Karl der Große

"Christlicher Kaiser" oder "Vater Europas"?

Eine Figur Karls des Großen steht am 16.06.2014 in Aachen (Nordrhein-Westfalen) im Centre Charlemagne. Die Ausstellung "Karl der Große, Macht, Kunst, Schätze" ist vom 20.06.2014 bis zum 21.09.2014 in Aachen zu sehen.
Eine Figur Karls des Großen © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Von Winfried Sträter · 20.08.2014
Der erste mittelalterliche Kaiser, Karl der Große, ist ein Paradebeispiel für politische Vereinnahmung: Er wurde zu einer Projektionsfläche für unterschiedlichste Etikettierungen - so dass sich das Bild, das wir von dem Machtmenschen haben, nicht mehr viel mit der realen historischen Person zu tun hat.
"Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Karl, der leuchtende, gottgekrönte Augustus, der große und friedfertige Kaiser, Lenker des römischen Reiches, auch nach Gottes Barmherzigkeit König der Franken und Langobarden..."
Mit diesen Worten beginnt er ein Schreiben an seinen Sohn Pippin: Karl, der 768 als Stammeskönig angefangen hat zu regieren, ist nach zahllosen Feldzügen Kaiser des größten mittelalterlichen Reiches geworden. In Rom zum Augustus gekrönt, von Byzanz, der damaligen europäischen Weltmacht, respektiert. Ein politisch-militärischer Aufstieg ohnegleichen. Gepaart mit religiöser Unterwerfung. Denn das Christentum bildet die organisatorische und legitimierende Grundlage seiner Herrschaft. Wer sich nicht unterwirft, muss mit dem Tod rechnen. Verden an der Aller – der Massenmord an den ungläubigen und widerspenstigen Sachsen.
"Es wäre nicht redlich in einer Stunde wie dieser zu verschweigen, dass er sein Ziel nur in einem Meer von Blut, Schweiß und Tränen erreicht hat und dass sein Reich sich schon bald nach seinem Tode, ja genau genommen schon während seiner letzten Lebensjahre wieder aufzulösen begann."
Das bekannte 1997 Bundespräsident Roman Herzog, als ihm der Karlspreis verliehen wurde, in Aachen, wo Karl bisweilen wie ein Heiliger verehrt wird – ein Mann, der im Kern ein Krieger war. Jahr für Jahr schickte Karl seine Truppen in neue Schlachten. Jeder Sieg bedeutete Eroberung und Beute. Und weil Karl ein so guter Stratege war, gab's viel davon, sein Ansehen und der Radius seiner Herrschaft stiegen ins Unermessliche. Er nahm sich, was er kriegen konnte, auch im Alltag. Seine Fleischeslust – in jeder Hinsicht des Wortes – war berühmt-berüchtigt.
Doch war er, nach eigenem Selbstverständnis, ein frommer Mann. Und in einer verrohten Zeit nach den Wirren der Völkerwanderung ein beispielloser Förderer der Kultur. Die karolingische Renaissance gilt als erste kulturelle Blüte im mittelalterlichen Europa.
Streitobjekt zwischen Franzosen und Deutschen
Widersprüche einer fernen, fremden Welt. Welches Bild wir von dem Machtmenschen des frühen Mittelalters haben, hat in der Regel nicht mehr viel mit der historischen Gestalt zu tun. Kaiser Karl ist ein Paradebeispiel für politische Vereinnahmung.
Christlicher Kaiser: Das war ein Etikett, das ihm besonders gern angeheftet wurde, weil das christliche Abendland damit eine politische Identifikationsfigur hatte – vor allem als einigendes Band im Kalten Krieg nach 1945. Denn über 100 Jahre lang war Karl vor allem ein Streitobjekt zwischen Franzosen und Deutschen.
Charlemagne: Für die Franzosen war er einer der Ihren. Aachen – sein Stuhl stand auf deutschem Boden: So tönte es von deutschen Lehrstühlen – bis sich der Wind drehte, die Politiker in Paris und Bonn die vermeintliche Erbfeindschaft beendeten und sich bemühten, wie Bundeskanzler Adenauer 1954 sagte:
"... den zerstörerischen deutsch-französischen Gegensatz endgültig verschwinden zu lassen."
Karl, der Vater Europas
Und auf einmal öffnete sich auch für die Geschichtswissenschaftler der Horizont in der Karlsinterpretation. Als der Mittelalter-Historiker Percy Ernst Schramm 1962 in der West-Berliner Kongresshalle vor dem Orden Pour le mérite eine Rede über Karl den Großen hielt, klang das so:
"Er musste schon im Mittelalter für nationale Aspirationen herhalten und hat auch in der neueren Zeit ein Streitobjekt zwischen den beiden Völkern gebildet. Jetzt können wir uns auf das Faktum besinnen, dass es einmal 150 Jahre lang weder französische noch deutsche Geschichte gab, sondern nur fränkische. Karl der Große gehört also weder den Franzosen noch den Deutschen, sondern beiden gemeinsam."
Womit gleich der Weg für die neue Vereinnahmung beschritten war: Karl, der Vater Europas. Der Frankenherrscher hatte zwar nur ein zentraleuropäisches Imperium von kurzer Dauer geschaffen, im Übrigen durch Eroberung und nicht durch vertraglichen Zusammenschluss - aber das Gebiet deckte sich ungefähr mit dem Territorium der EWG, als sie 1957 ins Leben gerufen wurde.
Christlich-konservative Interessengruppen träumten damals gar davon, mit Berufung auf Karl den Großen eine renovatio imperii in Angriff zu nehmen, die Wiederherstellung eines christlichen Großreiches in Europa, für das es auch schon einen Thronaspiranten gab: Otto von Habsburg. Aber diese Ambitionen waren dann doch allzu sehr aus der Zeit gefallen.
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