Kehlmann-Effekt

Die Nachschreiber

Ein steinernes Engelchen ziert am 14.10.2008 einen Grabstein auf dem alten Südfriedhof in München
Schriftsteller erwecken verblichene Geistesgrößen zum Leben und lassen sie wie Zeitgenossen durch einen Roman spazieren. © dpa / Lukas Barth
Von Edelgard Abenstein · 07.06.2015
Der Kehlmann-Effekt oder: Wenn Schriftsteller erzählend in die Rolle verblichener Kollegen und Geistesgrößen schlüpfen.
Tote zum Sprechen zu bringen, das war schon immer ein Privileg der Literatur. Besonders reizvoll scheint es neuerdings, verblichene Geistesgrößen zum Leben zu erwecken, sie wie Zeitgenossen durch einen Roman spazieren zu lassen. Dabei interessiert neben dem, was war, auch das, was hätte sein können, die Karten werden neu gemischt.
Kafka als liebender Mann
So gibt Sibylle Lewitscharoff in "Blumenberg" dem gleichnamigen Philosophen als Haustier einen Löwen an die Seite. Karl-Heinz Ott ("Wintzenried") lässt den Aufklärer Rousseau unter Onaniezwang leiden, Michael Kumpfmüller vergegenwärtigt Kafkas letzte Liebe ("Die Herrlichkeit des Lebens").
Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778).
Der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778).© AFP / ARCHIVES
Daniel Kehlmanns Roman "Die Vermessung der Welt" verschränkt den Lebenslauf des Mathematikers Carl Friedrich Gauß mit demjenigen Alexander von Humboldts, der zum Zwecke der Naturerforschung Südamerika bereist. Der eine berechnet am Schreibpult zuhause die Welt, der andere kämpft sich, jede Steinlaus, jedes Erdloch vermessend, durch den Dschungel. Bürgerliches Bildungsgut kommt also wieder sehr gut an - besonders wenn es ironisch verarbeitet wird.
Daniel Kehlmann, deutscher Schriftsteller, aufgenommen am 03.03.2012 in Mainz.
Traf 2005 mit seinem Roman über Gauß und Humboldt den Zeitgeist.© picture alliance / Erwin Elsner
Was treibt die Gegenwartsautoren an, Schicksal im Leben der Großen zu spielen? Haben sie genug vom Kreisen um den eigenen Nabel, von Familienepen, oder ist es die Sehnsucht nach Größe? Biografische Lücken füllen sie mit Fiktion, nehmen sich Freiheiten, die Historikern verwehrt sind, schreiben Liebeserklärungen, auch Denkmäler werden gestürzt.
Der deutsche Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann, schwarz-weiß-Aufnahme, Portrait, zur rechten Seite guckend
Schriftsteller wie Thomas Mann kann mit seinem Goethe-Roman "Lotte in Weimar" als Vorbild der Gegenwartsautoren gelten.© dpa/picture alliance/Abraham Pisarek
Heraus kommen Möglichkeiten: ein anderes Leben, ein anderes Schreiben. Ganz neu ist dieses Verfahren nicht. Man kann sich auf große Vorbilder berufen, auf Georg Büchners "Lenz" als Paradefall eines romantisch nachempfundenen Dichterlebens, auf Thomas Manns satirischen Goethe-Roman "Lotte in Weimar" oder die tragischen Künstlererzählungen Stefan Zweigs und Lion Feuchtwangers in den Kleidern des historischen Romans.
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