Jurist: Karlsruhe wird "die Quadratur des Kreises" nicht gelingen

Christoph Möllers im Gespräch mit Ute Welty · 05.06.2012
Der Berliner Juraprofessor Christoph Möllers hält es für unwahrscheinlich, dass das Bundesverfassungsgericht die Schwierigkeiten im deutschen Wahlrecht gänzlich beheben kann. "Es wird immer irgendwo an irgendeiner Schraube nicht ganz stimmen im Bundeswahlrecht".
Ute Welty: Das deutsche Wahlrecht also wieder mal auf dem Prüfstand, und darüber spreche ich jetzt mit Professor Christoph Möllers von der Humboldt-Universität in Berlin. Dort unterrichtet er Öffentliches Recht und vor allem Verfassungsrecht. Guten Morgen, Herr Möllers!

Christoph Möllers: Guten Morgen!

Welty: Würden Sie heute gerne mit einem der Karlsruher Richter tauschen wollen? Denn selbst für Juristen ist die Materie ja doch einigermaßen kompliziert.

Möllers: Ja, ich würde wahrscheinlich nicht gerne tauschen wollen, weil es in der Tat nicht abzusehen ist, dass man eine Lösung findet, die alle befriedigen wird. Es ist in der Tat ein Dilemma, wir haben ein perfektionistisches Wahlsystem, wir wollen sehr viel vom Wahlsystem, wir wollen, dass es die Parteien widerspiegelt, wir wollen, dass es Direktmandate ermöglicht, wir wollen, dass es föderal gegliedert ist und gleichzeitig doch das Bundesvolk abbildet. Und alles zusammen ist wahrscheinlich nicht zu haben.

Welty: Für wen ist diese erneute Verhandlung besonders unangenehm? Für CDU, CSU und FDP, die die Reform womöglich nicht richtig hinbekommen haben, oder für das Bundesverfassungsgericht, weil die Ansprüche vielleicht zu groß sind?

Möllers: Also ich würde auch erst mal sagen, dass das Gericht selber vielleicht, als es das negative Stimmgewicht 2008 kassiert hat, vielleicht einen Fehler gemacht hat tatsächlich. Denn das Phänomen des negativen Stimmgewichts ist altbekannt. Wenn man es vorträgt, klingt das mal dramatisch, eine Partei wird gewählt und kriegt weniger Stimmen. Aber wenn man ehrlich ist, ist es ein Verrechnungsposten. Also auf dem Wege zu einem Endergebnis kann es passieren, dass in einem Land tatsächlich dieser Effekt entsteht, aber das Ergebnis, das am Ende dann dabei rauskommt, das Gesamtergebnis ist dann vielleicht auch besser.

Das wurde nur so dramatisch, weil wir eine Nachwahl hatten in Dresden, sodass auf einmal alle sehen konnten, was passiert, wenn ein einzelner das Phänomen sich zunutze machen kann. Aber vielleicht war der Preis zu hoch, das gesamte Wahlsystem infrage zu stellen, um diese Phänomen wegzubekommen, was man wahrscheinlich letztendlich nicht völlig wegbekommen wird.

Welty: Dieser Effekt, Sie haben es gerade schon beschrieben, hängt ja zusammen oder kommt zustande, weil Erststimmen und Zweitstimmen und entsprechende Verknüpfungen über den Länderproporz existieren. Müsste man nicht da rangehen? Müsste man nicht vielleicht radikaler denken?

Möllers: Ja, aber wir wollen ja eigentlich alle nicht radikal denken. Ich denke, wir waren immer sehr stolz auf dieses Wahlsystem, wir waren immer stolz, dass es uns gelungen ist, Verhältniswahl- und Mehrheitswahlrecht miteinander zu verbinden und dass wir am Ende auch tatsächlich einen eigenen Wahlkreisabgeordneten haben, aber trotzdem kein Mehrheitswahlrecht haben, weil uns das doch, mehrheitlich jedenfalls glaube ich, ungerecht vorkommt, wenn eine Partei wie in Großbritannien etwa mit 33 Prozent der Stimmen große Mehrheiten im Parlament erringen kann. Also ich denke, erst mal wollen wir das so, und dann müssen wir uns fragen, wo wir dran drehen können.

Welty: Woran können wir denn drehen?

Möllers: Na ja, also ich meine, eine Frage ist natürlich, ob man an den Überhangmandaten dreht, und ich denke in der Tat, Ihre Frage, für wen es unangenehmer ist, für die Mehrheit, für das Gericht oder vielleicht für die Minderheit – es ist insofern, glaube ich, für alle unangenehm, weil wir mit dem Phänomen der Überhangmandate letztlich jahrzehntelang gelebt haben und gesagt haben, na ja, das ist schon ein kleines Problem, aber irgendwie wollen wir es auch nicht endgültig entscheiden, weil es vielleicht nicht so groß ist, dass es eine grundsätzliche Aufmerksamkeit verdient.

Und der Punkt, an dem das Gericht jetzt darüber entscheiden muss und damit endgültig auch einen Verlierer und einen Gewinner dieses alten Streits definiert, der rückt doch näher. Und das wird, glaube ich, für alle irgendwie schmerzhaft werden.

Welty: Für die SPD-Bundestagsfraktion haben Sie zu dieser Frage der Überhangmandate ein Gutachten verfasst, und in dem kommen Sie durchaus zu dem Schluss, dass Überhangmandate problematisch sein können und noch viel problematischer werden.

Möllers: Ja. Also ich persönlich denke auch, dass man sagen muss, dass Überhangmandate in unserem System, das ich letztlich für eines halte – aber das ist ja nämlich gerade die umstrittene Frage, wie man auch sagen muss – bei dem das Zweitstimmensystem, also die Frage der proportionalen Abbildung von Parteien der wesentliche Punkt ist, und nicht die Repräsentation von Wahlkreisabgeordneten. Wenn man das so sieht, dann wird man sehen, dass die Zahl der Überhangmandate doch mittlerweile relativ groß ist, wir haben im aktuellen deutschen Bundestag 24 Überhangmandate, das sind über vier Prozent der Abgeordneten.

Das heißt, Überhangmandate spielen schon eine ziemliche Rolle mittlerweile. Sie sind noch keine Mehrheitsbeschaffer, aber sie sind doch ziemlich wesentliche Mehrheitsverstärker. Und wenn sie Mehrheitsbeschaffer würden, das haben wir einmal erlebt in Schleswig-Holstein bei einer Landtagswahl, die dann auch vom dortigen Landesverfassungsgericht aufgehoben wurde, dann hätten wir, glaube ich, schon ein Legitimationsproblem. Wenn eine Partei, die keine Mehrheit der Zweitstimmen hätte oder eine Gruppe von Parteien trotzdem eine Mehrheit gegenüber einer anderen Gruppe, die das eigentlich erreicht hätte, aber nicht im Parlament abgebildet wäre damit.

Welty: Glauben Sie, dass das Bundesverfassungsgericht im Zuge dieser Verhandlung dazu eine Stellungnahme abgeben wird, denn bis …

Möllers: Ich glaube, sie kommen nicht mehr drum herum. Also ich glaube, die haben – es gibt ja eine berühmte Entscheidung aus dem Jahre 1997, in dem das Gericht sich tatsächlich vier zu vier zu der Frage verhalten hat. Also vier Richterinnen und Richter haben Überhangmandate für verfassungsgemäß gehalten und die vier anderen haben es für verfassungswidrig gehalten. Das ist für ein Gericht natürlich nicht gut. Das stellt so ein bisschen die Funktionalität des Gerichts infrage.

Es war auch nicht gut, weil die parteipolitischen Präferenzen der Richter so ein bisschen doch durchlugten. Das will man auch nicht. Ich denke schon, und wie ich auch das Gericht kenne, und wie ich auch Herrn Voßkuhle kenne, wird das irgendwie eine einheitliche Entscheidung geben, welche auch immer das sein mag. Jedenfalls eine einheitlichere.

Welty: Bundesverfassungspräsident Voßkuhle hat ja angekündigt, wenn das alles nicht funktioniert, mache ich es halt selber. Was halten Sie davon?

Möllers: Ja, das hat er mal so gesagt. Ich glaube, das hat er nicht so gemeint, ich glaube, es ist weder für das Gericht günstig noch wirklich möglich, ein anwendbares Gesetz zu schreiben. Eine Verfassungsgerichtsentscheidung ist immer noch etwas anderes als ein Gesetz, mit dem dann die Wahlorganisation der Bundeswahlleiter und die ganzen Gliederungen arbeiten können. Da ist immer noch ein großer Zwischenschritt. Und das weiß natürlich Herr Voßkuhle auch und es ist auch klar, dass die Quadratur des Kreises, die dem Gesetzgeber nicht gelungen ist, dem Gericht in der Form auch nicht gelingen wird. Es wird immer irgendwo an irgendeiner Schraube nicht ganz stimmen im Bundeswahlrecht.

Welty: Christoph Möllers, Juraprofessor an der Berliner Humboldt-Universität, ich danke sehr für dieses Gespräch!

Möllers: Ich danke Ihnen!


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