Kampf der Geschlechter

Von Dominik Bretsch · 22.02.2012
Lange Zeit galt Israel als Land der starken Frauen - ein Mythos, der derzeit immer brüchiger wird: Auf zahlreichen Buslinien in Jerusalem müssen Frauen ganz hinten Platz nehmen, wenn sie nicht von Ultraorthodoxen als Huren angepöbelt und sogar tätlich angegriffen werden wollen.
Unterwegs im Bus 49a, der die religiöse Siedlung Neve Yaakov mit dem Jerusalemer Stadtteil Mea Shearim verbindet - das ultraorthodoxe Zentrum der Hauptstadt. Die Männer tragen schwarze Hüte und Anzüge, unter deren Rockschößen die Gebetsfäden aus weißem Garn heraushängen. Einige haben kleine Gebetsbücher aufgeschlagen und lesen murmelnd darin. Es ist eng, die Krempen ihrer Hüte berühren sich fast, dabei wäre weiter hinten im Bus genug Platz. Dort sitzen die Frauen, das Haar unter Kopftüchern und Perücken versteckt, lange Röcke und weite Oberteile verbergen ihre Figur.

In der Nähe der Männer sitzt eine junge Frau und schaut verträumt aus dem Fenster hinaus, der Platz neben ihr ist frei. Ein Mann mittleren Alters kommt auf sie zu, schwarze Robe, dichter rötlicher Bart. Er spricht leise mit ihr, woraufhin sie aufsteht und in den hinteren Teil des Busses geht. Lächelnd winkt der Mann einen anderen herbei und fordert ihn auf, neben ihm Platz zu nehmen. Was hat er zu der Frau gesagt?

"Ich habe sie gefragt, ob sie mir einen Gefallen tun und sich dort rübersetzen könnte. Dort, wo es mehr Sitzplätze für Frauen gibt, weil hier kein Platz mehr ist. Wir versuchen ein wenig gottgefälliger zu sein als die übrige Gesellschaft. Manchmal sind Frauen sehr attraktiv, und wenn sie neben Männern sitzen, kann das zu schlimmen Dingen führen. Ich bin ein glücklich verheirateter Mann und möchte das auch bleiben. (Lacht)"

In Israel gibt es derzeit 50 "Mehadrin Busse", das bedeutet "extra koschere Busse", in denen Männer und Frauen getrennt voneinander sitzen. Äußerlich sind es gewöhnliche öffentliche Busse der Firma Egged, die mehr als die Hälfte der rund 6000 Buslinien in Israel betreibt. Der Oberste Gerichtshof Israels hat vor einem Jahr entschieden, dass es keine offiziell getrennt-geschlechtlichen Busse geben darf. Das "freiwillige" getrennt sitzen allerdings ist weiterhin erlaubt. Doch wenn immer wieder Frauen, die sich weigern, hinten zu sitzen, von Männern beleidigt oder sogar körperlich angegriffen werden - kann von "Freiwilligkeit" wohl keine Rede sein.

Im Jerusalemer Büro der Menschenrechtsanwältin Ruth Carmi bedecken Akten und Berichte in mehreren Schichten den Schreibtisch. Die lackierten Fingernägel der Anwältin klackern unentwegt auf der Computertastatur. Dann Kaffeepause. Ruth Carmi hat ihre ganz eigene Meinung zur sogenannten "freiwilligen Geschlechtertrennung". Sie winkt ab:

"Sehr viele ultraorthodoxe Frauen rufen an und erzählen, wie erniedrigend es ist, hinten in den Bus einzusteigen. Wie lächerlich es ist, zusammen mit deinem Mann Bus zu fahren und dein Mann muss nach vorne gehen und du nach hinten. Sie sagen, dass sie das nicht wollen, dass sie gegen diese Extremisten sind."

Ruth Carmi arbeitet beim Israeli Religious Action Center, einer Nichtregierungsorganisation in Jerusalem. Gerade schreibt sie für die Vereinten Nationen einen Bericht über das Thema Frauenrechte in Israel. Einen sehr langen Bericht, lächelt sie müde und schlürft an ihrem Kaffee. Denn an immer mehr Orten in Israel gehen Frauen und Männern getrennte Wege:

"In dem neuen Bericht, den wir gerade fertigstellen, kann man sehen, wie sehr es zugenommen hat. Und es geht nicht nur um Geschlechtertrennung, sondern auch um Ausschluss. Es passiert in Krankenhäusern, Postämtern und in Flugzeugen, auf den Straßen und bei öffentlichen Veranstaltungen. Sogar auf dem Friedhof werden Männer und Frauen getrennt. Es gab einen Fall, da wollte eine Frau eine Abschiedsrede für ihren Vater halten. Und der Rabbi sagte: Lassen Sie mich das vorlesen. Und die Frau sagte: Was wollen Sie lesen? Lieber Papa?!"

Von Ruth Carmis Büro im Stadtzentrum ist es nur ein kurzer Fußmarsch bis zum ultraorthodoxen Stadtteil Mea Shearim. Das Leben hier - wie im 19. Jahrhundert: Verhuschte Jünglinge in Gehröcken und Strumpfhosen hasten über die Straßen, zwirbeln nervös ihre Schläfenlocken, schon junge Männer haben lange Bärte. Fernsehen oder gar Internet gibt es hier nicht. Einzige Ausnahme: Mobiltelefone, in die selbst weißbärtige Rabbis lautstark hineinsprechen. "Haredi" nennen sich die Ultraorthodoxen selbst - "Die, die vor Gott zittern".

"Hier begann die Geschlechtertrennung, genau dort drüben. Hier wurden die Straßenseiten aufgeteilt nach Männern und Frauen. Auf dieser Seite der Straße war ein Zaun, 1,80 Meter hoch, mit Stoff behangen, der die Straße runterführte."

Rachel Azaria fällt hier auf: Das gelockte schwarze Haar liegt offen auf ihren Schultern, der Hosenanzug betont ihre zierliche Figur. Ein paar Männer mit wehenden Schläfenlocken und Pelzmützen auf dem Kopf eilen gesenkten Blickes an uns vorbei. Drei Jahre lang war Rachel Azaria Stadträtin in Jerusalem - bis zu den Ereignissen rund um das jüdische Erntedankfest im vergangenen Oktober:

"Es gab Wächter mit Lautsprechern und gelben T-Shirts, die den Männern und Frauen sagten, wo sie zu laufen hatten. Das war hart für die Leute hier. Wenn du auf der einen Seite der Straße gewohnt hast und eine Frau warst, konntest du nicht einfach die Straße überqueren. Du musstest ganz außen rum gehen und von der anderen Seite kommen. Das ging so für ein paar Tage, bis ich zum Obersten Gerichtshof gegangen bin und dort geklagt habe. Das Gericht entschied, dass die Geschlechtertrennung illegal ist und die Zäune wurden weggenommen."

Doch schon am Tag nach der Gerichtsentscheidung kam eine E-Mail von Bürgermeister Nir Barkat, erzählt Rachel Azaria. Darin hieß es knapp, dass sie aller Aufgaben enthoben sei - mit anderen Worten: Der Bürgermeister warf sie mit sofortiger Wirkung aus dem Stadtrat.

"Das war nicht leicht zu verkraften! Ich denke, er war noch wegen anderer Dinge aufgebracht. Drei Jahre lang habe ich immer wieder vor dem Obersten Gericht geklagt, gegen Segregation und das Verschwinden von Frauen aus dem öffentlichen Raum. Ich hätte nicht gedacht, dass das passieren würde, aber die Ultraorthodoxen haben wegen meiner Kampagnen offenbar großen Druck auf ihn ausgeübt."

Mitten in Mea Shearim liegt das Hauptgebäude der Edah HaCharedis. Eine ultraorthodoxe Organisation, die unter anderem ein unabhängiges religiöses Schulsystem betreibt. Ihr eigenes Rabbinergericht und ein Koscher-Institut wachen über die Einhaltung der religiösen Vorschriften in der Gemeinschaft. Hinter der Tür im dritten Stock eilen Männer von einem Raum zum nächsten, Rabbis stehen und sitzen in Gruppen zusammen und beäugen fremde Besucher misstrauisch. Shmuel Popenheim, der 20 Jahre lang Sprecher der Edah HaCharedis war, ist ein kräftig gebauter Mann mit weichem Händedruck. Für ihn beginnt die Geschichte bei Adam und Eva:

"Die Rolle der Frauen ist in der Thora festgelegt, lange bevor diese Welt angefangen hat, von Gleichberechtigung zu reden. Und so verhalten wir uns bis heute. Die Frau in der jüdischen Familie hat ihre Ehre, sie ist die Königin des Hauses. Der Grund, warum Frauen keine öffentliche Rolle erhalten, hat in dieser Ehre seinen Ursprung. Die Ehre der Frau ist an den Ort gebunden, der am besten behütet und bewacht ist: das Haus."

Ultraorthodoxe Frauen müssen nicht nur den Haushalt führen - sie sind auch die Ernährerinnen der Familie. Denn ihre Männer arbeiten meist nicht, sondern studieren an Religionsschulen die Thora. Auch diese Rollenverteilung ist gottgegeben, sagt Shmuel Popenheim mit hochgezogenen Augenbrauen und knetet seine Hände.

"Wir verstehen sehr gut, dass wir hier zwei verschiedene Sprachen sprechen. Wir versuchen, den idealen Juden zu schaffen und was wir als respektvolles Verhalten gegenüber Frauen erachten, erscheint der Gesellschaft, als würden wir ihnen Schaden zufügen. Es stimmt also, dass wir ein Problem haben, aber wir sind hier nicht kompromissbereit. Was wäre, wenn es ein Gesetz gäbe, dass Beschneidungen verbieten würde, weil es dem Baby wehtut - würden wir dann etwa die Beschneidungen abschaffen?"

Von sieben Millionen Israelis sind eine Million ultraorthodox. Tendenz steigend, denn mit durchschnittlich acht Kindern pro Familie ist die Geburtenrate der Ultraorthodoxen sehr viel höher als im Rest der Gesellschaft. Sie müssen nicht zum Militär, zahlen keine Steuern. Dennoch unterstützt der Staat einen Großteil der ultraorthodoxen Familien mit Sozialleistungen. In vielen Städten Israels haben sich neue ultraorthodoxe Stadtteile gebildet. So zum Beispiel in Beit Shemesh.

Die Stadt liegt auf halbem Weg zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Knapp die Hälfte der 80.000 Einwohner Beit Shemeshs sind ultraorthodoxe Juden, die in den vergangenen zehn Jahren zugezogen sind, in neu errichtete, wuchtige Wohnblöcke am Stadtrand. Dutzende Kräne, Baugruben und Rohbauten zeigen: Diese Entwicklung wird weitergehen. An einer Hauswand mahnt ein Plakat - hoch wie ein Stockwerk - Frauen, sich züchtig zu kleiden und weder Hosen noch eng anliegende Kleidung zu tragen. Hier, an der Grenze zwischen der ultraorthodoxen Nachbarschaft und den restlichen Bewohnern der Stadt, hat Ende des vergangenen Jahres wochenlang einer der bizarrsten Konflikte in Israel getobt.

Eine Gruppe ultraorthodoxer Männer bespuckt Mädchen auf dem Schulweg, beschimpfen sie als Huren, weil sie angeblich nicht züchtig genug gekleidet sind. Eltern müssen ihre Kinder auf dem Schulweg begleiten, die Kinder sind völlig verstört.

Streitpunkt ist eine Schule, die in unmittelbarer Nachbarschaft zum ultraorthodoxen Stadtteil Beit Shemeshs gebaut wurde. Obwohl es sich um eine religiöse Schule handelt, gehen den Ultraorthodoxen die Kleider- und Verhaltensvorschriften dort längst nicht weit genug. Das Land ist über die Attacken geschockt. Tausende Menschen demonstrieren in Beit Shemesh, Politiker wie die Oppositionsführerin Tzipi Livni nutzen die Gelegenheit, um sich in kämpferischen Reden als Hüter der Demokratie zu profilieren.

Die Frauen von Beit Shemesh wollen selbst ein Zeichen setzen und organisieren einen Flashmob um zu zeigen: "Wir lassen uns nicht unterkriegen!"

"Ich war unter den ersten, die nach Beit Shemesh kamen. Wir lebten in Zelten und Barracken. Und jetzt, da Beit Shemesh eine große Stadt ist, schauen Sie, was wir haben: Sie lassen uns nicht mehr laufen, wo wir wollen, sagen unseren Kindern, hier darfst du laufen und hier nicht. Es ist sehr schlimm! Ich bin wütend, ich weiß nicht, was ich tun soll."

"Es ist sehr angespannt, und es ist nicht mehr die Stadt, in die ich vor 15 Jahren gezogen bin. Es passierte allmählich, als mehr und mehr Ultraorthodoxe herkamen. Es ist schade, aber ich hoffe, dass wenn wir etwas dagegen tun, uns behaupten, ein Zusammenleben möglich ist."

Die Musik dröhnt aus großen Lautsprechern, mehr als hundert Frauen sind auf den Marktplatz geströmt, religiöse und säkulare, orthodoxe und liberale. Sie klatschen den Rhythmus mit, wirbeln und drehen sich, verwandeln das vor sich hin dösende Zentrum der Stadt für eine halbe Stunde in eine Open Air Disko. Die Idee zu dem Flashmob hatte Miri Shalem. Sie arbeitet beim Gemeindezentrum der Stadt. In ihrer riesigen Sonnenbrille spiegeln sich die tanzenden und singenden Frauen, während sie sichtlich zufrieden am Rand steht:

"Die Frauen wollen sich ausdrücken, wir lassen unsere Beine sprechen. Sehen Sie, die Frauen wollen nicht nach Hause gehen. Es ist Freitag, die meisten Frauen müssen kochen und das Schabbat-Essen machen, aber sie wollen einfach nicht gehen, weil sie von innen brennen. Sie wollen ihre Gefühle ausdrücken!"

Doch es gibt Zweifel daran, ob die Demonstrationen und Aktionen wirklich ausreichen werden, das Problem zu lösen. Inzwischen werden Stimmen laut, die Beit Shemesh aufteilen wollen: in eine ultraorthodoxe und eine säkulare Stadt. Die Teilung der Lebensräume - vielleicht das Modell des zukünftigen Israel? Miri Schalem schüttelt energisch den Kopf:

"Das ist verrückt! Wenn wir anfangen, die Stadt aufzuspalten, dann werden wir anfangen zu sagen, der ist religiös, deswegen möchte ich nicht mit ihm zusammenleben, und der ist aus dem Osten, deswegen möchte ich nicht mit ihm zusammenleben, und der ist vegetarisch, mit dem möchte ich nichts zu tun haben, denn er hat eine andere Ideologie. Das ist eine sehr gefährliche Sache!"