Kaiserreich

Der Krieg, das sind unsere Eltern

Porträtfoto des Schriftstellers Ernst Glaeser
Ernst Glaeser (1902-1963) © dpa / picture alliance
Von Wolfgang Schneider · 22.01.2014
Wie fühlte es sich an, 1914 ein junger Mensch zu sein? Das erfährt man nicht aus historischen Werken, sondern aus Romanen, zum Beispiel aus Ernst Glaesers "Jahrgang 1902", der mit einer 100.000er-Auflage zum Sensationserfolg des Jahres 1928 wurde und jetzt wiederzuentdecken ist.
Aus der Perspektive eines zwölfjährigen Gymnasiasten werden die letzten Monate vor dem Kriegsausbruch in einer südwestdeutschen Kleinstadt geschildert. Dabei spielt die große Politik anfangs nur vermittelt in den Schüleralltag hinein. Die wilhelminische Gesellschaft entfaltet sich in leicht karikierten Typen, wie man sie auch aus Heinrich Manns "Untertan" kennt. Hier erlebt man sie mit weniger satirischer Distanz, durch den ausgelieferten Blick des Zwölfjährigen wirken sie bedrohlicher und dreidimensionaler. Da ist der militaristische Sportlehrer Brosius, der einen kränklichen jüdischen Schüler schikaniert, da ist der tückische Polizeichef Dr. Persius mit seinen weißen Handschuhen, da ist eine Reihe weiterer Amtsträger, die für deutsche Weltgeltungsansprüche bei tief provinziellem Habitus stehen.
Der Tuchhändler Silberstein wird mit antisemitischem Argwohn beobachtet: Hisst er am Nationalfeiertag nicht die deutsche Flagge, heißt es, er sei eben "vaterlandslos", hängt er sie doch heraus, gilt er als cleverer jüdischer Geschäftsmann. Das wackere Proletariat verkörpert sich im Heizer Kremmelbein, der sich in den Nachtstunden zum "wissenschaftlichen Sozialismus" weiterbildet, das Bildungsbürgertum in der Mutter des Erzählers, die Zeitungen verabscheut und ständig Hofmannsthal liest. Ein erstaunlich positives Bild des Adels verbindet sich mit dem weltläufigen Major von K., der sich einen freien Blick auf die deutsche Misere bewahrt hat.
Mehr als die Kriegsgefahr machen dem sexuell völlig unaufgeklärten Jungen die ersten Einschläge der Pubertät zu schaffen. Was ist das für ein schreckliches "Geheimnis", das hinter den Fassaden der Erwachsenenwelt lauert? Ungeschickte kleine Liebeleien und homoerotische Übersprungshandlungen bringen ihn der Wahrheit nicht näher, bis ihn ein brutaler Metzgerbursche auf schockhafte Weise mit den Tatsachen vertraut macht. Ein beklemmendes Sittenbild.
Heimatfront und Hungerjahre
"Jahrgang 1902" spricht für die Generation derer, die zu jung für den Einsatz in der Materialschlacht waren, die an der Heimatfront den Krieg nachspielten und von schwerer Desillusionierung und Hungerjahren geprägt wurden. Es wird eine etwas larmoyante, aber doch schlagkräftige Klage gegen die verlogen-verschwiegene Welt der "Erwachsenen" erhoben: "La guerre, ce sont nos parents", lautet das Motto des Romans, das vom gleichaltrigen Gaston ausgesprochen wird, mit dem sich der Erzähler beim Kuraufenthalt in der Schweiz anfreundet, bis die Feindseligkeiten der "Erwachsenen" auch diese Freundschaft nicht mehr dulden.
Die Stimmung während der Julikrise und die Kriegseuphorie werden eingefangen wie in einer Live-Reportage. Berichtet wird aber auch, wie der Jubel in der Kleinstadt schnell verfliegt, als der Pfarrer als "Briefträger des Todes" immer mehr Gefallenen-Meldungen austrägt. Auch wenn Glaesers Darstellung öfter mal ins Plakative und Stereotype tendiert – der Roman hinterlässt starken Eindruck, die Beschreibungen sind atmosphärisch, die Szenen prägnant, die Sprache knapp und pointiert, beeinflusst vom Ton der Neuen Sachlichkeit. Man hat bei der Lektüre die Geschehnisse vor Augen, als würde man einen Film sehen. "Ein verdammt gutes Buch", urteilte Ernest Hemingway.

Ernst Glaeser: Jahrgang 1902. Roman
Nachwort von Christian Klein
Wallstein Verlag 2013
389 Seiten, 22,90 Euro

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