Kapitalismuskritik

"Banken brauchen extrem strenge Regeln"

Hochhaus Neubau der Europäischen Zentralbank
Baustelle Finanzkapitalismus: Der Neubau der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main © picture alliance / dpa / Daniel Reinhardt
Moderation: Christine Watty · 03.12.2013
"Der Kapitalismus geht nicht an seinen Finanzkrisen zugrunde, aber die Demokratie", sagt Ulrike Herrmann. Die politischen Folgen seien extrem gefährlich, analysiert die Journalistin in ihrem Buch "Der Sieg des Kapitals".
Christine Watty: Zugegeben, auch die Medien haben dabei mitgeholfen in Zeiten von Finanz- und Euro-Krise, eine Sprache zu erfinden, die einer Geheimsprache gleicht. Meist unübersetzt waberten in den letzten Jahren vermehrt Begriffe wie Derivatehandel, Aktienfonds und Schuldendeflation durch den Raum und uns allen schwirrte der Kopf von der Riesenkatastrophe auf dem Finanzmarkt oder der Sorge um unsere eigene wackelnde Währung.
Klar aber war immer und ist auch leicht zu verstehen: Das System, das all dem zugrunde liegt, ist der Kapitalismus. Und der trägt zwar durch all die Krisen der Jahrhunderte hässliche Narben und noch manch blutende Wunde mit sich, aber er ist nicht kleinzukriegen. Wie sich dieses Wirtschaftssystem durch die Zeit entwickelt hat und warum wir erstaunlicherweise bis heute nicht richtig damit umgehen können – sonst gäbe es ja wohl nicht alle paar Jahrzehnte den nächsten Crash –, das erklärt uns die Journalistin Ulrike Hermann in ihrem Buch "Der Sieg des Kapitals". Und sie vermag es auch, den Wust aus Fachbegriffen und schier undurchschaubaren Zusammenhängen verständlich zu machen. Guten Tag, Frau Herrmann.
Ulrike Herrmann: Ja, hallo.
Watty: Sie überraschen uns in Ihrem Buch vor allem mit einer Beruhigung, denn Sie schreiben, eigentlich darf man nicht jammern, wenn eine Wirtschaftskrise ansteht. Sollen wir uns darüber freuen?
Herrmann: Na ja, man muss halt sehen, dass Konjunkturkrisen nur möglich sind, wenn es Überfluss gibt. Also um noch mal sozusagen, die alte Zeit, den Feudalismus noch mal ein bisschen darzustellen, da war es ja so, dass es regelmäßig Hungersnöte gab und die Leute dann auch tatsächlich gestorben sind. Die letzte große Hungersnot gab es 1846/47 in Europa. Und natürlich, in so einer Zeit, wo einfach zu wenig da ist, ist natürlich klar, dass alles, was produziert wird, auch immer sofort einen Absatz findet. Und erst in dem Moment, wo Überfluss da ist – und das eben entsteht mit dem Kapitalismus –, ist es auch so, dass Waren auch liegenbleiben. Das wissen wir ja alle, hier hungert niemand mehr in Friedenszeiten. Stattdessen gibt es ein neues Phänomen, das uns auch jetzt ganz vertraut vorkommt, aber die Werbung ist auch erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden. Vorher musste man keine Werbung machen, alles kam sowieso weg, weil es zu wenig gab. Erst mit dem Kapitalismus ist dieser Überfluss entstanden.
Watty: Okay, dann herrscht also kurze Freude, dass es so ist, dass man überhaupt in diese Krise geraten kann, weil offenbar viel da ist. Langfristig ist es dann nicht mehr so ein ganz gutes Gefühl. Wie würden Sie denn unseren heutigen Zustand beschreiben? Ich habe in der Anmoderation gesagt, Euro-Krise, und die habe ich schon so ein bisschen unterstrichelt. Wo stehen wir denn jetzt wirklich, in welchen Krisen, im Moment?
"Drei schwere Krisen in zehn Jahren"
Herrmann: Was man sehen muss, ist, dass wir seit 2000 ungefähr in so einer Art neuen Phase des Kapitalismus sind. Was wir seit 2000 erlebt haben, sind drei schwere Finanzkrisen. Erst die Dotcom-Krise, die Internetblase, die geplatzt ist, dann gab es die Subprime-Krise, also diese Hypothesenkrise, die aus den USA rübergeschwappt ist, und jetzt gibt es die Euro-Krise. Und das muss man verstehen, das ist in der Geschichte des Kapitalismus völlig neu, dass man in nur zehn Jahren drei schwere Finanzkrisen hat, die immer an der gleichen Stelle einschlagen, nämlich in Deutschland.
Also, Finanzkrisen gab es schon immer in der Geschichte des Kapitalismus, auch im 19. Jahrhundert gab es schon Finanzkrisen, aber neu ist eben, dass die permanent auftreten und ständig eben immer in Deutschland stattfinden. Und man kann es auch anders sagen, seit 1980 leben wir in so einer Phase, wo sich so eine sogenannte Superblase aufpumpt, wie das der Hedgefonds-Manager George Soros genannt hat. Blase klingt ja so ein bisschen abstrakt, also, was damit gemeint ist, ist, dass die Vermögenswerte, also das Geldvermögen und auch die Schulden überhaupt nicht mehr zur Wirtschaftsleistung passen. Da ist ein riesiger Berg, der sich aufgebaut hat, und jetzt ist natürlich die Frage, wie man eigentlich verhindern kann, dass das lawinenartig in sich zusammenstürzt.
Watty: Das heißt aber, könnte man als Überschrift nennen, wir befinden uns weiterhin aufgrund dieser drei Krisen in einer Art der Superkrise, die auch noch nicht bewältigt ist?
Herrmann: Ja, genau. Ich meine, was man auch bei der Euro-Krise verstehen muss, ist, das ist gar nicht eine Krise. Es wird ja immer gesagt "die Euro-Krise", sondern in Wirklichkeit sind es viele verschiedene Krisen, die sich so überlagern. Also, ohne da jetzt in die Details zu gehen, aber vielleicht so ein bisschen Überblick, es ist völlig klar, dass Griechenland, Irland, Spanien, Portugal und wahrscheinlich auch Slowenien überschuldet sind. Die haben einfach zuviel Geld aufgenommen im Ausland und damit letztlich Immobilienblasen finanziert. Dann gibt es eine zweite Krise, davon ist vor allen Dingen Italien betroffen, das ist, dass die EZB nicht wie eine normale Notenbank funktioniert, zum Beispiel keine Staatsanleihen aufkaufen kann. Dann gibt es eine dritte Krise, das ist so eine Art Wettbewerbskrise, die meisten anderen Euro-Länder können nicht mehr gegen Deutschland konkurrieren. Das hat damit zu tun, dass Deutschland systematisch seine Löhne gesenkt hat und jetzt sogar Frankreich aus dem Euro drängt. Total gefährlich!
Und die vierte Krise, könnte man sagen, ist eine Managementkrise, jetzt läuft die Euro-Krise schon drei Jahre und es sind wahnsinnig viele Fehler gemacht worden. Zum Beispiel eben, dass immer überall gespart wird. Denn das ist ja ganz klar, die Nachfrage bricht zusammen und das sieht man ja auch. Also, dass die Krise letztendlich auch Deutschland erreicht, durch solche Phänomene, die alle Sparer natürlich total empören, nämlich dass es praktisch keine Zinsen mehr gibt auf die Konten und die Sparer sich enteignet fühlen. Und das ist auch ein Krisenzeichen, denn Zinsen müssen ja aus dem erwirtschaftet werden, was die Wirtschaft jedes Jahr produziert. Und wenn praktisch ganz Europa in der Rezession ist, kann es keine Zinsen geben. Das heißt, dieses Gefühl der Deutschen, ja, überall ist Krise, aber bei uns ist es doch irgendwie ganz hübsch, das täuscht total.
"Jede einzelne Krise gab es schon einmal"
Watty: Die machen Sie sofort zunichte! Ulrike Herrmann im Gespräch im "Radiofeuilleton" über den Kapitalismus und seine Krisen. Wenn ich Sie richtig verstehe und vor allem auch Ihr Buch richtig verstehe, dann ist es ja so, dass jetzt das Neue ist, dass all diese Krisen zusammentreffen, wie Sie es auch gerade geschildert haben. Aber Sie konstatieren auch, dass all diese Krisen wiederum auch schon mal irgendwie in ihren Einzelteilen bestanden haben, nur dass keiner was daraus gelernt hat. Und das ist doch wirklich extrem frustrierend. Es ist nämlich dann das Einzelne wieder nicht neu.
Herrmann: Nein, das stimmt. Also, jede einzelne Krise gab es schon mal. Und das lässt sich zum Beispiel auch sehr gut zeigen – was ich besonders frustrierend finde – an der Finanzkrise in den USA, die ab 2007 so richtig losging. Da wurde dann ja hier immer so getan, ja, völlig neue Krise, das konnte ja keiner wissen, das waren dann die sogenannten Verbriefungen, also, da hatte man Hypotheken sozusagen gebündelt und in andere Anleihen dann verschachtelt und es wurde immer so getan, das konnte doch keiner wissen, dass diese Verbriefungen so gefährlich sind.
Und das ist eben völliger Unsinn, weil, in den USA hat es 1987 schon mal eine schwere Sparkassenkrise gegeben, und was hatte man da gemacht: Das war genau der gleiche Unsinn, verbriefte Hypotheken hatten da Hunderte von Milliarden an Schaden hinterlassen. Aber das weiß hier aber niemand. Bei jeder Krise wird wieder so getan, als sei alles völlig neu, dabei war der Witz eigentlich an der Finanzkrise 2008, dass da zum Teil noch das gleiche Personal unterwegs war an der Wall Street, das auch schon die Sparkassenkrise 1987 ausgelöst hatte. Und da fragt man sich dann wirklich, wie das eigentlich sein kann, dass Gesellschaften nicht lernen.
Watty: Ja, Sie schreiben auch, alles auf die vermeintliche Gier zu schieben oder auf mafiöse Banken-, Managerstrukturen, sei falsch. Der Grund für solche Krisen seien schlicht auch Fehlentscheidungen, auch eben immer wieder im Laufe der Zeit. Und auch auf das bezogen, was Sie gerade gesagt haben, heißt das: Alle sind – salopp gesagt – zu doof für ihr eigenes System? Also, wie kann es denn sein, dass es immer wieder passiert?
Herrmann: Man muss natürlich sagen – deswegen habe ich das Buch auch geschrieben –, dass selbst Kapitalisten, also Unternehmer meistens nicht verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert. Also zum Beispiel, ein ganz großer Irrtum ist ja, dass alle denken, sie würden hier in der Marktwirtschaft leben. Aber das ist völliger Unsinn. Marktwirtschaft wäre ja freier Wettbewerb. Das gibt es hier nicht. Es gibt Großkonzerne, die hier regieren, in enger Abstimmung mit dem Staat. Das ist sehr wichtig, das zu verstehen, wenn man einmal verstanden hat, dass der Kapitalismus sowieso nichts mit freien Märkten zu tun hat, dann ist es auch leichter zu verstehen, dass man auf gar keinen Fall die Finanzmärkte deregulieren sollte. Sondern dass man ganz im Gegenteil, die Banken brauchen extrem strenge Regeln. Und wenn man das eben nicht macht, dann geht das jedes Mal wieder schief, wie man ja nun an drei Krisen auch sehen kann.
Watty: Was machen wir denn jetzt eigentlich mit all diesen Erkenntnissen? Also, wenn dann doch mehr und mehr durchdrungen werden würde, wie diese Krisen entstanden sind, kann man dem denn irgendwie vorbeugen oder die verhindern? Oder gucken wir einfach noch mal, wenn wir es könnten, in hundert Jahren zurück und zählen die nächsten zwölf Krisen auf, die wir dann nicht mehr überstehen würden?
"Derivate haben ein Volumen jenseits von Gut und Böse"
Herrmann: Ja, man muss an zwei Sachen, an zwei Punkten ansetzen. Die Leute haben oft das Gefühl, oh Gott, jetzt so viele Krisen, man verliert hier den Überblick und was ist hier eigentlich noch wichtig? Und also, das eine, das wirklich wichtig wäre, wäre eine vernünftige Bankenregulierung, und da muss man jetzt gar nicht in die Details gehen, eigentlich braucht man nur zwei Sachen, die wirklich wichtig sind. Das eine ist, das Eigenkapital der Banken muss hochgesetzt werden. Also, Eigenkapital sind die Aktien und die einbehaltenen Gewinne. Denn dann hätten die Banken eben genug Puffer, um Verluste abzufedern. Im Augenblick ist das so, die Deutsche Bank zum Beispiel hat ein Eigenkapital von 2,5 Prozent zur Bilanzsumme. Das ist einfach nichts. Da muss nur eine kleine Krise kommen, schon ist die Bank pleite. Das geht überhaupt nicht.
Das Zweite, was man bei der Bankenregulierung machen müsste, wäre, dass man die Derivate sehr stark einschränkt. Also Derivate sind letztlich Finanzwetten. Und die haben im Augenblick ein Volumen von 632 Billionen Dollar, also jenseits von Gut und Böse, also, mit der Wirtschaftsleistung überhaupt hat das alles überhaupt nichts mehr zu tun. Und da müsste man einfach sagen, jedes Derivat geht über die Börse. Dann müssen die standarisiert werden, dann wären fast alle Derivate tot. Im Augenblick können die Banken da einfach irgendwelche Derivate erfinden und dann untereinander handeln, das muss man einfach abbiegen.
Und der andere große Bereich, wo man tätig werden müsste, ist – das muss einem ganz klar sein –, wenn man jetzt diese Vermögensblase davon abhalten will, irgendwie einzustürzen, muss die Wirtschaftsleistung wachsen. Das heißt, man muss alles tun, um das Wachstum zu fördern. Deswegen ist es auch so absolut gefährlich, dass man das Wachstum in Europa abwürgt dadurch, dass man überall sagt, der Staat muss sparen, die Löhne müssen runter und so weiter. Weil dadurch, dass man dann die Wirtschaftsleistung an der Basis abwürgt, ist ja völlig klar, dass oben dieser ganze Finanzberg einstürzt. Und das wäre natürlich besonders fatal für Deutschland, weil hier ist das Finanzvermögen zu ganz großen Teilen.
Watty: Wenn alle diese Ratschläge jetzt nicht eingehalten werden würden – wollen wir ja nicht hoffen, aber trotzdem –, wenn noch einmal eine solche Blase platzen würde in der Zukunft, ganz kurze Antwort: Ist der Kapitalismus dann am Ende?
Hermann: Nein. Der Kapitalismus geht nicht an seinen Finanzkrisen zugrunde, aber die Demokratie. Die politischen Folgen sind extrem gefährlich. Ich meine, das können Sie ja in Südeuropa sehen, die meisten Länder sind nicht mehr regierbar.
Watty: Danke schön an Ulrike Herrmann, Journalistin und Autorin. Ihr neues Buch heißt "Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam. Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen". Ich bedanke mich für das Gespräch, schön, dass Sie heute bei uns waren.
Herrmann: Ja, vielen Dank, dass ich hier sein durfte.
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