Kalte Progression abmildern!

Eric Schweitzer im Gespräch mit Burkhard Birke · 27.07.2013
Dass die Steuersätze schon bei mittleren Einkommen deutlich ansteigen, sei ungerecht. Das findet der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages, Eric Schweitzer. Er schlägt vor, die für die Steuern relevanten Einkommensgrenzen an die allgemeinen Preissteigerungen anzupassen.
Deutschlandradio Kultur: Eric Schweitzer ist der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages. Herr Schweitzer, sind bei Ihnen Handy-, Internetverbindungen und Telefon abhörsicher?

Eric Schweitzer: Am Ende des Tages wissen Sie es nie, ob es abhörsicher ist oder nicht. Jetzt wüsste ich, ehrlich gesagt, aber auch nicht bei dem, was ich telefoniere, was daran schlimm wäre, wenn man es abhört.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie haben kein Problem mit der durch die Aktivitäten der NSA geschaffene unfreiwillige Transparenz durch unsere Freunde?

Eric Schweitzer: Ich glaube, man muss unterscheiden. Das eine ist ein normales Gespräch. Das wird übrigens, auch in Deutschland hat ja der Staat auch im Rechtsbereich verschiedene Möglichkeiten abzuhören. Das andere sind Mails, sind sensible Daten, die nicht abgehört werden sollen. Da kann man sich auch schützen. Da kann man auch entsprechende Maßnahmen für schaffen in den Unternehmen, dass es schwierig gemacht wird, dieses abzuhören. Und bezüglich der NSA, glaube ich, braucht man zunächst mal die Fakten auf dem Tisch zu dem, was wirklich passiert ist, um darüber dann auch aus der Aufgeregtheit wieder in eine sachliche Diskussion zu kommen.

Deutschlandradio Kultur: Sachliche Diskussion ist sehr wichtig. Allerdings ein Fakt, sagten Sie, Sie müssen die Fakten erstmal kennen, aber ein Fakt ist ja bekannt, dass zum Beispiel auch die EU abgehört worden ist. Die ist ja nicht gerade so im Verdacht, Terroraktivitäten zu entwickeln.

Andersrum ausgedrückt: Sie vertreten die deutsche Wirtschaft. Man muss ja hier von Wirtschaftsspionage ausgehen. Kann man sich denn mit einem Partner an den Verhandlungstisch setzen und über Freihandel verhandeln, der einen so hintergeht?

"Freihandelsabkommen schafft 100.000 zusätzliche Jobs"
Eric Schweitzer: Zunächst mal ist es immer sinnvoll, wenn man verhandelt und wenn man miteinander spricht. Weil, wenn man nicht miteinander spricht, wird es immer schwierig. Und natürlich muss man wissen, dass das Freihandelsabkommen, was wir sehr befürworten, dass das gemacht wird, in Deutschland über 100.000 zusätzliche Arbeitsplätze schafft, Wohlstand schafft für die Menschen und es unserem Land dann besser geht.

Natürlich gehört auch in diese Gespräche mit hinein, dass wir auch über das Thema des Abhörens sprechen, dass man das aufklärt und dass man auch sicherstellt für die Zukunft, dass man so zwischen Freunden miteinander umgeht, wie man das auch im Privatleben tut, dass man also nicht Dinge macht, die der andere nicht weiß und sich dann hintergangen fühlt.

Deutschlandradio Kultur: 100.000? Woher nehmen Sie die Zahl? Haben Sie da Berechnungen angestellt?

Eric Schweitzer: Der DIHK, das heißt, die deutsche Wirtschaft hat hierfür Berechnungen angestellt. Das gilt für die Vereinfachung des Handels zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik. Es geht um niedrigere Zölle und verschiedene andere Dinge, so dass wir mehr Produkte absetzen können in den USA. Und Freihandel heißt immer – gerade für die deutsche Wirtschaft, die ja sehr exportorientiert ist – ein Vorteil. Und für die deutsche Wirtschaft ein Vorteil ist auch für die Menschen in unserem Land ein Vorteil.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schweitzer, sollte man dann bei den Verhandlungen nicht so eine Art Verhaltenskodex auch für die Datenerfassung mit einbauen?

Eric Schweitzer: Na klar muss man darüber sprechen auch bei den Verhandlungen, wie man zukünftig miteinander umgeht. Dazu muss man aber auch erstmal wissen, wie wir bisher miteinander umgegangen sind. Das muss man feststellen. Und dann sollte man auch gegenseitig vereinbaren, dass man vertrauensvoll auch bei dem Thema der Nachrichtendienste miteinander umgeht. Zum Teil profitieren wir ja auch davon, das heißt, insbesondere in der inneren Sicherheit. Nur das Maß muss hier so gehalten werden, dass man es nicht negativ nutzt.

Deutschlandradio Kultur: Sind Sie eigentlich zuversichtlich, dass die Freihandelsabkommensverhandlungen jetzt schnell auf den Punkt gebracht werden können, dass wir da schnell Fortschritte erzielen?

Eric Schweitzer: Wir müssen sehr daran arbeiten. Die deutsche Wirtschaft hat daran ein hohes Interesse. Das ist ein sehr komplexes Verfahren. Schnell, gerade in internationalen Verhandlungen, geht selten etwas. Aber wir müssen darauf drängen, dass es dazu kommt, weil, wie gesagt, für die Menschen in Deutschland ist es gut.

Deutschlandradio Kultur: Auch selbst, wenn die Menschen dann hier hormongezüchtetes Rindfleisch dann akzeptieren müssten?

Eric Schweitzer: Das natürlich nein. Das sind ja die Punkte, weswegen man verhandelt. Das heißt, in USA gibt es auch zur Gentechnik andere Auffassungen als bei uns. Wenn alles bereits identisch wäre, bräuchte man nicht verhandeln, sondern einen Vertrag unterschreiben. Und natürlich sollen keine Dinge gemacht werden, die wir in Deutschland nicht wollen, genauso andersrum aber auch. Und darüber verhandelt man und muss zu einem Ergebnis kommen.

Das führt übrigens auch, Herr Birke, zu dem Punkt, dass ich nicht glaube, dass es schnell geht. Aber wenn man nicht etwas anfängt, kommt man auch nicht zu einem Ergebnis. Und deswegen müssen wir jetzt anfangen, müssen drüber zügig verhandeln und versuchen zu einem Ergebnis zu kommen.

Deutschlandradio Kultur: Und Sie haben auch Verständnis dafür, dass die Franzosen den Kulturbereich zum Beispiel ausgenommen haben?

Eric Schweitzer: Aus französischer Sicht kann ich das verstehen. Ich glaube, generell in Verhandlungen, wenn man in Verhandlungen geht und eine Seite oder die andere Seite, egal, um was es auch immer geht, verschiedene Sachen komplett immer ausschließt, macht Verhandlungen nicht einfacher, macht im Übrigen auch eigene Positionen nicht einfacher. Deswegen ist es immer schwierig. Wenn ich was ausschließe, schließt der andere auch was aus. Und dann ist es schwierig, einen Kompromiss zu finden.

Deswegen, glaube ich, ist es besser zu sagen klar, was will man nicht und was will man. Der andere sagt das auch und dann muss man zu einem Ergebnis kommen.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben eben über die Beschäftigungswirkungen eines möglichen Freihandelsabkommens gesprochen. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag hat ausgerechnet, 100.000 Jobs könnten so geschaffen werden. Sie vertreten ja immerhin 3,6 Millione gewerbliche Unternehmen in der deutschen Wirtschaft, Ihre Mitglieder.

Wie dringend ist für unsere exportlastige Wirtschaft ein Wachstumsschub? Denn Ihre Experten haben auch ausgerechnet in ihrer Sommerprognose, dass das Wachstum dieses Jahr ja nur halb so hoch ist wie ursprünglich angenommen, nämlich nur 0,3 Prozent in diesem Jahr.

"Vor zehn Jahren galt Deutschland als kranker Mann Europas"
Eric Schweitzer: Zunächst mal, die USA sind außerhalb der Europäischen Union unser wichtigster Wirtschaftspartner, das heißt, unser wichtigster Absatzmarkt, wohin wir Produkte verkaufen, und ist damit auch für einen erheblichen Teil der Arbeitsplätze und des Wohlstandes in Deutschland mit verantwortlich. Deswegen ist es wichtig, dass wir hier zu einem Ergebnis kommen sollten.

Zur Lage der Wirtschaft in Deutschland habe ich zum Teil den Eindruck, dass – wenn man politische Diskussionen verfolgt – alle glauben, Deutschland ist ein Schlaraffenland, uns geht’s uneingeschränkt gut, unseren Nachbarn geht’s uneingeschränkt schlecht. Und dieser Zustand ist gottgegeben.

Ich erinnere nur zehn Jahre zurück, da galten wir als der "kranke Mann Europas", und wie schnell sich solche Dinge auch ändern können. Wir sind zurzeit, in Deutschland geht es uns besser als unseren Nachbarn, wir sind aber in einer sehr volatilen Situation. Das heißt, wir werden dieses Jahr, wenn's gut geht, 0,3 Prozent Wachstum haben. Das ist vom Grunde her kein Wachstum. Und deswegen sind alle Maßnahmen, die dazu führen, dass wir gerade in der Industrie innovativ sind und unsere Produkte ins Ausland verkaufen können, auch stärker, gut und alle Maßnahmen, die das verhindern sind schlecht für die Menschen.

Deutschlandradio Kultur: Was drückt denn aufs Gemüt? Ist das diese schwelende Krise in Südeuropa, das heißt Griechenland, Spanien, Portugal, Italien, auch Frankreich, hängt das alles so wie ein Damoklesschwert über der Konjunkturentwicklung?

Eric Schweitzer: Wir verkaufen cirka 50 Prozent unserer Produkte in die Europäische Union. Und gerade in den südlichen Ländern in der Europäischen Union geht es wirtschaftlich nicht gut. Wenn es dort wirtschaftlich nicht gut geht, verkaufen wir deutlich weniger in diese Länder. Das ist nicht gut. Das heißt, wir müssen zu einer stärkeren Stabilität in der Europäischen Union kommen. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass es in diesen Ländern wieder wirtschaftlich nach vorne geht. Und wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass auch Europa wettbewerbsfähig bleibt im Vergleich zu Südostasien, zu China, zu Indien, zu Südamerika, zu Brasilien, aber auch zu den Vereinigten Staaten.

Und die Vereinigten Staaten haben durch das Fracking, das heißt, durch die neue Art der Energiegewinnung, deutlichen Wettbewerbsvorteil bei den Energiepreisen. Und da müssen wir dran arbeiten, dass die uns nicht abhängen.

Deutschlandradio Kultur: Kann das nur über Sparen, Sparen, Sparen, sprich, Austeritätspolitik, gehen, wie es Frau Merkel, die Kanzlerin, und Finanzminister Schäuble propagieren?

Eric Schweitzer: Ich glaube nicht. Auch aus den Gesprächen, meinen Gesprächen mit Herrn Schäuble als auch mit der Bundeskanzlerin ist für mich nicht ersichtlich, dass es nur um Sparen, Sparen, Sparen geht, sondern bisher, wie ich es wahrnehme, geht es darum: Wie werden diese Länder auch wettbewerbsfähig, damit wir es in Europa insgesamt sind?

Denn man muss natürlich auch eins wissen: Warum sind diese Länder in die Krise geraten? Weil sie deutlich mehr ausgegeben haben als sie einnehmen. Und das geht übrigens in einem Staat genauso schlecht wie im privaten Leben. Wenn man ständig mehr ausgibt, als man einnimmt, dann nimmt das kein gutes Ende. Und das muss geändert werden. Das heißt, es muss in eine Balance. Und diese Länder müssen auch wettbewerbsfähig werden. Das heißt, sie müssen wieder über eigene Wirtschaftskraft auch Einnahmen generieren können.

Deutschlandradio Kultur: Wäre ein vorübergehendes Ausscheren Griechenlands aus dem Euro da vielleicht sinnvoll, um die Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen?

"Es ist wichtig, dass die Krisenländer im Euro bleiben"
Eric Schweitzer: Ich halte das für eine sehr gefährliche Diskussion. Wir haben mal beim DIHK gerechnet. Wenn man Griechenland damals ausgeschlossen hätte aus dem Euro, hätte uns das über hundert Milliarden gekostet als Bundesrepublik Deutschland. Ein Ausschluss Griechenlands aus dem Euro, das hätte knapp fünf Prozent unserer Wirtschaftsleistung bedeutet. Das heißt, die Auswirkungen für uns wären die gleichen gewesen wie nach der Krise 2008, 2009. Und wir alle haben gesehen, was nach der Krise passiert ist. Das war nicht gut. Deswegen ist es richtig, dass wir den Euro haben. Das ist auch sehr wichtig, dass diese Länder im Euro bleiben.

Diese Solidarität kann aber nicht uneingeschränkt sein, sondern das muss immer, wie immer im Leben, Leistung beruht auf Gegenleistung, das heißt, wir sind bereit zu helfen. Das muss dann aber auch dazu führen, dass diese Länder irgendwann auf keine Hilfe mehr angewiesen sind. Und dieses "Irgendwann" muss auch in einem überschaubaren Zeitraum liegen.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben eben ja dieses apokalyptische Szenario von hundert Milliarden skizziert bei einem möglichen Ausscheren, was das gekostet hätte, Griechenlands aus der Eurozone. Droht uns das nicht jetzt durch die Hintertür, weil, alle reden von einem Schuldenschnitt und wir warten einfach nur auf den Wahltermin 22. September und dann werden wir wahrscheinlich wieder alle für Griechenland zur Kasse gebeten.

Eric Schweitzer: Ich hatte über das Thema Griechenland mit Herrn Schäuble vor kurzem ein längeres Gespräch. Die Troika aus IWF, aus EZB und aus der Europäischen Union verfolgt ja sehr, sehr eng die Maßnahmen, die mit Griechenland vereinbart worden sind, um wettbewerbsfähig zu werden, damit sie weiter Geld bekommen. Herr Schäuble sagte mir, und daran haben wir auch im Übrigen aus unseren eigenen Umfragen der Auslandshandelskammern, insbesondere auch aus Griechenland an diesen Aussagen …, Herr Schäuble sagte mir, dass dort Fortschritte gemacht werden, wie im Übrigen auch in den anderen Krisenländern. Das heißt, dass das, was an Strukturmaßnahmen vereinbart ist, auch gemacht wird.

Wir sehen momentan keinen zweiten Schuldenschnitt in diesem oder im nächsten Jahr. Allerdings eine Garantie gibt es nie für irgendetwas. Aber vom Grunde sind die Länder, tun die mehr übrigens als wir hier zum Teil vermuten.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schweitzer, ich möchte den Rhythmus des Gespräches ein wenig ändern und schmeiße Ihnen jetzt einfach mal so ein paar Halbsätze hin und bitte Sie, diese einfach zu ergänzen.

Nachhaltigkeit bedeutet für mich …

Eric Schweitzer: …, wenn man etwas tut, das Ende zu bedenken.

Deutschlandradio Kultur: Recyceln heißt …

Eric Schweitzer: …, ganz wichtige Rohstoffe wiederzugewinnen und die Umwelt zu schonen.

Deutschlandradio Kultur: Die Tatsache, so jung an die Spitze des Deutschen Industrie- und Handelskammertages gewählt worden zu sein, …

Eric Schweitzer: …, schmeichelt meiner Eitelkeit, mit 48 Jahren noch als jung bezeichnet zu werden.

Deutschlandradio Kultur: Der Ausstieg aus der Atomenergie war …

Eric Schweitzer: … nicht änderbar.

Deutschlandradio Kultur: Die Suche nach einem atomaren Endlager …

Eric Schweitzer: … ist notwendig, weil atomare Abfälle in den Kernkraftwerken anfallen.

Deutschlandradio Kultur: Leiharbeit und Werksverträge halte ich für …

Eric Schweitzer: … wichtig, weil sie der Flexibilität der Unternehmen helfen und weil sie im Übrigen den Menschen helfen.

Deutschlandradio Kultur: Deutschlands größtes Handicap ist…

Eric Schweitzer: …, dass wir zu risikoscheu sind.

Deutschlandradio Kultur: Ich bin voriges Jahr aus der FDP ausgetreten, weil…

Eric Schweitzer: … ich dafür private Gründe hatte.

Deutschlandradio Kultur: Die Tatsache, dass meine Firma Alba, eine PLC, also eine Private Limited Company, eine GmbH nach britischem Recht ist, bedeutet …

Eric Schweitzer: …, dass wir damit gerade im Ausland unsere Kunden leichter unsere Rechtsform erklären können.

Deutschlandradio Kultur: Mein größter Wunsch im Leben ist …

Eric Schweitzer: …, glücklich und gesund zu sein.

Deutschlandradio Kultur: Steuergerechtigkeit heißt für mich …

Eric Schweitzer: …, dass jeder die Steuern zahlt, die er auch zahlen soll und muss.

Deutschlandradio Kultur: Die Eröffnung des BER, des Flughafens Berlin Brandenburg erwarte ich für …

Eric Schweitzer: … in näherer Zukunft.

Deutschlandradio Kultur: Der Flughafen Tegel sollte…

Eric Schweitzer: ... weiterhin, bis BER eröffnet wird, genutzt werden.

Deutschlandradio Kultur: Und danach?

Eric Schweitzer: Danach gibt es dafür ein Konzept, wie man es für Wissenschaftseinrichtungen, für einen Technologiepark in Berlin nutzen kann.

Deutschlandradio Kultur: Aber nicht für den Flugverkehr?

Eric Schweitzer: Dafür haben wir den BER.

Deutschlandradio Kultur: Das sind zwei große Infrastrukturprojekte, Herr Schweitzer. Es gibt in Deutschland einen Investitionsstau, was Infrastruktur anbetrifft. Und gerade Sie als Vertreter der deutschen Wirtschaft müssten ja ein Interesse haben, dass mehr Geld eben in den Ausbau der Infrastruktur, in die Logistik der deutschen Wirtschaft fließt. Wie hoch schätzen Sie zunächst einmal diesen Investitionsstau und wo drückt der Schuh am meisten?

Eric Schweitzer: Der Investitionsstau beträgt in Deutschland fünf Milliarden Euro pro Jahr. Der Staat nimmt – Bund, Länder, Gemeinden – nimmt in Deutschland fünfzig Milliarden pro Jahr ein aus Kfz-Steuer, Mineralölsteuer, Ökosteuer und anderen Themen und gibt nur zwanzig Milliarden für die Verkehrsinfrastruktur aus. Deutschland kann unter anderem deswegen nur eine starke Wirtschaftsnation sein, weil wir eine gut funktionierende Infrastruktur haben.

Hier ist in den letzten zehn Jahren Schindluder betrieben worden. Das heißt, man hat auf Verschleiß gearbeitet. Das heißt, wir brauchen deswegen dringend die zusätzlichen Investitionen. Die betreffen unter anderem die Straße. Das heißt, wir haben viele Autobahnen, die in einem schlechten Zustand sind, auch jetzt mal auf Bundesebene betrachtet. Das heißt, wir brauchen sowohl Neubau als auch Instandhaltung bestehender oder Erweiterung bestehender Straßen.

Deutschlandradio Kultur: Dann kommt natürlich immer die klassische Frage: Wer soll das bezahlen? Wer hat so viel Geld? Schauen wir doch mal auf die Steuereinnahmen. Diese Woche kam ja die neue Steuerschätzung raus. Danach sind dem Staat trotz des geringeren Wachstums, über das wir ja vorhin gesprochen haben, 9,7, also fast zehn Milliarden Euro im ersten Halbjahr mehr in die Kassen geflossen als vor Jahresfrist. Warum wird dieses Geld nicht dazu benutzt, ganz konkret die maroden Brücken, das Schienennetz, die Autobahnen, die Sie angesprochen haben, wieder zu sanieren und hier richtig zu investieren, was ja auch Jobs schaffen würde?

Eric Schweitzer: Was ich zumindest aus den Programmen der Parteien, also insbesondere der großen Parteien SPD, CDU als auch FDP wahrnehme, ist, dass es die feste Absicht ist, dieses in der nächsten Legislaturperiode zu tun, dort deutlich mehr zu investieren. Das ist auch zwingend notwendig. Und ich darf Ihnen versichern, daran werden wir als deutsche Wirtschaft auch die Parteien kräftig erinnern, dass das dann auch gemacht wird.

Deutschlandradio Kultur: Sollte dazu auch in jedem Fall der Soli, also dieser berühmte Solidaritätszuschlag in Höhe von 5,5 Prozent auf die Einkommenssteuer, der uns allen abgezogen wird, beibehalten werden über das ursprüngliche Datum hinaus?

"Dramatischer Anstieg der Steuersätze in der Mittelschicht"
Eric Schweitzer: Der Soli ist ja eingeführt worden nach der Wiedervereinigung als Solidaritätshilfe für Ostdeutschland. Das war ja genau ein Jahr. Und danach ist er in die allgemeinen Einnahmen gegangen. Das heißt, er hat zurzeit einen Namen, den er nicht wirklich verdient. Das heißt, es ist eine ganz normale Steuer auf die Einkommenssteuer.

Ich glaube, über den Soli zu sprechen, ob er sinnvoll ist oder nicht, ist sinnvoll im Rahmen der Verhandlungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden über den Solidarpakt, über den Länderfinanzausgleich im Jahre 2019. Und dann gehört er auch auf die Tagesordnung und dann gehört darüber auch diskutiert.

Nur separat über den Soli zu sprechen als Bestandteil vom Grunde her der Einkommenssteuer, ist singulär, alleine betrachtet falsch, sondern dann muss man über … – insbesondere würde ich es begrüßen, eher über die kalte Progression zu sprechen, das heißt über das, was die Mittelschicht auf einmal dramatisch mehr bezahlt, wenn sie etwas mehr verdient. Das gehört abgeflacht und das gehört wieder anständig gemacht.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt, Sie als DIHK-Präsident plädieren dafür, dass wir die kalte Progression abschaffen, beziehungsweise jetzt hatten wir ja kräftige Lohnsteigerungen …

Eric Schweitzer: Deutlich abmildern. Also, natürlich einer, der mehr verdient, zahlt auch mehr Steuern. Nur wir haben gerade bei denjenigen, die zur Mittelschicht gehören, einen ganz dramatischen Anstieg der Steuersätze ab einem relativ geringen Anstieg der Einkommen. Und das gehört deutlich abgeflacht und gerechter gemacht.

Deutschlandradio Kultur: Sollte man das über eine Indexierung, etwa an die Inflationsrate tun, wie das andere Länder ja zum Teil auch machen?

Eric Schweitzer: Das wäre sinnvoll.

Deutschlandradio Kultur: Das heißt also, so wie die Inflationsrate geht, sollte man die Steuergrenzen, also die Einkommensgrenze, ab der gewisse Steuersätze gelten, dann anheben?

Eric Schweitzer: Genau.

Deutschlandradio Kultur: Das würde den Staat natürlich eine kräftige Summe Geld kosten. Das heißt, die muss man ja auch irgendwo wieder reinholen.

Eric Schweitzer: Wir haben in Deutschland kein Einnahmenproblem, sondern wir haben ein Ausgabenproblem. Sie haben es ja gerade geschildert an den steigenden Steuereinnahmen.

Deutschland hat im letzten Jahr – Bund, Länder, Gemeinden – 300 Milliarden Einnahmen. Wir werden in 2017, das heißt, in vier Jahren, das ist morgen, 700 Milliarden Einnahmen haben bei gleichen Steuersätzen wie bisher. Das heißt, der Staat nimmt deutlich mehr ein als die Wirtschaftsleistung wächst. Das kann übrigens am Ende des Tages nicht wirklich gesund sein.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben ja vorhin auch noch mal über diese Finanzierung der Infrastrukturmaßnahmen gesprochen. Wäre es denn nicht sinnvoll, spezifische Steuern, man hat ja die Kfz-Steuer einerseits und man könnte ja auch neben der Lkw-Maut, die ja ohnehin schon erhoben wird, auch eine Pkw-Maut für Ausländer beispielsweise einführen und sagen, dieses Geld muss ganz zweckgebunden für den Ausbau der Fernstraßen eingesetzt werden? Wäre das ein Weg?

Eric Schweitzer: Der Staat nimmt in Deutschland fünfzig Milliarden von den Nutzern für die Verkehrsinfrastruktur ein und gibt nur zwanzig Milliarden dafür aus. Ich würde zunächst mal, bevor wir uns in Deutschland – und da kennt die Kreativität ja keine Grenzen immer mit den Einführung von neuen Abgaben – darüber Gedanken machen, zunächst mal empfehlen, dass man das Geld, was man für die Infrastruktur einnimmt, auch zumindest zum größeren Teil, über 50 Prozent wieder dafür ausgibt, zurzeit nehmen wir 50 Milliarden ein und geben nur zwanzig Milliarden dafür aus, bevor wir uns dann wieder Gedanken machen, wie schröpfen wir die Menschen noch weiter.

Deutschlandradio Kultur: Na ja, man könnte ja sagen, die Deutschen Kfz-Halter bezahlen keine Kfz-Steuer mehr, wie das in Frankreich auch der Fall ist. Und dafür wird eben eine Autobahngebühr für alle erhoben.

Eric Schweitzer: Wenn wir eine Pkw-Maut einführen und parallel um den gleichen Betrag verkehrliche Abgaben, heißt Kfz-Steuer, zum Beispiel absenken, kann man darüber reden. Meine Erfahrung aus der Vergangenheit, dass – wenn man etwas Neues einführt – man dafür eine andere Abgabe senkt, ist sehr begrenzt und hat, glaube ich, bisher noch nie stattgefunden.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schweitzer, wir haben ja vorhin schon ein bisschen über die Steigerung der mittleren und unteren Einkommen gesprochen in dem Sinne, dass man das eben durch Aussetzen der kalten Progression verbessern könnte, die Einkommenssituation dieser Haushalte.

In dem Wahlprogramm der Oppositionsparteien steht ja ein Mindestlohn von 8,50 Euro. Ist das die geeignete Art und Weise, jetzt Menschen, die eine sehr, sehr geringe Entlohnung bekommen, statt Hartz IV nun zu einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen?

"Ein Mindestlohn führt zu weniger Beschäftigung"
Eric Schweitzer: Zunächst mal ist es, glaube ich, wichtiger, wenn der Staat Arbeit finanziert als wenn er Arbeitslosigkeit finanziert. Das hat ja damals zu den Strukturreformen geführt. Zweitens glaube ich, dass ein Mindestlohn über alle Branchen, für alle Regionen in Deutschland nicht dazu führt, dass wir mehr Beschäftigung haben, sondern dass wir weniger Beschäftigung haben.

Ich will es Ihnen erklären: In München werden Sie zu einem Mindestlohn keinen Kraftfahrer finden, der dafür arbeitet, weil die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Einkommensverhältnisse und die wirtschaftliche Kraft deutlich höher ist. In manchen Regionen in Ostdeutschland werden Sie keinen Auftrag bekommen, wenn Sie einen bundesweit einheitlichen Mindestlohn bezahlen. Das heißt, es wird dann eher die Arbeitslosigkeit steigen.

Deswegen plädiere ich dafür, dass wir uns einzelne Branchen anschauen und dass wir dann auch für einzelne Branchen auch Lösungen finden. Das gibt’s ja in Deutschland. Das gibt’s für meine eigene Branche. Dort gibt es einen Mindestlohn von 8,68 Euro. Das gibt es für die Gebäudereinigerbranche und für andere Branchen. Dann können Sie es spezifischer auch an der Lebenswirklichkeit machen und an den wirtschaftlichen Verhältnissen in den einzelnen Regionen in Deutschland orientieren, die zum Teil ja, wie bekannt, sehr unterschiedlich sind.

Deutschlandradio Kultur: Herr Schweitzer, also in diesem Punkt würden Sie das Wahlprogramm von Angela Merkel, also der CDU, unterschreiben? Die fordern ja einen branchenspezifischen Mindestlohn.

Eric Schweitzer: Mein großer Vorteil ist ja, dass ich nicht aktiv in der Politik bin und dadurch auch keine Wahlprogramme oder Koalitionsvereinbarungen unterschreiben muss.

Deutschlandradio Kultur: Aber bleiben wir noch mal ein bisschen bei den Wahlprogrammen, denn die CDU hat ja auch zum Beispiel eine Mütterrente vorgeschlagen, die sie einführen will. Das heißt, 28 Euro zusätzliche Rente pro Kind, das vor 1992 geboren wurde. Das kostet den Staat 6,5 Milliarden. Gleichzeitig tritt die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände auf den Plan und sagt: Alle Arbeitnehmer sollten mindestens bis 67 arbeiten, egal, ob sie die 45 Beitragsjahre haben, ja oder nein.

Schießen da verschiedene Verbände und die Politik in völlig unterschiedliche Richtungen?

Eric Schweitzer: Zunächst mal habe ich Verständnis dafür, dass auch Mütter für Kinder, die vor 92 geboren sind, dafür eine Rente bekommen sollen. Am Ende muss man aber sagen, woraus soll es finanziert werden. Wenn wir alle Wahlversprechen aller Parteien umsetzen würden, bräuchten wir eine zwingende Voraussetzung, dass wir in Deutschland ein Schlaraffenland wären. Denn am Ende des Tages muss es auch alles bezahlt werden.
Deswegen ist manchmal gut gemeint nicht wirklich auch gut gemacht in der Umsetzung, wenn es die überfordert, die es bezahlen sollen.

Zur Rente 67: Das halte ich zunächst mal für richtig. Jetzt müssen wir wissen, wie ist die Wirklichkeit in Deutschland. Circa 60 Prozent der zurzeit 55- bis 64-Jährigen arbeiten. Das heißt, 40 Prozent nicht. Das waren 40 Prozent vor zehn Jahren. Das heißt, es ist deutlich mehr geworden. Wenn wir es erreichen, dass nicht 60 Prozent, sondern 67 Prozent der 55- bis 64-Jährigen arbeiten, würden wir übrigens in Deutschland 500.000 zusätzliche Jobs haben, die wir dringend brauchen aufgrund der Demografie.

Ich würde erstmal, wie gesagt, empfehlen, da Stück für Stück voranzugehen, bevor wir über etwas sprechen, wo wir 100 Prozent wollen, wo wir zurzeit bei 60 Prozent sind. Dann lasst uns gucken, wenn wir bei 90 Prozent sind, wir den nächsten Stepp machen.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt ja diese Ausnahmen für Leute, die schon 45 Versicherungsjahre haben, die auch vor 67 gehen dürfen. Und um die geht es ja.

Eric Schweitzer: Ja nur, bevor ich über Ausnahmen spreche, die ich befreien will, muss ich zunächst mal darüber sprechen, wie haben wir die Situation insgesamt. Wir haben zum Teil in Deutschland das Problem, dass wir uns zu sehr Politik und Gesetze an Ausnahmen machen, die vielleicht immer drei, vier, fünf Prozent ausmachen, und dabei die 90, 95 Prozent vergessen. Wir sollten nicht Politik für Ausnahmen machen, sondern wir sollten Politik für die Mehrheit machen.