Kanadas wertvollstes Dorf

Von Thomas Schmidt · 22.08.2012
Red Lake im Norden der kanadischen Provinz Ontario ist eigentlich ein verschlafenes Kaff mit einem Museum und zwei Parkanlagen. Aber in der Erde lagern die reichsten Goldvorkommen der Welt. Die Grabungen haben Red Lake verändert - aber nicht reich gemacht.
Red Lake ist nicht Rom, von dem das Sprichwort behauptet, dass dort alle Wege hinführen: Wer die kleine Gemeinde im Norden der kanadischen Provinz Ontario besuchen will, dem bleiben nur der Trans-Canada-Highway oder die enge Kabine eines Propellerflugzeuges. Aber fliegen ist teuer, und deshalb nehmen viele den langen Ritt im Auto in kauf: Fast acht Stunden braucht man für die Fahrt aus Winnipeg, der nächsten größeren Stadt in der Nachbarprovinz Manitoba. Am Ziel grüßt schließlich ein verschlafenes Idyll: Eine Kreuzung, eine Verkehrsampel, eine Tankstelle, ein malerischer See umgeben von endlosen Wäldern:

"Vor ein paar Jahren, als es uns noch nicht so gut ging, hätte man eine Kanone abfeuern können und nicht mal einen Hund in den Hintern getroffen."

Phil Vinet ist Bürgermeister in Red Lake, ein Mittsechziger mit kantiger Hornbrille und trockenem Humor. Seit Jahren wird er immer wieder gewählt, als Unabhängiger ohne Parteienbindung, die Bürger vertrauen ihm als Mensch, nicht als Vertreter des politischen Systems. Er ist hier aufgewachsen, jeder kennt ihn, die meisten seiner Gemeindemitglieder begrüßt er mit dem Vornamen. Wenn er von der Zeit spricht, in der es Red Lake noch nicht so gut ging, dann meint er jene Jahre, in denen Gold etwas für Träumer und Abenteurer war, über die man sich noch heute in dem kleinen Heimatmuseum von Red Lake romantische Geschichten per Videofilm erzählen lassen kann.

Weihnachten 1926 ist das historische Datum, an dem der erste Goldklumpen in Red Lake entdeckt wurde. Was folgte, war der erste Boom: Der See, der dem Dorf hinter den Wäldern seinen Namen gegeben hatte, wurde innerhalb eines Jahrzehnts zur Start- und Landebahn für die Wasserflugzeuge internationaler Geschäftemacher, er galt 1936 als der verkehrsreichste Flughafen der Welt. Doch der Rausch des ersten Goldes verflog wieder, und obwohl eine Reihe von Minen weiter in Betrieb blieb, fiel Red Lake zurück in einen Dornröschenschlaf in der Einsamkeit des kanadischen Nordens. Der Schlummer endete 1995, als die Bergbaugesellschaft Goldcorp aus Vancouver in Red Lake eine für Prospektoren sensationelle Entdeckung machte: Tief unten im Fels ruhen die reichsten Goldvorkommen der Erde, mit einer Konzentration von 2 Feinunzen per Tonne Gestein gilt Red Lake heute als Goldhauptstadt der Welt. Wer dieses moderne El Dorado besuchen will, muss sich allerdings erneut auf die Reise machen. Es ist ein kurzer Trip, nur knapp 2 Kilometer - allerdings senkrecht nach unten.

Über drei Minuten dauert die Fahrt im Förderkorb, dicht an dicht, Bauch an Rücken stehen die Kumpel, eingepfercht in eine Kabine nicht viel größer als ein Wandschrank.

Durch das offenen Gitter sieht man den feuchten Fels vorbei gleiten, die Grubenleuchten an den Schutzhelmen verbreiten Schummerlicht. Wenn der Korb endlich abbremst und sich das Gitter an der 1800-Meter-Marke öffnet, tritt man in einen hallenhohen Tunnel voller schwülwarmer Luft und ohrenbetäubendem Lärm.

Aus flexiblen Rohren an der Tunneldecke mit einem Durchmesser, durch den man leicht einen Kinderwagen schieben könnte, strömt kühlende Frischluft in die Stollen, ein zweiten Rohrsystem saugt nicht nur Abluft, sondern auch Diesel-Abgase ab, denn in dem weitverzweigten Netzwerk unter Tage herrscht dichter Lasterverkehr - ein Betrieb, wie ihn die kleine Ampelkreuzung oben in Red Lake wohl nie bewältigen muss.

Radlader in spezieller Flachbauweise für den Untertage-Betrieb, die ohne Mühe bis zu zwei Tonnen Erz auf die Schaufel nehmen können, rollen ebenso durch die Tunnel wie geländegängige Viersitzer für den Personenverkehr, mit denen die Kumpel vom Förderkorb an ihren Arbeitsplatz vor Ort gebracht werden. Der Weg dorthin wird immer länger, denn die Suche nach dem glitzernden Golderz hat in der Tiefe eine weitverzweigte Infrastruktur wachsen lassen, die die Dimensionen des Ortskerns von Red Lake längst weit überflügelt hat:

"Wir stoßen jetzt in Regionen vor, die vor Jahren aufgegeben wurden, aber mit dem hohen Goldpreis macht es jetzt wieder Sinn, auch hier nach Gold zu suchen."

David ist Vorarbeiter hier unten, ein Mann mit einem inneren Navigationssystem, das ihn zielsicher durch das anscheinend planlose Stollengewirr in der nachtschwarzen Unterwelt leitet. Der Weg führt vorbei an Werkhallen, die man für die Wartung der Grubenfahrzeuge in den Fels gesprengt hat, an Pumpstationen, die die Stollen trocken halten, an Messapparaturen, mit denen die Luftqualität überprüft wird und an Sanitätsräumen für Erste-Hilfe-Fälle. Gold - oder das Erz, aus dem es später gewonnen wird - sieht man allerdings erst, wenn man an die vorderste Front des Minenbetriebs kommt, da, wo aktiv geschürft wird:

Mit einem Bohrautomaten treibt Ralf tiefe Löcher ins Gestein, sechs Meißel fressen sich gleichzeitig knapp zwei Meter in den Berg, hier werden später die Sprengladungen eingebracht. Ralph hat den 50sten Geburtstag grad hinter sich, er ist einer der Veteranen hier unten: Fast sein ganzes Berufsleben hat er mit der Suche nach Gold verbracht und dabei miterlebt, wie technischer Fortschritt und verfeinerte Methoden der Geologie geholfen haben, groß ins Geschäft zu kommen:

"Früher, als ich hier angefangen habe, haben wir eine Tonne Erz abgebaut und da eine Viertelunze Gold rausgeholt. Heute haben wir manchmal mehrere hundert Unzen pro Tonne. Ich glaube, unter 5 Unzen fangen wir gar nicht mehr an, alles über 5 Unzen ist gut."

Fünf Unzen, ein bisschen mehr als 150 Gramm, soviel wie anderthalb Tafeln Schokolade. 999.850 Gramm, in Knochenarbeit dem Berg abgerungen und aus dem fast zwei Kilometer tiefen Schacht geholt, sind nichts als wertloser Abfall. Eine irrwitzige Gleichung, und doch geht sie auf, wenn man sich den aktuellen Goldpreis ansieht: Die 5 Unzen haben einen Gegenwert von knapp 8.000 Dollar. Goldcorp, die Bergbaugesellschaft, für die Ralph hier unten arbeitet, betreibt gegenwärtig fünf Minen in Red Lake. Zusammen wurden hier im letzten Jahr 740.000 Unzen Gold gefördert, umgerechnet etwas über 23 Tonnen - es ist mehr als das zehnfache der Goldreserven des Großherzogtums Luxemburg. Und der Aufwand lohnt sich immer mehr: In den letzten zehn Jahren hat sich der Goldpreis verfünffacht und damit auch die Ausbeutung bislang unwirtschaftlicher Vorkommen hoch profitabel gemacht:

Es ist gut wenn der Preis nach oben geht, das bedeutet, mehr Minen werden aufgemacht und damit gibt es mehr Arbeitsplätze für alle, meint Goldcorp-Veteran Ralf. Jobs - das große Thema der Gegenwart. In Red Lake gibt es sie, und wer die harte Arbeit unter Tage nicht scheut und qualifiziert ist oder sich qualifizieren möchte, der findet hier nicht nur Beschäftigung, sondern auch beste Bezahlung. Der Bedarf ist weit größer, als dass er aus den Reihen der knapp viereinhalbtausend Einwohner von Red Lake zu decken wäre. Arbeitskräfte kommen von außerhalb, aus anderen Regionen Kanadas, sogar aus dem Ausland. Man könnte eine neue Multikulti-Gesellschaft erwarten, aber oben, im alltäglichen Tageslicht der Gemeinde, ist davon kaum etwas zu spüren:

Phil Vinet: "Früher zogen Mutter und Vater, zwei oder drei Kinder, die Katze und der Hund nach Red Lake, aber heute müssen die Minen hauptsächlich mit Pendlern auskommen."

Aber - das weiß auch Bürgermeister Vinet - diese mangelnde Sesshaftigkeit ist nicht nur in wachsender Mobilität und fortschreitender Globalisierung begründet: Red Lake hat ein eklatantes Immobilienproblem.

Wir mussten uns ein ganzes Haus mieten, Zimmer gibt es hier nicht, sagt dieser Schreiner, seine Firma zieht ein paar Neubauten hoch in Red Lake, denn Wohnraum ist knapp. Das Problem scheint absurd: Käufer oder Mieter wären da und Platz für hochwertiges Wohnen in attraktiver Grünlage gibt es genug - allerdings nur auf den ersten Blick:

"Grund und Boden sind hier größtenteils von den Minengesellschaften geschluckt worden, ihnen gehört das Land seit vielen Jahren. Aber wir verhandeln gerade mit den Unternehmen über den Ankauf von Grundstücken für Wohnraum, Industrieansiedlungen und andere kommerzielle Aktivitäten."

Bis diese Projekte stehen, mag noch manche Tonne Gold in Red Lake gefördert werden - von Bergleuten, die man hier Fly-in-fly-out-People nennt - sie werden für ein paar Monate eingeflogen, danach fliegen sie wieder für ein paar Wochen weg. Viele kommen von der kanadischen Ostküste, aus Labrador und Neufundland, aus Nova Scotia, oft ehemalige Fischer, deren Familien daran gewöhnt sind, dass der Ehemann oder Vater wochenlang auf See ist und nur sporadisch zuhause. Die Kosten für die Tickets trägt die Minengesellschaft, und auch Unterkunft und Verpflegung in firmeneigenen Wohnheimen gibt es zum Nulltarif.

Das macht auch weite Anreisen attraktiv - Fachkräfte kommen heute auch aus Chile, Mexico, Peru, Kolumbien oder - wie im Fall von Nicolai - aus Bulgarien. Er ist Geologe, hat schon in seiner Heimatstadt Sofia für eine kanadische Bergbaufirma gearbeitet. Jetzt lebt er in einer adretten 3-Zimmer-Wohnung in Red Lake, die ihm die Minengesellschaft besorgt hat, seine Frau lernt fleißig Englisch, sie ist Bergbau-Ingenieurin und will sich - wenn der Sprachtest klappt - auch bei Goldcorp bewerben. Noch sind beide mit Arbeitsvisa in Kanada, aber Nicolai möchte möglichst schnell eine Dauer-Aufenthaltserlaubnis und danach dann die kanadische Staatsbürgerschaft erwerben. Warum soll er auch zurück - eigentlich sei hier alles so wie in Bulgarien, bis auf einen kleinen, aber nicht unerheblichen Unterschied.

Er mache hier den gleichen Job, erzählt Nicolai, nur - die Bezahlung sei ein bisschen anders - sie sei viel besser als in Bulgarien. Das Gold in der Tiefe sorgt für Geld auf der Straße. Ken, der Taxifahrer, der nun seit Jahren schon Fly-in-Fly-out-Leute durch Red Lake kutschiert, hat dabei seine ganz eigenen Beobachtungen gemacht.

Viel Geld ist hier im Ort unterwegs, die Leute haben viele Spielzeuge, jeder fährt hier jetzt große neue Geländewagen, erzählt Ken. Das kleine Rollfeld von Red Lake hat ein neues Flughafengebäude bekommen, ein Hotel ist im Bau, und kürzlich ist auch Tim Hortons nach Red Lake gekommen, ein Kaffeehaus-Imbiss aus Kanadas größter Fast Food Kette, für die Menschen in den Tiefen der Provinz ein Symbol gehobener Zivilisation. An vielen Häusern wird gebaut, Fassaden werden renoviert. Manchen Leute geht es richtig gut, das sieht auch Bürgermeister Phil Vinet, aber er warnt vor falschen Schlussfolgerungen:

" Eine der Segnungen der Goldminen ist zweifellos die gute Bezahlung. Aber wenn Du viel Geld in der Tasche hast, dann kannst Du es Dir erlauben, Deine Einkäufe auch sonst wo zu erledigen."


Und das Angebot in Red Lake kann längst nicht alle Konsumwünsche erfüllen, deshalb wird das Geld eher in den glitzernden Einkaufsstraßen von Winnipeg ausgegeben - wer sich das leisten kann, den schrecken auch die 1100 Dollar nicht, die man für das Rückflug-Ticket in die Hauptstadt von Manitoba hinblättern muss. Vinet will etwas tun gegen diesen Trend, und das Wohnungsbauprojekt, das er gemeinsam mit der Minengesellschaft vorantreibt, soll ein erster Schritt sein - zwei Dutzend Einfamilien- und Reihenhäuser mit je drei Schlafzimmern in gehobener Ausstattung. Wenn sie bezugsfertig sind, hofft der Bürgermeister, dass künftig mehr Minenarbeiter in seiner Gemeinde nicht nur eine Durchgangsstation, sondern eine neue Heimat sehen:

"Wir brauchen Familien, die hierher ziehen und für neues Leben in unseren Schulen, Kirchen und Geschäften sorgen und die sich aktiv an unserem Gemeindeleben engagieren."

Red Lake habe viel zu bieten, sagt Vinet, eine bessere Lebensqualität als vergleichbare Gemeinden: Kaum Kriminalität, eine gute Krankenversorgung in einem eigenen Gesundheitszentrum, eine eindrucksvolle Landschaft und - trotz des Hochbetriebs in den Goldminen - noch immer eine intakte Natur. Und die Gewissheit, dass so schnell kein Konjunktureinbruch droht: Angesichts der anhaltenden Welt-Finanzkrise gibt es keine Anzeichen für ein Ende der Flucht in eine Wertanlage, die sich seit Jahrtausenden als die sicherste erwiesen hat. Das Geschäft wird weiter boomen, aber - sagt Bürgermeister Phil Vinet - Red Lake wird dabei wohl auch weiterhin eher ein Zaungast bleibt:

"Es gibt einen Goldrausch, da dürfen wir uns nichts vormachen: von einem Unzenpreis von 1600, 1700 Dollar geht eine Menge Energie aus, aber ein Goldpreisboom bedeutet noch lange keinen Boom in Red Lake."

Der Traum vom schnellen Reichtum im Norden Kanadas bleibt auf die Unterwelt mit ihren Tunnels, Stollen und Schächten beschränkt: Geld scheffeln nur die Unternehmen und, ohne großen eigenen Aufwand, die Regionalregierung in Toronto: Die stattlichen Steuerbeträge, die der Minenbetrieb abwirft, fließen nämlich nicht etwa in die Kommune, sondern in die Kassen der Provinz Ontario. Red Lake hat sich verändert: Ein neues Flughafengebäude, ein erstes Hotel, ein Kaffeehaus-Imbiss - der Ort ist ein bisschen ansehnlicher geworden durch den Goldrausch - ein modernes El Dorado ist er nicht.
Mehr zum Thema