Kahlschlag im Schilderwald

Von Andrea Hansen · 28.05.2008
Die niedersächsische Gemeinde Bohmte ist der erste Ort in Deutschland, in dem es Straßen ohne jedes Verkehrszeichen gibt. "Shared Space" - gemeinsam genutzter Raum - heißt das Projekt. Und bedeutet, dass sich die Bohmter auf 400 Metern ihrer Durchgangsstraße von Ampeln, Schildern, Bürgersteigen und Bordsteinkanten verabschiedet haben.
Ortseingangsschild Bohmte. Hier sieht alles noch ganz normal aus. Ein Zebrastreifen, ein paar Schilder, Fahrbahn und Gehweg fein säuberlich durch eine hohe Kante voneinander getrennt. Doch nach wenigen hundert Metern wandelt sich das Straßenbild. Hellrote Pflastersteine so weit das Auge reicht, als einzige Abgrenzung von Fußgänger- und Autofahrerfläche eine Reihe geriffelter weißer Steine. Die sollen auch Sehbehinderten zeigen, wo Autos fahren.

Und Autos fahren reichlich durch Bohmte. Jeden Tag über 12.000. Sie alle müssen jetzt auch die 400 Meter gerecht geteilte Fläche, neudeutsch "Shared Space", durchqueren. Am Anfang und am Ende müssen die Autofahrer durch etwas, was wie ein Kreisverkehr aussieht, aber keiner ist, erklärt Gemeinderätin Sabine de Buhr-Deichsel.

"Das ist eine bewusste gestalterische Maßnahme von uns, die wir gewählt haben, um den Verkehrsteilnehmer zu verunsichern und über diese Verunsicherung ein Zurücknehmen zu erreichen, eine Vorsicht und eine Reduzierung der Geschwindigkeit, wenn er in diesen Bereich hinein fährt."

Am Straßenrand steht ein Verkaufsbüdchen für Erdbeeren. Ein Logenplatz zur Beobachtung der verunsicherten Verkehrsteilnehmer. Mancher rauscht zügig durch den Ort, wie befreit von der roten Ampel, die früher den fahrenden Bürger bremste. Doch die meisten, das beobachtet die Verkäuferin im Erdbeerbüdchen täglich, pirschen sich vorsichtig an die neue Situation heran, vor allem an die Kreisel:

"Es wird ein bisschen langsamer gefahren. Aber ich glaube, vielen ist auch nicht so wirklich klar, wie ist dort die Verkehrsregelung - also rechts vor links oder hat der, der sich im Kreisel befindet Vorrang. Da sind schon etliche sehr zurückhaltend."

Die Bewohner von Bohmte fordern die Rücksichtnahme ein. Zwei Frauen spazieren selbstbewusst mitten durch den Kreisel. Keiner hupt, die Autofahrer sind wahrscheinlich zu sehr damit beschäftigt, ohne Schilder klar zu kommen. Oder sie haben die neue Fahrfreiheit schon verinnerlicht, hofft Gemeinderätin de Buhr-Deichsel. Denn Autofahrer müssen in Bohmte nur noch zwei Sachen.

"Sie können auch den Weg hier geradeaus, ohne dass sie die Mittelinsel umrunden, wählen. Das wäre in diesem Falle nicht falsch. Sie müssen nur die Grundregel rechts vor links beachten."

... und ganz viel Rücksicht, wie im Paragraf 1 der Straßenverkehrsordnung gefordert, müssen alle aufeinander nehmen. Viele Bohmter sind begeistert. Ein Gastwirt an der Hauptstraße baut schon optimistisch einen Außenbereich:

Junge Mutter: "Ich finde, das ist 'ne tolle Sache, das ist auch ein richtig schöner Platz hier geworden."
Junges Mädchen: "Mit den Ampeln sah das auch ein bisschen doof aus." Junge Mutter: "Uns gefällt das sehr gut, gerade wegen der Sicherheit für die Kinder, dass man gegenseitig Rücksicht nehmen muss. Es wird auch gegenseitig Rücksicht genommen, also die Autofahrer halten mittlerweile extra an, damit man über die Straße gehen darf."
Mann mittleren Alters: "Das ist kein Konzept für den deutschen Verkehrsteilnehmer. Der Deutsche pocht überall auf sein Recht. Da gibt's keine Rücksicht dem anderen gegenüber, das ist einfach zu wenig ausgeprägt."

Trotz Skepsis kommen auch andere Stadtplaner und wollen von Bohmte lernen. So wie die vier Männer, die ganz gründlich die Straße beobachten und fotografieren.

"Wir kommen aus Hamburg und gucken uns das gerade an. Was positiv auffällt: gar keine Verkehrszeichen. Sieht ja recht ordentlich aus. Ein abschließendes Urteil habe ich noch nicht. An bestimmten Örtlichkeiten könnte ich mir das auch in Hamburg vorstellen, aber selbstverständlich nicht als Flächen deckendes Konzept."

Das tut ja auch nicht Not. Aber der schwarz-grüne Koalitionsvertrag sieht in jedem Bezirk der Hansestadt eine gemeinsam genutzte Fläche à la Bohmte vor. Ihr Alleinstellungsmerkmal könnte die kleine Gemeinde in Niedersachsen also bald wieder verlieren. Aber die Rücksicht wird hoffentlich bleiben.
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