Kaum spürbarer Hoffnungshauch

07.02.2012
Das Hauptwerk von Warlam Schalamow, die "Kolyma-Geschichten", schildert die Schrecken der Arbeitslager in der Stalinzeit. Schalamow hat rund zwei Jahrzehnte in Lagern und Gefängnissen zubringen müssen. Jetzt ist der letzte, abschließende Band seiner Werkausgabe erschienen.
Der vierte und letzte Band der "Erzählungen aus Kolyma" von Warlam Schalamow ist so unerträglich wie die ersten drei. Wieder berichtet Schalamow von Ereignissen in den fernöstlichen sibirischen Lagern, die einem das Blut gefrieren lassen. Wieder bewahrt Schalamow das Schicksal einiger von den 20 Millionen Menschen, die Stalin und seine Schergen in den Archipel Gulag pressten, vor dem Vergessen. Lakonisch, dokumentarisch, ohne jede Psychologie und mit einer überfallartigen Knappheit, die das Analogon zum völligen Ausgeliefertsein des Häftlings ist, berichtet er von dem, was sich dem Bericht zu verweigern droht.

Dass Warlam Schalamow den "Kältepol der Grausamkeit" überlebte, wunderte ihn selbst. Im Dauerfrostgebiet von Kolyma, nördlich von Japan, wohin er nach einer ersten Lagerhaft auf den Solowki-Inseln Anfang der dreißiger Jahre 1937 verbracht wurde, war er bald ein "dochodjaga", ein halb toter auf den Grund-Gelaufener. Die Arbeit im Goldbergwerk und beim Holzeinschlag bei minus 50 Grad Celsius im Winter in dünnen, geflickten und durchgeweichten Kleidern und bei brennenden 40 Grad Celsius im Sommer, während der die nackten Füße in Gummiüberziehern im Eiswasser des auftauenden Permafrostbodens standen, überstand kaum jemand länger als einige Monate. Es sei denn, er war Vorarbeiter oder Brigadier. Doch Schalamow lehnte es ab, andere um des eigenen Vorteils willen zu Tode zu prügeln, und überlebte nur, weil man ihn zum Feldscher, zu einem Hilfsarzt, ausbildete.

1953 verließ er die Lagerwelt und arbeitete, getrieben von einem Erinnerungszwang, der nach Primo Levi ebenso wie totales Vergessen ein Kennzeichen des Seelenlebens schwer traumatisierter Menschen ist, bis 1973 an den "Erzählungen aus Kolyma". Erst Ende der 1980er-Jahre konnten sie in der Sowjetunion vollständig publiziert werden.

Die Zyklen des vierten Bandes, von Gabriele Leupold wieder in ein karges, zupackendes Deutsch übertragen und von Franziska Thun-Hohenstein mit einem umfangreichen Glossar, hilfreichen Anmerkungen und einem Nachwort versehen, sind von einem kaum spürbaren Hoffnungshauch geprägt. Darauf verweisen schon ihre Titel: "Die Auferweckung der Lärche" geschieht in einer Moskauer Vase, wo der Zweig aus der Kolyma neu austreibt, und "Der Handschuh" aus Haut, der sich dem fast verhungerten Häftling abschält, wird durch nachwachsende Haut ersetzt.

Ganz ähnlich wird das Kolyma-Geschehen durchs Schreiben transformiert. Nun gibt es Anspielungen auf Proust, auf Ovidius Naso sowie Erinnerungen an Revolutionsereignisse. Schalamow vergleicht den Archipel Gulag mit Auschwitz, jener Lagerwelt, die erwähnt werden darf in der Sowjetunion. Und er betont die Möglichkeit für den Häftling und Feldscher, im Lager nicht zu kollaborieren, einer unter Umständen tödlichen Wahl allerdings. Inmitten des vollständigen Bankrotts der Moral versucht Schalamow, "bestimmte wichtige sittliche Fragen der Zeit zu stellen und zu beantworten". Diese verdienstvolle erste vollständige Ausgabe auf Deutsch stellt Warlam Schalamows Kolyma-Erzählungen neben die Werke von Imre Kertész, Tadeusz Borowski und Primo Levi.

Besprochen von Jörg Plath

Warlam Schalamow: Die Auferweckung der Lärche
Aus dem Russischen von Gabriele Leupold
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2011
667 Seiten, 29,90 Euro
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