem Roman, genauso wie die schäbige Existenz als Migrant am Rand der Gesellschaft. Sogar die Zeugen Jehovas mischen da mit, sie prophezeien: Nach dem nahen Weltende werden die Kakerlaken die Macht über die Erde übernehmen! Einmal hat der Erzähler eine delirierende Begegnung mit einer mannsgroßen Albino-Kakerlake, die in seiner Küchentür lehnt und ihm erklärt: Du bist nur ein halber Mensch, mit deiner anderen Hälfte gehörst du zu uns, zu den Kakerlaken.

Bei so viel Insekten-Metaphorik muss man natürlich an Kafkas Gregor-Samsa-Käfer denken. Rawi Hage schreibt aber mit zu viel Tempo, zu viel Sinnlichkeit, zu viel überschießender Bilderfreude, als dass man ihn für einen Kafka-Adepten halten könnte.

Viel eher ist Rawi Hages Roman verwandt mit den halluzinatorischen Texten von William S. Burroughs oder Hunter S. Thompson. Die Stärke dieses Autors ist dabei nicht die fein ziselierte Formulierung, sondern eine unbändige Freude an sprachlichen Bildern, selbst in den banalsten Situationen. "Küche wischen" klingt dann so: "Ich trieb das Wasser zusammen, kam von allen Seiten gleichzeitig, fiel ihm in den Rücken oder stürmte ihm entgegen und jagte es wie eine Büffelherde über den Abhang."

Im zweiten Teil des Romans verdichtet sich die Handlung. Eine iranische Freundin des Erzählers, eine ähnlich irrlichternde Gestalt wie er selbst, entdeckt in Montreal einen Geheimpolizisten, der sie in Teheran vergewaltigt und gefoltert hat. Der Erzähler kommt in die Nähe dieses Geheimpolizisten, und er kommt an eine Waffe heran.

Misshandlung und Missachtung haben alle diese Geflohenen erlebt, auch im Exil leben sie weiter mit der Gewalt ihrer Erinnerungen. Was sollen sie tun? Vergessen? Rache nehmen? Vor dieser Entscheidung steht der Erzähler, halb Mensch und halb Kakerlake, am Ende dieses großen Romans.

Besprochen von Frank Meyer

Rawi Hage: Kakerlake
Piper Verlag, München 2010
312 Seiten, 19,95 Euro