Justiz

Ein Signal für die Überlebenden

Blick in den Gerichtssaal des Frankfurter Auschwitz-Prozesses.
Der Frankfurter Auschwitz-Prozess wurde 1963 im Plenarsaal der Frankfurter Stadtverordnetenversammlung eröffnet. © picture alliance / Roland Witschel
Von Bert-Oliver Manig · 20.12.2013
Der sogenannte Auschwitz-Prozess in Frankfurt gilt als Wendepunkt bei der Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Im Zentrum der Verhandlungen standen 246 überlebende Häftlinge, die sich trotz der psychischen Belastung den Fragen des Gerichts stellten.
Als am 20. Dezember 1963 in Frankfurt ein Strafverfahren gegen Mitglieder der SS im Vernichtungslager Auschwitz eröffnet wurde, war dies eine Sensation: Denn mit Ermittlungen wegen des Massenmords an den europäischen Juden hatte sich die bundesrepublikanische Justiz bis dahin sehr zurückgehalten. Der damalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer über die Ursachen dieses Versäumnisses:
"Der Widerwille war sicherlich im Grunde genommen die Erkenntnis der prozessoralen Schwierigkeiten. Viele Täter waren im Ausland, viele Täter hatten falsche Namen, viele Täter waren möglicherweise gestorben, die Zeugen lebten in Israel, in Südamerika, weiß Gott wo in der ganzen Welt - die Schwierigkeiten waren groß. Unmittelbar nach den Prozessen in Nürnberg kam es zum Kalten Krieg, daraus entwickelte sich eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber diesem Thema."
Bestrafung der Täter nicht Hauptanliegen
Fritz Bauer, der als Opfer des Nationalsozialismus eine Ausnahmeerscheinung in der westdeutschen Justiz war, ließ sich von diesen Schwierigkeiten nicht abschrecken. Es gelang ihm, vor dem Frankfurter Landgericht einen Sammelprozess gegen 21 SS-Leute und einen Funktionshäftling des Lagers Auschwitz anzustrengen. Die Bestrafung der Täter, die bis dahin in der Mitte der Gesellschaft und keineswegs inkognito gelebt hatten, war dabei nicht sein Hauptanliegen. Das zentrale Ziel Bauers war vielmehr die Aufklärung über die Judenvernichtung, die man im Nachkriegsdeutschland gern aus dem Bewusstsein verdrängte. Der Rundfunkreporter Axel Eggebrecht erkannte diese Bedeutung des Prozesses sofort:
"Jetzt bietet sich einmal noch eine große Gelegenheit. Da werden keine Bücher vorgelesen, da werden keine Filme vorgeführt werden. Es wird etwas viel stärker Überzeugendes geschehen. Lebendige Menschen werden sprechen, die damals jeder eine Rolle spielten, als Opfer oder als Täter. Hier wird noch einmal das ganze Ausmaß des Grauenhaften sichtbar werden, das System wird deutlich werden."
Dass der Auschwitz-Prozess diese Erwartung tatsächlich erfüllte, lag nicht an den Angeklagten, die sich als bloße Befehlsempfänger darzustellen versuchten. Im Zentrum des Prozesses standen vielmehr die Zeugen, darunter 246 überlebende Häftlinge, die sich trotz der damit verbundenen enormen psychischen Belastung den Fragen von Staatsanwälten, Richtern und Verteidigern stellten – wie die ungarische Jüdin Magda Szabo:
"Und weil dieser Offizier, der SS-Offizier, der dort war, so schön gesprochen hat und sogar auch ungarisch gesprochen hat, habe ich gesagt: 'Oh, Mama, wie gut wäre es, wenn du sollst dort mit den Kindern sein. Sage, dass Du alt bist.' Und ich wurde von der Reihe hinausgezogen und habe sie nie mehr gesehen."
Wichtiger als das Strafmaß war das Signal
Die Orte des Mordens: die Rampe, an der die Deportierten für die Vergasung oder den späteren Tod nach dem Arbeitseinsatz selektiert wurden, Gaskammer, Krematorium, Krankenbau und Folter-"Bunker" – sie wurden hier in Erinnerungen gegenwärtig. Angesichts dessen mussten die Urteile, die nach 183 Verhandlungstagen im August 1965 gesprochen wurden, enttäuschen: Die als Sadisten überführten Angeklagten wurden wegen vielfachen Mordes zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt, Schreibtischtäter sowie Ärzte und Apotheker, die Selektionen durchgeführt hatten, erhielten wegen Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord Haftstrafen zwischen drei und 14 Jahren. Drei Angeklagte wurden wegen Mangels an Beweisen freigesprochen.
Wichtiger als das Strafmaß war das Signal, das vom Auschwitz-Prozess ausging: Erstmals seit 1945 fanden die zumeist aus Osteuropa stammenden jüdischen Opfer in Deutschland das Gehör einer breiten Öffentlichkeit. Die anschließend auch in Publikationen dokumentierten historischen Fakten besaßen einen großen Wert für die Zukunft, wie Axel Eggebrecht in seiner Würdigung am Ende des Verfahrens hervorhob:
"Es sind furchtbare Tatsachen. Niemand kann sie fortan wegwischen oder bagatellisieren. Und vor allem kann die unbelastete Jugend dieses Landes nun einmal authentisch erfahren, was ihr die Väter aus begreiflicher Scham verschwiegen oder was sie verdrängt hatten. Der große Prozess wurde so gerade bei seinem Abschluss zum wahrhaft großen Ereignis. Zu einem Beispiel, das unser oft noch schwankendes Rechtsbewusstsein stärken kann, und zugleich alle die ermutigen mag, die sich um Menschenwürde, Vernunft und redliche historische Einsicht bemühen. Die schier endlosen 20 Monate sind nicht vergeblich gewesen."
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