Kampf um die Nulllinie

03.09.2010
Heutzutage ist es einfach, seinen Weg zu finden - dank Google Maps und Navigationsgeräten. Doch das war nicht immer so. Im späten 17. Jahrhundert begann die Vermessung der Welt mit einfachsten Methoden.
Google Maps und Navigationsgeräte – nie war es so einfach, seinen Weg zu finden. Selbst Landkarten und Atlanten wirken antiquiert; und heute erinnert sich kaum noch jemand an die Wissenschaftler, die mit simplen, selbst entwickelten Gerätschaften, ausgeklügelten Berechnungen und viel persönlichem Mut die Vermessung der Welt begannen. Paul Murdin, Professor für Astronomie in Cambridge, England, und Autor zahlreicher auch populärwissenschaftlicher Bücher ist fasziniert von diesen Menschen und ihrer Arbeit.

Die Vermessung der Welt begann im späten 17. Jahrhundert. Man brauchte damals genaue Karten, da Steuern oft aufgrund von Landbesitz erhoben wurden und der internationale Warenaustausch per Schiff immer mehr wuchs. Jeder Punkt der Erde kann durch zwei Koordinaten genau beschrieben werden – nämlich durch die geographische Breite und die geographische Länge. Die geographische Breite lässt sich leicht ermitteln. Als Nulllinie gilt der Äquator, wo die Sonne mittags lotrecht steht, und aus dem höchsten Sonnenstand an einem Ort lässt sich leicht dessen geographische Breite ablesen.

Für die geographische Länge gibt es aber keine natürliche Nulllinie. Prinzipiell lassen sich Null-Meridiane – Linien, die in strenger Nord-Süd-Richtung verlaufen und beide Pole verbinden – überall anlegen. Der erste Meridian wurde 1668 durch Paris gelegt, und von ihm ausgehend wurde ganz Frankreich vermessen. Das Ergebnis war überraschend: Frankreich ist wesentlich kleiner als vermutet, so liegt Brest 140 Kilometer näher an Paris.

Murdin beschreibt die Arbeit der Geometer. Er schildert wie französische Wissenschaftler in Lappland und in Ecuador Messungen durchführten, um die reale Gestalt der Erde zu erfahren – abgeflacht an den Polen oder am Äquator –, wie sie körperliche Strapazen erduldeten, wie sie ihre Arbeit auch in den Wirren der Französischen Revolution weiterführten. Er berichtet, dass der französische Nationalkonvent 1793 den Meter als Standard-Längenmaß definierte, und erzählt, wie 1884 auf einer internationalen Konferenz in Washington der Nullmeridian festgelegt wurde. Mehrere Wochen wurde verhandelt, die Franzosen wollten ihren Pariser, die Engländer ihren Greenwich Meridian als Nulllinie.

Brasilien schlug vor, einen Meridian zu vermessen, der durch die Cheops Pyramide, den Tempelberg in Jerusalem oder die Beringstraße verlaufen sollte, dann erklärte Spanien, es würde für Greenwich stimmen, wenn die USA und Großbritannien das metrische System übernähmen. Schließlich wurde die Linie durch Greenwich als Nullmeridian und Zeitmaß festgelegt. Wirtschaftliche Gründe waren am Ende ausschlaggebend: England war die größte Handelsmacht der Welt, auf den meisten Schifffahrtskarten führte der Nullmeridian durch Greenwich, und in den USA hatten sich die transkontinentalen Eisenbahnlinien schon auf ein Zeitsystem geeinigt, das Greenwich als Maß annahm.

Murdins beschreibt das alles mit trockenem Humor, erklärt mit leichter Hand naturwissenschaftliche Fakten und messtechnische Verfahren, mit viel Liebe zu seinem Gegenstand und bisweilen etwas zuviel Liebe zum Detail.

Besprochen von Günther Wessel

Paul Murdin: Die Kartenmacher. Der Wettstreit um die Vermessung der Welt
Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg
Artemis & Winkler, Mannheim 2010
300 Seiten, 19,95 Euro
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