Kampfschrift gegen falsch verstandene Toleranz

16.09.2008
Mit polemischer Verve schreibt Henryk M. Broder gegen eine falsch verstandene Toleranz an, die seiner Meinung nach nur aus Bequemlichkeit resultiert oder Angst verdecken soll. Er listet mannigfache Beispiele auf, wo unter dem Deckmäntelchen der Toleranz Regelverstöße, Gewalt und Respektlosigkeiten einfach hingenommen werden. Intoleranz gilt ihm daher als Gebot der Stunde.
Unter den Gelehrten im Europa des 18. Jahrhunderts wurde viel über Toleranz philosophiert. Vorausgegangen waren verheerende Religionskriege. Man wollte im Zeitalter von Rationalismus und Aufklärung einen Weg finden, trotz unterschiedlichen Glaubens friedlich miteinander zu leben. Damals, darauf weist der Publizist und Autor Henryk M. Broder hin, waren die Gesellschaften vertikal organisiert. Es gab bindende Hierarchien, Herrschafts- und Machtverhältnisse waren eindeutig. Heute, in multipluralistischen, demokratischen Gesellschaften, ist das anders. Welche Bedeutung der praktizierten Toleranz unserer Tage zukommt, erläutert Broder in seinem neuen Buch "Kritik der reinen Toleranz".

Wer glaubt, der Autor bemühe sich um eine philosophische Unterscheidung des Begriffs - wie es der Titel in Anspielung auf Kant vermuten ließe - sieht sich getäuscht. Sein Interesse gilt dem Alltag. Dort findet Broder seine Beispiele. Er folgert:

"Wir erleben, wie eine liberale Gesellschaft mit ihren eigenen Waffen geschlagen wird, an ihrer eigenen Toleranz zugrunde geht."

Unter Kapitelüberschriften "Toleranz ist der Wille zur Ohnmacht" oder "Toleranz ist die Fortsetzung der Ratlosigkeit mit anderen Mitteln", versammelt Broder mannigfach Belege eines epidemisch anmutenden Willens von Behörden, Politikern und multikulturell sozialisierten Bürgern, Regelverstöße, Respektlosigkeiten, Intoleranz und Gewalt unter dem großzügig ausgebreiteten Deckmäntelchen jener Tugend hinzunehmen oder gar zu sanktionieren, die dereinst den Schwachen vor dem Starken schützen sollte. Heute, so Broder, seien die Machtverhältnisse keineswegs mehr eindeutig und unser Toleranzverhalten, insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Islam, schlicht fahrlässig.

"Der Westen ist kulturell in der Defensive, was ihm an Tatkraft fehlt, macht er durch Toleranz wett."

Auf über 200 Seiten führt Broder - scharfsinnig, ironisch, polemisch - eine Gesellschaft vor, die Widersprüche - aus Angst oder Bequemlichkeit - nicht zur Kenntnis nimmt. Er attackiert ein "politisch korrektes" Milieu, das eher Sorge für die Zukunft von Gewalttätern als für die Würde der Opfer trägt. In weiten Passagen geht es dabei um die Relativierung zivilisatorischer Unterschiede - die man als "Respekt vor einer andersartigen Kultur" ausgibt.

Man mag einwenden, jeder reaktionäre Spießer könne ähnliche Beispiele wie Henryk M. Broder vorbringen. Das spricht nicht gegen sie. Der Autor hält einem falsch verstandenen Toleranzbegriff den gesunden Menschenverstand entgegen. Wie verblödet sind wir eigentlich, zu "tolerieren", dass eine englische Lehrerin im Sudan zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, weil sie zulässt, dass siebenjährige Schüler ihren Teddy "Mohammed" nennen?

Broder protokolliert minutiös "den langsamen aber unaufhaltsamen Abstieg in den Toleranzwahn". Und fragt nach, "wie viel Toleranz sich eine Gesellschaft leisten kann, ohne einen Bankrott zu riskieren oder der Lächerlichkeit anheim zu fallen."

Antworten gibt er nicht. Doch sein Befund fällt am Ende eindeutig aus:

"Ich halte Toleranz für keine Tugend, sondern für eine Schwäche - und Intoleranz für ein Gebot der Stunde."

Der Autor begründet seinen Standpunkt überzeugend. Sich ihn zu eigen zu machen, fällt nach Lektüre des Buches nicht mehr schwer.

Rezensiert von Carsten Hueck

Henryk M. Broder: Kritik der reinen Toleranz
Wolf Jobst Siedler jr. (wjs) Verlag, Berlin 2008
214 Seiten, 18,00 EUR
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