Kampf gegen Agrarunternehmer

20.000 Quadratkilometer Land will Kolumbiens Regierung an Landwirte zurückgeben.
20.000 Quadratkilometer Land will Kolumbiens Regierung an Landwirte zurückgeben. © David Graaff
Von David Graaff · 24.04.2013
Ende der 90er-Jahre wurden in Kolumbien Tausende Kleinbauern von ihren Ländereien vertrieben. Ein Gesetz garantiert ihnen nun die Rückgabe. Doch Agrar-Industrielle und Paramilitärs halten das Land besetzt und versuchen, die Rückkehr mit Gewaltandrohungen zu verhindern.
Eine junge, kräftige Frau führt durch ein zweistöckiges Holzhaus. Es ist tropisch heiß, die Luft feucht. Über ihr rundes, kindlich wirkendes Gesicht laufen Schweißperlen. Ihr Name ist Lucy Tuberquia, sie ist 25 Jahre alt und lebt in einer kleinen Siedlung am niederen Atrato-Fluss im äußersten Nordwesten Kolumbiens. Einer sumpfigen, schwer zugänglichen Gegend, kurz vor der Grenze zu Panama.

Die Siedlung der Gemeinde Curvaradó besteht aus zwei Dutzend Holzhäusern, die auf einer Freifläche stehen, umgeben von Stacheldraht und Bananenplantagen. Alle Bewohner der Siedlung sind Afro-Kolumbianer. Das heißt, sie sind Nachfahren afrikanischer Sklaven, die seit dem 16. Jahrhundert von den spanischen Kolonialherren nach Kolumbien gebracht wurden. Heute machen Afro-Kolumbianer mehr als zehn Prozent der kolumbianischen Gesamtbevölkerung aus. Ein Teil von ihnen, wie etwa die Mitglieder der Gemeinden am niederen Atrato-Fluss, leben noch wie ihre Vorfahren nach dem Ende der Sklaverei als Kleinbauern von der Feldarbeit.

Im Zentrum der Siedlung in Curvaradó steht die Casa de la Memoria, das Haus der Erinnerung. An den Wänden hängen von der Sonne vergilbte Fotos und Zeitungsausschnitte, wie in einem Museum. Sie erzählen die Geschichte vom Streit um Ländereien, von Vertreibung und Tod. Lucy wendet sich mehreren Plakaten zu. Jemand hat mit dickem Filzstift darauf geschrieben.

Lucy Tuberquia: "Die Operation Genesis stand unter dem Kommando des Militärgenerals Rito Alejo del Río und wurde im Februar 1997 ausgeführt. Gemeinsam mit den Paramilitärs vertrieb das Militär 4.000 Kleinbauerbauern der afro-kolumbianischen Gemeinde Curvaradó am niederen Atrato-Fluss. Aus Angst vor dem Militär und den Paramilitärs flohen die Gemeinden in die Kleinstädte der Region. Rund 800 Personen versteckten sich mehrere Monate lang im Dschungel."

Eine Allianz aus Militärs und paramilitärischen Selbstverteidigungsgruppen, das war in Kolumbien Mitte der 90er-Jahre keine Seltenheit. Vielmehr war es Teil der Militärstrategie zur Bekämpfung der Guerillas. Besonders im äußersten Nordwesten des Landes. Hier hatten Viehzüchter und Bananenunternehmer zunächst Selbstverteidigungsarmeen aufgebaut, um sich vor verschiedenen linken Guerillas, aber auch vor kämpferischen Gewerkschaften und Landinvasionen zu schützen. 1995 schickte der Staat deshalb den General Rito Alejo del Río in die Region.

Er sollte für Frieden sorgen. Doch er bekämpfte lediglich die Guerillas. Die Paramilitärs bat der General hingegen um Unterstützung. Sie waren für die schmutzige Arbeit zuständig: Sie stellten die afro-kolumbianischen Kleinbauern am niederen Atrato-Fluss unter Generalverdacht, Informanten der Guerilla zu sein, folterten und töteten mehrere ihrer Anführer. Beinahe die gesamte Bevölkerung der Region niederer Atrato – insgesamt rund 15.000 Menschen – verließ daraufhin die Region. Zurück blieb ein teilweise fast menschenleerer Landstrich.

Juan Manuel Santos: "Das Gesetz zur Opferentschädigung und Landrückgabe ist eine Revolution. Aber es ist keine Revolution mit dem Gewehr, sondern mit dem Gesetzbuch und der Verfassung in der Hand."

Viele Länderein vermint

Kolumbiens liberaler Präsident Juan Manuel Santos hat Großes vor. Er will den jahrzehntelangen Konflikt in Kolumbien beenden und die vielen offenen Wunden schließen: Mit den marxistisch orientierten FARC, der ältesten Guerilla Lateinamerikas, hat er Friedensverhandlungen aufgenommen. Zugleich will Santos mehr als 20.000 Quadratkilometer Land, eine Fläche so groß wie Hessen, an die Opfer des internen Konflikts zurückgeben. Dieser hat in Kolumbien mehr als vier Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen gemacht. Die meist bäuerliche Landbevölkerung floh vor der Gewalt, vor Paramilitärs, der Guerilla und den Kämpfen mit dem Militär. Ihr Land ließen die Bauern zurück, verkauften es zu Tiefstpreisen – oder wurden dazu gezwungen. Unrecht, das Santos rückgängig machen will.

Für den neuen Kurs hat die Regierung viel Lob bekommen. Denn erstmals geht eine kolumbianische Regierung das Problem der Binnenflüchtlinge ernsthaft an und hat für deren Entschädigung ein eigenes Gesetz geschaffen. Ricardo Sabogal ist der Direktor der neuen Behörde für Landrückgabe. Er soll Santos‘ Prestigeprojekt umsetzen und macht keinen Hehl daraus: Seine Aufgabe ist eine enorme Herausforderung.

Ricardo Sabogal: "Die Rückgabe von Ländereien in Kolumbien birgt viele Schwierigkeiten. Beispielsweise deshalb, weil die Katasterinformationen nicht ausreichend sind. Das heißt, für eine Rückerstattung müssen die Abmessungen und Besitzverhältnisse der Ländereien erst einmal genau geklärt werden – denn oft hatten die Bauern gar keine Papiere über ihren Besitz. Darüber hinaus haben wir auch mit den Folgen des Konflikts zu kämpfen, denn viele Ländereien sind vermint. Das sind schwierige Fälle, aber wir sind dabei, sie zu lösen. Und zwar im Rekordtempo."

Seit Ende vergangenen Jahres werden fast täglich Urteile gesprochen. Dennoch gibt es im Prozess der Landrückgabe Probleme: Bis jetzt haben die eigens eingesetzten Richter meist nur Brachland zurückgegeben, das dem Staat gehört, kaum aber Gebiete, die sich nach der Vertreibung in den Händen neuer Besitzer befinden – so wie das Land der afro-kolumbianischen Gemeinden am niederen Atrato-Fluss.

Die Verfassung von 1991 erkennt Afro-Kolumbianer als ethnische Minderheit an und spricht ihnen damit auch das Recht auf kollektive Landtitel zu. Das heißt, das Land befindet sich nicht in Privatbesitz, sondern kann ganzen Gemeinden zugesprochen werden. 150 afro-kolumbianische Gemeinden mit insgesamt rund einer viertel Million Einwohnern gibt es in ganz Kolumbien. Meist liegen sie in abgelegenen und nur schwer zugänglichen Gebieten an der Pazifik- oder Atlantikküste.

Nach der Massenvertreibung am niederen Atrato-Fluss 1997 eigneten sich nach und nach Kommandeure der Paramilitärs oder regionale Agrarunternehmer das Land der dortigen afro-kolumbianischen Gemeinden an. Durch ein komplexes Netz aus Strohmännern und Scheinfirmen gelang es ihnen im Laufe weniger Jahre, große Agrarprojekte zu etablieren. Statt kleinbäuerlicher Landwirtschaft wurden hier jetzt Rinder gezüchtet oder großflächig Bananen und Ölpalmen für den Weltmarkt angebaut.

Das mache die Rückgabe nun um so schwieriger, sagt César Acosta. Er ist Leiter der Regionalstelle der Behörde für Landrückgabe und auch für den Fall der afro-kolumbianischen Gemeinden am niederen Atrato-Fluss zuständig.

César Acosta: "Curvaradó ist ein sehr spezieller Fall. Hier treffen die Interessen der Gemeinde auf die Interessen der Unternehmer. Diese Unternehmer versuchen, sich gegen die Rückgabe an die Gemeinde zu wehren. Der Prozess stockt aber auch – es fällt schwer, das zuzugeben – wegen der Unfähigkeit der staatlichen Organe, die entsprechenden Schritte zur Rückgabe umzusetzen. Und das, obwohl selbst das Verfassungsgericht im Fall Curvaradó mehrfach angemahnt hat, die Rückgabe voranzubringen."

Anders gesagt: Es nützt den vertriebenen Kleinbauern nichts, dass die Regierung in der Hauptstadt Bogotá fortschrittliche Gesetze erlässt und rechtlich alles für sie spricht. In Regionen wie am niederen Atrato-Fluss hat der Staat Mühe, die Landrückgabe gegen die dortigen Machtstrukturen durchzusetzen. Denn die neuen Besitzer verfügen regional oft über großen politischen Einfluss und schrecken auch nicht vor Gewalt gegen die zurück, die sich nun für die Rückgabe ihres geraubten Landes einsetzen. In den vergangenen zehn Jahren sind in Kolumbien mehr als 80 Männer und Frauen ermordet worden, 700 wurden seit Inkrafttreten des neuen Gesetzes zur Landrückgabe mit dem Tode bedroht. Das Innenministerium stattete sie deshalb mit schusssicheren Westen aus, manchmal sogar mit gepanzerten Fahrzeugen und Leibwächtern.

Paramilitärs sollen Verbindungen zu Ex-Präsident Uribe haben

Präsident Juan Manuel Santos spricht etwas vage von einer "schwarzen Hand", die den Landrückgabeprozess verhindern wolle. Von dieser "schwarzen Hand" sind im Fall der afro-kolumbianischen Gemeinden am niederen Atrato in den letzten acht Jahren bereits neun Menschen getötet worden. Menschenrechtsorganisationen sagen, dahinter steckten eben jene Paramilitärs und Agrarunternehmer, die sich das Land angeeignet und dann viel Geld in große Agrarprojekte investiert haben. Deren Beziehungen reichen wirtschaftlich bis zu den großen Bananenunternehmen Kolumbiens; politisch soll es Verbindungen zum rechts-konservativen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe geben.

Alexandra Huck setzt sich mit dem Berliner Verein Kolko für die Wahrung der Menschenrechte in Kolumbien ein und begleitet auch die afro-kolumbianischen Gemeinden am niederen Atrato:

Alexandra Huck: "Was in diesem Fall, wie in vielen anderen auch, ganz deutlich wird, ist, dass die Machtstrukturen und die Gewaltstrukturen, die genutzt wurden, um den Leuten das Land wegzunehmen – die bestehen weiter. Und wenn die Leute jetzt ihr Land zurückfordern, dann erhalten sie eben von Paramilitärs neue Drohungen, und es wird versucht, sie einzuschüchtern und davon abzuhalten, ihr Land effektiv zurückzufordern."

Vom Haus der Erinnerung geht es mit einem klapprigen Geländewagen einige Kilometer weiter in Richtung Norden. Die staubige, schnurgerade Schotterpiste führt vorbei an Bananenplantagen. Ab und an stehen einfache Hütten aus Holz am Wegesrand. Die Straße ist eine der letzten auf kolumbianischem Territorium. Im Norden, im Grenzgebiet zu Panama, liegt der Darién, ein unwegsames Gebiet aus Bergen, tropischen Wäldern und weitläufigen Sümpfen. Hier hat selbst die legendäre Panamericana eine Lücke.

Auch hier kämpft eine afro-kolumbianische Gemeinde um die Rückgabe ihres Landes. Doch sie steht noch ganz am Anfang. Mitten auf einer Kuhweide unter einem großen Kapokbaum haben fünf Bewohner ein einfaches Camp aus Plastikplanen und Baumstämmen aufgeschlagen. Seit mehreren Monaten leben sie hier – ohne Strom und fließendes Wasser. Das schöpfen sie aus einem vier Meter tiefen Erdloch.

Das Gesetz zur Landrückgabe hat den Vertriebenen in ganz Kolumbien den Rücken gestärkt. Sie sind selbstbewusster als je zuvor und trotzen den möglichen Gefahren – vor allem die afro-kolumbianischen Gemeinden. Ihr Zusammenhalt ist stark, und sie wollen nicht warten, bis ein Gerichtsurteil vorliegt. Sie schaffen Fakten. Mary Mosquera, eine Frau um die 50, ist die Anführerin der Gruppe. Sie sitzt auf einem alten Holzstamm und raucht eine Zigarette.

Mary Mosquera: "Die staatlichen Stellen haben uns mit nichts geholfen. Deshalb haben wir irgendwann gesagt: Wir gehen zurück. Wir sind Bauern, was sollen wir in der Stadt? Von was sollen wir leben, ohne eine Ausbildung? Ich bin mehrere Jahre umhergezogen. Habe als Haushälterin und Kellnerin gearbeitet. Zu Hungerlöhnen. Hier auf unserem Land können wir zumindest ein paar Dinge anbauen. Die können wir verkaufen, und es reicht zum Überleben."

Aber auch hier bestimmen Kühe und Ölpalmen mittlerweile das Landschaftsbild. Der Viehzüchter Juan Guillermo González, ein Mann mit guten Verbindungen zu ehemaligen Paramilitärs, hat sich das Land der Gemeinde angeeignet und ist damit zum Großgrundbesitzer aufgestiegen. Er hat große Kanäle ausheben lassen, um die sumpfigen Böden trockenzulegen. Den feucht-tropischen Regenwald ließ er abholzen, die Bäume wurden gewinnbringend verkauft. Die natürlichen Flussläufe sind deshalb beinahe verschwunden. Ebenso die vielfältige Flora und Fauna. Eine ökologische Katastrophe in einem der artenreichsten Gebiete der Erde.

Um die wenigen Reste des Regenwaldes zu schützen, will die Gruppe um Mary Mosquera ihr Land deshalb zu einer Zone der Artenvielfalt erklären. Ein juristisches Mittel, das verhindern soll, dass sich Plantagen und Viehwirtschaft weiter ausbreiten, während ihr Fall von der Behörde für Landrückgabe bearbeitet wird. Noch haben Mary und ihre Mitstreiter keine Morddrohungen erhalten, aber González hat ihnen durch seine Arbeiter bereits ausrichten lassen, dass sie – vornehm ausgedrückt – nicht erwünscht seien. Mehrere Räumungsklagen hat die Behörde für Landrückgabe gerade noch abwenden können. Trotzdem: Ein Zurück, sagt Mary, gibt es für sie nicht mehr.

Mary Mosquera: "Manchmal denke ich daran, aufzugeben. Aber dann denke ich auch an die Zukunft meiner Kinder. Die sollen hier leben können. Wenn die Regierung uns unser Land zurückgibt, werden wir ein besseres Leben haben als vorher."

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