Kapitalismuskritik

Marxistischer Röntgenstrahl

Protestplakate
Protestplakate © picture alliance / dpa / Boris Roessler
Von Pieke Biermann · 17.03.2015
David Harvey präsentiert seine ganz eigene Kommunismus-Alternative und untersucht dafür die Anhäufung von Kapital, das fatale Wachstumscredo, den spekulativen Immobilienmarkt und den Raubbau an der Natur. Seine Kapitalismusanalyse gerät ihm aber ein wenig verwackelt.
Entgegen dem Jubel interessierter Kreise war der Marxismus nie tot. It just smelled a bit funny, nach dem Terror, den seine Adepten von Lenin bis Pol Pot angerichtet hatten, und sank medial gesehen 1989 in ein Nickerchen. Aus dem erwachte der Marxismus jäh 2008 durch den Lärm der Praxis: Finanz-Crash und "Occupy!" Seitdem ist wieder auffallend viel Theorie auf dem Markt. Auffallend umsatzstark. Von Jüngeren wie Naomi Klein, David Graeber, Thomas Piketty oder Veteranen wie Terry Eagleton.

Und David Harvey. Der Sozialwissenschaftler, Jahrgang 1935, in Cambridge ausgebildet, danach Professor in Oxford, London, Baltimore und heute New York, gehörte zum Kreis der radical geography ab den 1960er-Jahren und war immer schon Neo-Marxist. Heute ist er global unterwegs und macht Video-Kapitalschulung auf seiner Homepage. Ein Kommunikator – dialogfreudig, aber ohne Predigerfuror.

In seinem jüngsten Buch geht es ihm "primär um ein besseres Verständnis der Widersprüche des Kapitals und nicht des Kapitalismus", sortiert in drei Kapitel: je sieben "Grund-" und "Bewegliche Widersprüche" sowie drei "Gefährliche". Abgehandelt werden sie zumeist in den bekannten Marxschen Kategorien wie Kapital und Arbeit, Gebrauchs- und Tauschwert, Privateigentum, Staat, Reproduktion, zum Teil in neueren Begriffen wie Technologie, Urbanität, Wachstum.
Dass der Kapitalismus an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde geht, hält Harvey für Unfug, dass die Linke zu sehr versucht, "die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen", für fatal. Seine "Röntgenaufnahmen" sollen Ansatzpunkte freilegen, an denen seine Zielvorstellung andocken kann: ein "revolutionärer Humanismus", für den er am Schluss auch 17 Vorschläge macht.
Wenig Fußnotelei aber umso mehr Frantz Fanon
Das alles ist lebendig geschrieben, gespickt mit Beispielen aus Historie und Popkultur und ohne allzu viel Fußnotelei. Nichts Neues für Insider, aber gut lesbar für alle – zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten regt sich in wachen Lesern dann aber mancher eigene Widerspruch. Harveys Frantz-Fanon-gestützte Bemerkungen über revolutionäre Gewalt etwa klingen recht leger nach Hobeln & Spänen. Seine Ideen zu "Freiheit und Herrschaft", dem unlösbaren Dilemma aller Gemeinschaften, schmecken ein klein wenig nach individuell erforderlicher "Einsicht in die Notwendigkeiten".

Harveys Anti-Anti-Etatismus mündet in die Alternative "Volksversammlungen". Und zwischen "Kapital" und "Kapitalismus" hüpft er so munter hin und her, dass man ans Hütchenspiel denkt. Diese Unschärfe allerdings entpuppt sich beim dritten Blick als blinder Fleck: Von den letzten zig Jahren Theorie & Praxis in Sachen gender, race and class scheint Harvey unbeleckt. Nur, ohne die ist Kapitalismuskritik heute obsolet, theoretisch wie praktisch. Harvey dagegen, ganz old school, bei ihm ist zum Beispiel die "Reproduktion der Ware Arbeitskraft" nicht etwa Frauenarbeit, sondern obliegt der "Familie". Kein Zufall, dass ihm der Röntgenstrahl oft abrupt verrutscht, von Kapitalismus auf Kapital.

David Harvey: "Siebzehn Widersprüche und das Ende des Kapitalismus"
Aus dem Englischen von Hainer Kober
Ullstein Verlag, Berlin 2015, 273 Seiten, geb., 22 EUR

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