Kampf gegen die Verödung der Dörfer

Claudia Neu im Gespräch mit Katrin Heise · 09.06.2010
Leerstand, sinkende Geburtenraten, Wegzug junger Leute: Die Entvölkerung ganzer Regionen wird zum gesamtdeutschen Problem. Nur dort, wo die Gemeinden selbst aktiv werden und sich etwa für ihre Dorfschule engagieren, könne der Trend aufgehalten werden, sagt die Soziologin Claudia Neu.
Katrin Heise: Bröckelnde Fassaden, zugenagelte Schaufenster, löchrige Fußwege, kein Gasthaus, keine Post, kein Laden, eine Bushaltestelle für den Schulbus - so sieht es in manchem Dorf aus, und zwar nicht nur im Osten Deutschlands. Das Nationalkomitee für Denkmalschutz machte neulich bei einer Informationsfahrt durch Südniedersachsen auf das Problem der Landflucht aufmerksam. Mit der Initiative "Haus sucht Bauer" will man gegen den dörflichen Verfall vorgehen.

"Und man fragt sich besorgt, sieht so die Zukunft auf dem Lande aus?" - das fragt sich Adolf Stock. Und die Frage gebe ich weiter an Claudia Neu, sie ist Professorin für Soziologie an der Hochschule Niederrhein und als solche hat sie sich auch genauer in Dörfern umgeschaut. Schönen guten Tag, Frau Neu!

Claudia Neu: Guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Sieht so, eben als verlassene Geisterstadt, die Zukunft auf dem Lande aus?

Neu: Nein, ganz sicher nicht. Wir müssen unterscheiden zwischen den ländlichen Räumen, die in der Nähe von Großstädten sind oder auch vielleicht Mittelstädten in Deutschland, die ja in den vergangenen Jahren sehr stark durch eine sogenannte Urbanisierung geprägt worden sind, also: Junge, wohlhabende Familien sind rausgezogen und haben dort ihr Eigenheim gebaut. Allerdings werden wir sehen, dass die alle gemeinsam demnächst alt werden, und dann haben wir dort auch ein Problem. Aber im Moment geht es diesen Gemeinden ganz gut.

Unsere Sorge besteht ja vor allem bei den sogenannten entlegenen Gemeinden, die keineswegs - und da hat der Bericht natürlich vollkommen recht - mehr im ostdeutschen ländlichen Raum zu finden sind, auch wenn dort die Probleme besonders groß sind. Aber wir werden uns gerade in den entlegenen, ländlichen Räumen schon darauf einstellen müssen, dass wir immer mehr verlassene Häuser vorfinden, und damit geht nicht nur einher, dass die Häuser verlassen sind, sondern dass auch die Grundstückspreise sinken, die Infrastruktur abgebaut wird und damit die Regionen immer unattraktiver werden.

Heise: Also, Sie haben dieses am Niederrhein auch gefunden?

Neu: Der Niederrhein ist jetzt natürlich noch eine sehr bevölkerungsstarke Region, aber dass es Entwicklungen gibt wie den Abbau der Infrastruktur für ländliche Räume, sodass also keine Nahversorgung mehr da ist und es immer heißt, na, da fahren Sie doch nach Düsseldorf oder nach Gladbach, das gibt es schon auch. Also, die Entwicklung, dass ländliche Räume deutlich zurücktreten müssen hinter der Bevorzugung von Städten und zentralen Orten, das findet man auch am Niederrhein.

Heise: Das Deutsche Nationalkomitee für Denkmalschutz hat ja versucht, mit dieser Initiative "Haus sucht Bauer" es ein bisschen aufzurütteln. Die Denkmalschützer versuchen, vom Verfall bedrohte Höfe und Häuser zu retten und wollen so auch ein Zeichen setzen im Dorf, motivieren, bleibt hier, hier entsteht wieder was oder hier bleibt etwas. Ist das eine Möglichkeit, Ihrer Meinung nach?

Neu: Da würde ich noch einen Schritt zurückgehen wollen, bevor ich die Frage beantworte: Was kann ein solches Projekt im besten Falle eigentlich erreichen, also, was könnte ich mir vorstellen? Die historische Bausubstanz erhalten ist natürlich sehr lobenswert, den Leerstand halt mindern, die Identität schaffen und vielleicht auch noch touristisch attraktiv sein, also im allerbesten Falle dem demografischen Wandel und der Verödung ländlicher Räume entgegen wirken. Aber wie wahrscheinlich ist das denn?

Und die Situation der Verödung ländlicher Räume und des Verfalls der Häuser ist ja nicht ganz neu, auch wenn vielleicht das Deutsche Nationalkomitee das gerade erst für sich entdeckt hat. Wir sehen ja schon sehr lange, dass sich Gemeinden ganz aktiv darum bemühen, neue Mitbürger und auch wieder neue Anrainer zu finden.

Welche Bedingungen sind denn notwendig, damit wir überhaupt jemanden in eine solche Gemeinde locken können? Und da fallen mir sofort die Elemente ein: Ich muss unbedingt ein Infrastrukturangebot haben, vor allem für Familien mit Kindern - das heißt, ich brauche eine Schule oder auch für Senioren, ich brauche auch eine Gesundheitsvorsorge, wenn das nicht in unmittelbarer Nähe ist, ist das absolut unattraktiv und da kann das Gebäude noch so schön sein. Dann: Arbeitsplätze in Pendeldistanz, und als drittes brauche ich auch eine aktive Dorfgemeinschaft, und diese aktive Dorfgemeinschaft kann sich durchaus zum Ziel nehmen, ein historisches Gebäude für sich wieder zu nutzen.

Heise: Heißt das also, dieses Dorf muss sich erst mal selber auch ein Ziel setzen, ein Profil geben, um überhaupt Attraktivität nach außen auszustrahlen?

Neu: Ja, das würde ich so auf jeden Fall sagen. Also, ich würde kurz noch unterscheiden wollen zwischen den Privatanlegern oder die Familie, die sagt, ach, ich finde das Haus so wunderbar, ist mir ganz egal, wo das ist, ich kaufe das wegen des Hauses, und das Zweite ist, dass eine Dorfgemeinschaft sich entschließt, ihre historische Bausubstanz wieder aufzumöbeln oder auch zu einem zentralen Element zu machen.

Und wir haben vor einigen Jahren in Mecklenburg-Vorpommern ein Projekt durchgeführt, "Das soziale und aktive Dorf", und da ging es um fünf Gemeinden, die also in einem ja doch sehr ländlichen Gebiet mit viel Abwanderung sich dadurch auszeichnen, dass dort Abwanderung eben deutlich weniger vorkommt. Und bei den fünf Gemeinden waren zwei Gemeinden dabei, die genau dieses Prinzip verfolgt haben: Sie haben sich ihre historische Bausubstanz als Aufgabe vorgenommen, um die wieder herzustellen und zu öffentlichen Gebäuden umzuwidmen, also, die alte Scheune, dann der Kindergarten, all diese Elemente.

Und das kann sehr gut funktionieren. Aber die Dorfgemeinde, genau wie Sie es gesagt haben, muss das selbst als ein Ziel annehmen und vielleicht nicht von außen aufoktroieren, und dann klappt das.

Heise: Und dann klappt das vielleicht, alsodass man sich dieses Profil gibt, dass man da bestimmte Dinge erhält. Aber wie klappt das, dass man die Struktur, die Infrastruktur am Ort hält oder wieder aufbaut? Ich meine, so eine geschlossene Schule, die kriegt man ja auch nicht so schnell wieder geöffnet, da muss man ja dann die Politik mit ins Boot holen, und zwar die weiter verstreute Politik, also nicht nur den eigenen Ortsbürgermeister.

Neu: Ja, auf jeden Fall. Aber die eigene Gemeinde kann schon auch sehr viel tun. Eine Politik konzentriert sich augenblicklich darauf und sagt, na ja, also, wir haben weniger Kinder, also brauchen wir auch weniger Schulen und konzentrieren das an zentralen Orten. Das bedeutet aber gerade für die Gemeinden, dass sie selbst dann eben leerlaufen und diese Verödung immer weiter vorangetrieben wird.

Trotzdem müssen natürlich Gemeinden für sich auch eine Art Prioritätenliste entwickeln und sich entscheiden: Möchte ich eine Gemeinde sein, die vor allem Jugendliche fördert, oder möchte ich vielleicht eine Gemeinde sein, die Senioren fördert? Das muss sich nicht ausschließen, aber es braucht eine Prioritätensetzung. Es kann auch bedeuten, entscheide ich mich für einen historischen Dorfkern und gegen die Eigenheimsiedlung um den Dorfkern herum? Also, viele Gemeinden - und das ist mir immer wieder begegnet in den vergangenen Jahren - vermeiden diese Prioritätensetzung, weil sie niemandem wehtun wollen.

Und wenn die Dorfgemeinde selbst eine Entscheidung trifft und die Bürger da mitnimmt und beteiligt und sich darüber verständigt, das ist unsere Zukunft, dann können sie natürlich schon sehr viel machen, auch jenseits dieser politischen Entscheidungen. Und das kann auch eine Schule betreffen und sich dafür einzusetzen und zu sagen: Bei uns bleibt diese Schule, wir stimmen uns aber mit der Nachbargemeinde ab.

Heise: Sie haben gerade vom Wehtun gesprochen, besonders weh tut es ja, wenn man vielleicht mal akzeptieren muss, dass manche Ortschaften auch tatsächlich verlassen werden. Gehört das auch dazu?

Neu: Ja, ich glaube, das gehört auch dazu. Persönlich mag ich das natürlich sehr bedauern, aber ich muss mich fragen, wenn ich durch viele entlegene, ländliche Räume fahre, sei das Ostfriesland oder Mecklenburg, Sachsen: Wie viele Landhotels brauchen wir denn, wenn wir keine Gäste da haben? Wie viele Investitionsruinen sind denn da? Und dann muss unter Umständen auch die Entscheidung getroffen werden, zu sagen, ja, wenn sich jahrzehntelang kein Investor findet, auch für denkmalgeschützte Gebäude - entweder lasse ich den Denkmalschutz dann fallen und im allerschlimmsten Fall muss das Haus dann auch abgerissen werden. Ja, das gehört dazu.

Heise: Erkenntnisse der Soziologin Claudia Neu, die zur Landflucht geforscht hat. Vielen Dank, Frau Neu, für das Gespräch!

Neu: Sehr gerne, herzlichen Dank, Frau Heise!
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