Kampf der Kulturen

Mit Psychoanalyse zum Gewaltverzicht

Etwa 200 Anhänger des Berliner Ablegers der Pegida-Bewegung, Baergida, versammelten sich am 5. Januar 2015 in Berlin zu einer Demonstration gegen eine angebliche Islamisierung Deutschlands. Ein Anhänger des Berliner Ablegers der Pegida-Bewegung, Baergida, hält ein Schild mit der Aufschrift: "Keine Islamisirung Europas"
Ein Anhänger des Berliner Ablegers der Pegida-Bewegung, Baergida, demonstriert gegen die angebliche Islamisierung Europas. Er hält ein Schild mit der Aufschrift: "Keine Islamisirung Europas" © Imago / Christian Ditsch
Von Christian Kohlross · 22.01.2015
Gesellschaften können wie Individuen an "Persönlichkeitsstörungen" erkranken: Der Kulturwissenschaftler Christian Kohlross schaut auf die westliche und die Welt der Dschihadisten metaphorisch als Einzelpersonen und untersucht beide mit der Methode der Psychoanalyse.
Eine Diagnose, die sofort ins Auge springt: der kollektive Narzissmus unserer westlichen Kultur, die übertriebene Bedürftigkeit eines jeden Einzelnen als Voraussetzung unserer Weltkultur der Bereicherung. Trotzdem: Was immer die Welt an Geld, Gütern, Ressourcen bereithält, es reicht nicht aus, um die Bedürfnisse unseres nimmersatten Ichs zu befriedigen.
Weshalb wir, Narzissten, die wir sind, nicht lediglich auf Pump, sondern längst weit über unsere Verhältnisse leben – eben: auf Kosten anderer. Narzissten benötigen diese Ausgeschlossenen, auf deren Kosten sie leben, gerade auch, um sich ihrer selbst, vor allem ihrer eigenen Überlegenheit zu vergewissern.
Aber nicht immer tragen diese Ausgeschlossenen das bemitleidenswerte, im Grunde harmlose Antlitz des am Leben Gescheiterten, des Immigranten, des Arbeits- oder Obdachlosen. Nein, seit 9/11 erscheint ein Teil der von unserer narzisstischen Weltkultur Ausgeschlossenen auch mit der Fratze des militanten Islamismus. Und damit eben nicht mehr in einer harmlosen, sondern in einer schrecklichen Gestalt: der des Borderliners.
Borderliner-Persönlichkeiten können charmant sein
Gewiss, auch Borderliner-Persönlichkeiten können charmant und gewinnend sein, doch nur, um im nächsten Moment hasserfüllt, zerstörerisch und, eines der augenscheinlichsten Diagnosemerkmale, selbstzerstörerisch zu werden. Das Selbstmordattentat: Nicht ohne Grund ist es das Erkennungszeichen einer solch dschihadistischen Borderliner-Kultur.
Treffen nun Narzissten und Borderliner aufeinander, im Kampf der Kulturen, fügen sie einander immer wieder aufs Neue das Trauma zu, das sie beide hervorgebracht hat: die Katastrophe der völligen Zurückweisung. Doch während das Trauma des Narzissten in der Ablehnung seines Ichs besteht, ist beim Borderliner darüber hinaus das Vertrauen in die Wirklichkeit erschüttert. Er wurde buchstäblich um den Verstand gebracht. Das macht ihn so anfällig für Wahnsinn und Fanatismus.
Traumata bringen im Erleben der Traumatisierten Ungeheuer hervor. Bei Narzissten wie Borderlinern heißen sie: Entsetzen, Ohnmacht, Wut. Sie bewirken das, was im psychoanalytischen Vokabular Spaltung und sonst Rigorismus heißt – also die Haltung: wer nicht für mich ist, ist gegen mich und muss beseitigt werden.
Der Anfang vom Ende von Gewalt
G. W. Bushs militante Reaktion auf das Borderlinerattentat von 9/11 war, wie das Attentat selbst, Ausdruck einer solchen Haltung.
Obama und Europa sind längst weiter. Sie betreiben eine Politik des Sowohl-als-auch, des Zugleich von militärischer Aggression und humanitärer Hilfe. Ohne deshalb erfolgreicher, das heißt, befriedender zu sein als es die Bush-Administration war. Warum?
Vor allem deshalb, weil eine Politik des Sowohl-als-auch von Borderlinern als Double Bind, als eine Paradoxie des Handelns erfahren wird. Paradoxien, Widersprüche aber bringen sie um den Verstand. Sie lösen in ihnen genau jene ohnmächtige Wut aus, die sie immer schon spürten, wenn sie feststellen mussten, dass es für sie nichts gibt, kein Ich und keine Wirklichkeit, das ihnen Halt gewährt.
Und was folgt daraus? Ich meine dies, dass es nur eine einzige Botschaft des Westens geben kann. Und da es nur eine unmissverständliche sein kann, muss sie lauten: unbedingter Gewaltverzicht.
Wo es auf beiden Seiten Opfer gibt, immer wieder neue Opfer, muss es ein Opfer sein, das damit beginnt, seine Schuld einzugestehen. Wer, wenn nicht der Westen, wer, wenn nicht wir, sollte es sein, der einen solchen Anfang machen könnte, mit dem Ende?
Christian Kohlross Habilitation für Kulturwissenschaften an der Universität Mannheim, mehrere Gastprofessuren (u.a. Walter Benjamin Chair, Hebräische Universität, Jerusalem), fünf Bücher (u. a.: Epochen/Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie, hrsg. mit Frank Degler, St. Ingbert 2006), Psychotherapiefortbildung, u. a. an der Washington School of Psychiatry und der Milton Erickson Foundation, Phoenix AZ. Derzeit tätig in eigener Praxis für systemische Beratung und Hypnose in Berlin.
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