Karsten Krampitz: "1976. Die DDR in der Krise"

Als das Scheitern unumkehrbar wurde

Lothar Herzog, ehemaliger Hauptmann des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und persönlicher Kellner von Staatschef Honecker, serviert auf diesem privaten Archivfoto beim 9. Parteitag der SED zur Eröffnung des Palastes der Republik im Mai 1976 SED-Chef Honecker etwas zu trinken.
DDR-Staatschef Erich Honecker bei einer Rede während des 9. Parteitags der SED zur Eröffnung des Palastes der Republik im Mai 1976 © picture alliance / dpa / Privatarchiv Herzog
Von Andreas Baum · 01.08.2016
Es war das Schicksalsjahr der DDR: 1976 wurden nach Ansicht des Schriftstellers und Historikers Karsten Krampitz folgenreiche Entscheidungen getroffen - die 13 Jahre später letztlich zum Zusammenbruch des Staates geführt haben.
Immer dann, wenn etwas Großes scheitert, wenn eine Ehe in die Brüche, eine Firma pleite geht oder ein Staat in sich zusammenbricht, stellen sich Beteiligte wie Geschädigte im Nachhinein die Frage: Wie konnte das passieren? Wie hätten wir das verhindern können? Wo hätten wir gegensteuern können? Und ab wann war es zu spät? Für den historischen Misserfolg DDR nimmt der Berliner Historiker Karsten Krampitz für sich in Anspruch, diesen irreversiblen Moment gefunden zu haben: 1976 war seiner Analyse zufolge das Schicksalsjahr der DDR. Denn in diesen zwölf Monaten wurden Entscheidungen getroffen und Entwicklungen unumkehrbar, die 13 Jahre später zum Niedergang des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden führten.

Zerfall eines Systems

1976 wurde der Liedermacher Wolf Biermann ausgebürgert, der Dissident Robert Havemann unter Hausarrest gestellt, unter den Toten an der Mauer war ein italienischer Kommunist, die Führung verhinderte das Erscheinen einer an sich harmlosen "Berliner Anthologie", die den Alltag der DDR zeigen wollte, wie er war, und in der sachsen-anhaltinischen Provinz übergoss sich ein evangelischer Pastor aus Protest mit Benzin und verbrannte sich öffentlich. Für sich genommen hätte keines dieser Ereignisse genügt, das Schicksal eines ganzen Staates zu besiegeln, in ihrem engen zeitlichen Aufeinandertreffen aber wirkten sie fatal: Die SED machte sich durch grobe Fehleinschätzungen ihrer Lage Feinde selbst unter denen, die noch auf ihrer Seite waren. Zehntausende verließen das Land oder blieben, verweigerten sich aber. So begann Krampitz zufolge bereits 1976 der Zerfallsprozess eines Systems, der letztendlich seinem Ende führte.
Indem Karsten Krampitz einen vergleichsweise kleinen Zeitraum mit der Lupe des Historikers vergrößert, macht er das Drama der DDR, vielleicht der ganzen marxistischen Utopie überhaupt, wie in einem Guckkasten sichtbar: An wenigen Episoden zeigt er, wo und wie der Abstieg begann. Und Krampitz kann erzählen, er vermag die kleinen Anekdoten des Alltags sorgfältig auszumalen und beweist einen Sinn für das Skurrile und für die Pointen, aus denen Geschichtsschreibung eben auch besteht. Sein Sachbuch über das Scheitern der DDR liest sich streckenweise leicht wie ein Unterhaltungsroman, der Autor führt uns vor, ohne sich anzubiedern oder gefällig zu wirken, wie vergnüglich Wissenschaft sein kann.

Die "Aufarbeitung der Aufarbeitung"

Dabei ist sein Anliegen durchaus ernst: Krampitz fordert einen anderen Blick auf die DDR-Geschichte, der sich löst von der Fixierung auf die Geschichte der Staatsführung und des Geheimdienstes dieses Landes. Er will eine "Aufarbeitung der Aufarbeitung" und wünscht sich, dass die ehemaligen Bewohner der DDR ohne Tabus von ihrem Leben erzählen können, in aller Widersprüchlichkeit, und ohne verschweigen zu müssen, was aus heutiger Sicht als falsch gilt. Denn "wer sein Leben nicht erzählen kann, wird krank."
Schon jetzt, kurz nach dem Erscheinen, hat Krampitz’ 1976 für Aufregung gesorgt unter denen, die hautnah dabei waren. Zeitzeugen von Vera Lengsfeld bis Egon Krenz melden sich öffentlich zu Wort, loben oder beschimpfen seinen Text, oder tun beides, erzählen ihre Version und prahlen mit Insiderwissen.
Krampitz’ 1976 wirft einen frischen, originellen Blick auf die DDR und ihr Versagen, der geeignet ist, auch diejenigen zu neuen Einsichten zu bringen, die glauben, schon alles über sie zu wissen.

Karsten Krampitz: 1976. Die DDR in der Krise
Verbrecher Verlag Berlin
Broschur, 176 Seiten, 18,00 Euro

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