Kanzler auf Abruf

Von Godehard Weyerer · 07.11.2011
Konrad Adenauers letzte Amtszeit begann am 7. November 1961 und stand unter keinem guten Zeichen. Zwar holte er zum ersten Mal eine Frau ins Kabinett, doch die restaurativen Gründerjahre, die er wie kein zweiter verkörperte, büßten mehr und mehr an Charme ein.
"Nach dem Grundgesetz, Artikel 63, Absatz 2, ist als Bundeskanzler gewählt, wer die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt."

7. November 1961, 17 Uhr: Bundestagspräsident Eugen Gerstenmeier eröffnet die Wahlsitzung des Parlaments. Eine Stunde später steht das Ergebnis fest.

"Ich stelle fest, dass damit Herr Dr. Konrad Adenauer zum Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt ist."

258 Abgeordnete haben für Konrad Adenauer gestimmt – acht mehr als erforderlich, berichtet der Kommentator aus dem Bundeshaus Bonn.

"Mit dem Ende der heutigen Bundestagssitzung ist die Regierungsbildung noch nicht abgeschlossen. Noch immer konnten sich CDU/CSU und FDP nicht endgültig über die Zusammensetzung der nächsten Bundesregierung einigen. Mit der heutigen knappen Wiederwahl Dr. Adenauers zum Bundeskanzler ist jedoch die größte Hürde auf dem Weg zur vierten Bundesregierung genommen."

Sechs Wochen zuvor, bei der Bundestagswahl am 17. September 1961, hatten CDU/CSU die absolute Mehrheit verloren, SPD und FDP waren die Gewinner der Wahl. Mit 12,8 Prozent schnitten die Liberalen ähnlich gut ab wie 2009 – vor allem wohl, bekräftigt der Marburger Historiker Eckart Conze, weil sich die Freidemokraten klar gegen eine weitere Kanzlerschaft Adenauers ausgesprochen hatten.

"Das ist das Hauptargument, damit führt die FDP, im Übrigen auch die SPD, ihren Wahlkampf und kann tatsächlich massiv punkten, 12,8 Prozent, ein starker Stimmenzuwachs, fast eine Verdoppelung des Stimmenanteils. Und mit entsprechend gewachsenem Selbstbewusstsein geht nun diese FDP unter dem Vorsitzenden Erich Mende in die Koalitionsverhandlungen mit dem eindeutigen Ziel, die Kanzlerschaft Adenauers zu beenden, eine Koalition durchaus einzugehen mit den Unionsparteien, aber eben ohne den Alten, ohne Adenauer an der Spitze der Regierung."

Kommentator: "Am Morgen nach der Bundestagswahl erklärt Dr. Adenauer, er beabsichtige nicht, das Feld kampflos zu räumen. Die in einer Pressekonferenz an ihn gerichtete Frage nach der Koalition mit der FDP, beantwortete er:"

Adenauer: ""Aus leicht erklärlichen Gründen bin ich nicht dafür, dass meine Partei nun allein eine Regierung trägt, denn dann knüpfen sich an ihren Namen die enttäuschten Hoffnungen allein, meine Damen und Herren. Und Enttäuschungen sind ja unausweichlich in einer so bewegten Zeit wie der unsrigen. Und deswegen ist es sehr viel besser, wenn man die Enttäuschungen mit anderen teilt."

Konrad Adenauer quittierte die Niederlage mit trockenem Humor. Eine Große Koalition lag in der Luft. Die Verhandlungen zwischen den Unionsparteien und der SPD waren aus der Sicht Eckart Conzes jedoch mehr von taktischem Wert. Die FDP, die sich vor der Bundestagswahl auf Ludwig Erhards Kanzlerkandidatur festgelegt hatte, lenkte schließlich ein.

"Das ist tatsächlich der Punkt, die FDP fällt um, und derjenige, der im Grunde es vermag, die FPD in ein Koalitionsboot mit der Union unter einem Kanzler Adenauer zu holen, ist kein anderer als Adenauer selbst, wenn auch nur für eine begrenzte Zeit, denn er muss zusagen, und das ist die Bedingung der FDP für den Regierungseintritt, er muss zusagen, im Laufe der Legislaturperiode von seinem Amt als Bundeskanzler zurückzutreten."

"Und es hat nicht an prominenten Stimmen gefehlt, die den Koalitionsvertrag mit seiner befristeten Kanzlerschaft verfassungsrechtlich bedenklich nannten. Unter ihnen die Professoren Theodor Eschenburg und Rolf Sternberger. Auf diese Frage in einem Fernsehinterview angesprochen, erwidert der Kanzler: ‚Ich würde sagen, das ist dumm.’"

So dumm war der verfassungsrechtliche Einwand der Professoren in der Tat nicht, das wusste wohl auch der Kanzler. Selbst auf einen festen Rücktrittstermin wollte er sich nicht festlegen. Es wurde dann der 15. Oktober 1963 – nach Kubakrise und Spiegelaffäre räumte der 87-jährige Adenauer nach 14 Regierungsjahren das Kanzleramt. Die befristete Kanzlerschaft, auf die er sich zwei Jahre zuvor hatte einlassen müssen, markierte den Beginn eines unrühmlichen Endes, resümiert der Eckart Conze.

"Er ist ein Kanzler auf Zeit, ein Kanzler auf Abruf, ein geschwächter Bundeskanzler. Und das ist die Situation, in der diese vierte Legislaturperiode beginnt."