Jungs als Emanzipationsverlierer

Von Martin Reischke · 21.06.2007
Schulbiographien gerade von männlichen Jugendlichen sind zunehmend besorgniserregend. Unterrichtsverweigerung und Schulabbruch werden bei Jungen häufiger registriert als bei Mädchen in der gleichen Altersgruppe.
Eltern nehmen ihre Erziehungsaufgabe nur noch unzureichend wahr, Lehrer sind auf die Übernahme dieser Aufgabe nicht vorbereitet. Einer geschlechtsspezifischen Erziehung wird erst in den letzten Jahren größere Aufmerksamkeit geschenkt. Nordrhein-Westfalen hat mit der "Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit e.V." eine Vernetzung geschaffen, in der Schule, Jugendhilfe und andere Verbände und Einrichtungen eng zusammenarbeiten. Sei 1999 ist Jungenarbeit Förderschwerpunkt im Landesjugendplan. Mit Erfolg.

Ein Fußballturnier an einer Gesamtschule in Dortmund. Auf dem Schulhof ist ein Feld aufgebaut, mit kleinen Toren und einer hohen Bande, gegen die die Bälle knallen. Gerade drängelt die nächste Mannschaft auf die Spielfläche.

"Erst die Leute rauslassen, Jungs, erst die Leute bitte rauslassen."

Die Mannschaften sind gemischt. Ein paar Mädchen spielen mit, die meisten aber sind Jungs. Stolz tragen sie die Trikots ihrer Idole: Ronaldo und Ronaldinho, Rosicky oder Zidane. Hier sind sie ganz in ihrem Element. Doch im Schulalltag sehe es oft anders aus, sagt Ulrich Boldt, Lehrer im Hochschuldienst an der Uni Bielefeld.

"Man hat festgestellt: Schulmisserfolg hat ein Geschlecht, das ist männlich, und wir müssen alles tun, um Jungen besser fördern zu können, um auch bestimmte spätere Baustellen in der Gesellschaft zu vermeiden. Ist ja ne Zeitbombe, wenn 10 bis 20 Prozent aller Jungen ohne Schulabschluss die Schule verlassen, die Arbeitsplätze gerade in traditionellen Männerberufen sehr stark zurückgegangen sind oder gänzlich verschwunden sind, dann kann man sich ja vorstellen: Wenn ich nicht handele, dass trotz Hartz IV junge Männer eine unheimliche gesellschaftliche Belastung darstellen."

Dabei geht es nicht nur um die schulischen Leistungen. Denn Jungen und Mädchen entwickeln sich in vielen Bereichen verschieden, sagt Christoph Blomberg, der sich als Professor der katholischen Fachhochschule in Paderborn mit Kinder- und Jugendhilfe beschäftigt.

"Wir haben bei Jungen eher auffälliges, dissoziales Verhalten, bei Mädchen eher selbst zerstörerisches Verhalten, gleichzeitig haben Jungen eine höhere Selbstmordrate als Mädchen, während Mädchen mehr Suizidversuche begehen, also es zeigen sich schon bei der Betrachtung medizinischer Daten Unterschiede, die es sinnvoll machen, auch unterschiedliche pädagogische Konzepte zu entwickeln."

In ganz Deutschland gibt es Sozialarbeiter und Pädagogen, die das erkannt haben. Doch vielerorts fehlt es an Strukturen, um Wissen zu bündeln und sich auszutauschen. In Nordrhein-Westfalen ist das anders. Im Herbst 1998 gründeten einige Männer, die sich schon länger mit dem Thema beschäftigt hatten, die Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit. Gründungsmitglied Renato Liermann erinnert sich.

"Nachdem wir Jahre diskutiert hatten, unsere eigene Arbeit in unseren Einrichtungen vorangetrieben hatten, sahen wir die Notwendigkeit, einen landesweiten Zusammenschluss zu gründen und Fördermittel zu akquirieren und wir haben auch gesehen, dass wir alleine nicht die ganzen Anfragen nach Fachberatung, Begleitung von Arbeitskreisen vor Ort leisten konnten, dass da einfach Kollegen her mussten, die das überregional machten, d.h. irgendwann ne Fachstelle auch eingerichtet werden sollte."

Vier Jahre später war auch das geschafft. Seit 2002 gibt es deshalb die Fachstelle Jungenarbeit in Dortmund. Schon vorher war die Jungenarbeit als Förderschwerpunkt in den Landesjugendplan von Nordrhein-Westfalen mit aufgenommen worden.

Nun kümmert sich ein Fachreferent hauptberuflich um die Förderung geschlechtsbezogener Jungenarbeit, organisiert die Vernetzung untereinander und berät interessierte Jungenarbeiter.

Einer von ihnen ist Thorsten Friedrich. Seit drei Jahren ist er Sozialarbeiter an der Heinrich-Böll-Gesamtschule in Dortmund. Als zertifizierter Jungenarbeiter bietet er verschiedene Workshops nur für Jungen an. Zum Beispiel den sexualpädagogischen Kurs in Klasse Sieben.
"Ich spiele dann mit Vorurteilen, zu sagen: Von Pornofilmen kann ich alles lernen, was ich für das Leben brauche. Da sagen ganz viele Jungen in der Gruppe erstmal: Ja, klar, also wenn ich so einen sehe oder was ich für das Thema Sexualität brauche, ja sicher, und dann gucken wir: Was ist denn im Bereich Pornofilme, was wird denn da dargestellt."

Der 13 Jahre alte Dominik Hönemann erinnert sich noch gut an die Veranstaltung mit Thorsten Friedrich.

"Wir hatten dann auch ein bisschen über die Pornofilme gesprochen und haben auch herausgefunden, dass das nicht alles so realistisch ist, was die das da immer zeigen."

Um das den Jungs zu vermitteln, hat Thorsten Friedrich ein besonderes Konzept.

"Und ich leite das so ein und sage: Mensch, hat von euch schon mal jemand 'Star Wars' gesehen – Oh ja, sind sie sofort alle mit dabei, Star Wars und Junge passt sofort, sage ich: Klasse, - wann habt ihr denn zum letzten Mal ein Laserschwert gesehen in echt – äh, ähh, Laserschwert gibt es nicht – okay, und jetzt gucken wir uns verschiedene Bereiche in Pornofilmen mal an: Wie oft können die denn?, wie lange können die denn?, ist es denn wirklich so: jemand schellt an, macht die Tür auf und sagt: Oh, auf dich habe ich nur gewartet, endlich ein Klempner. In der Regel geht es dann darum, dass der Klempner vielleicht mal die Rohre repariert, aber nichts anderes macht."

So hinterfragt Friedrich zuerst die medial vermittelten Bilder, um sich dann selbst den Fragen der Jungen zu stellen.

"Man kann dann auch einsteigen und sagen: Wie ist denn ein Mann so aufgebaut, was passiert im Rahmen von Erregungen, im Rahmen von Geschlechtsakt und dann kommen dann hinterher sehr detaillierte Fragen, wo klar ist, der Vertrauensschutz ist gegeben, die würden so nie gestellt, die würden auch nie einem Lehrer gestellt und ich trete denen anders entgegen, ich biete mich an, und daraus nehmen die das Angebot auch wirklich an."

Das gilt auch für Achmed El Gour. Nach außen gibt sich der 13-Jährige so laut und selbstbewusst, als wüsste er längst eine Antwort auf alle Fragen. Doch auch er hat sich für den Kurs von Thorsten Friedrich interessiert.

"Es hat mir sehr gefallen, dass wir alles fragen konnten, und es hat mir auch gefallen, dass halt nicht so die Mädchen dabei waren, weil wenn wir unter Jungs waren, war das viel offener, wir konnten offener reden und wenn die Mädchen dabei wären, wäre das nicht so prima."

Aber eine Jungengruppe alleine reicht nicht aus, um für eine offene Gesprächsatmosphäre zu sorgen. Denn schließlich müssen die Jungs sich auch untereinander vertrauen. Dafür muss Friedrich den entsprechenden Rahmen schaffen.

"Und zu Beginn eines Jungentrainings mache ich das dann so dass ich die Jungen erst einmal überrasche, es gibt dann vier Grundregeln, die bedeuten Vertrauensschutz, alles Gesagte bleibt im Raum, Stopp heißt Stopp, ganz wichtig bei entsprechenden Kampfspielen, damit man auch eine Unterbrechung hat, ich statt man bedeutet: Sprich über dich und sprich nicht über die Allgemeinheit und Unterstützen statt Fertigmachen."

Vier klare Regeln, die meistens funktionieren. Auch wenn der Eine oder Andere manchmal noch über die Stränge schlage, sagt Achmed El Gour.

"Ja also öfter hat sich jemand über den Anderen lustig gemacht und dann wurde das sofort geschlichtet."

Doch nicht nur die Jungs müssen Regeln beachten. Auch für Thorsten Friedrich gelten bei der Jungenarbeit andere Grundsätze als für die Lehrer im normalen Unterricht. Denn wenn die Jungen sich öffnen sollen, muss er selber den ersten Schritt tun.

"Und dann fange ich an und erzähl von mir und sag, Mensch, ich bin 37 Jahre alt, ich bin verheiratet, ich habe ein Kind, ich fahr im Sommer gern zur Nordsee und dann gucken mich alle immer ganz komisch an und denken: Was macht der jetzt da?, der stellt sich ja ganz persönlich vor, der gibt persönliche Anteile rein. Und das ist schon so der Anstoß, dass Jungen sich dann auch bereitwilliger öffnen und sagen okay, wenn der persönliche Anteile reinbringt, und ich lerne den ganz anders kennen, dann bringe ich auch was von mir rein."

Dann sind die Jungen auch bereit, Übungen mitzumachen, für die sie im Alltag vielleicht nicht mal ein müdes Lächeln übrig hätten. Kevin Foitzik aus der Klasse 9 erinnert sich an ein Spiel, bei dem es um die Stereotypen des klassischen Männerbildes ging.

"Also es war so ein Seil, ein Meter hoch, zwei, und man durfte das Seil nicht berühren, anfassen, musste irgendwie rüberkommen. Und weil das Seil so hoch war, mussten wir uns rübertragen, hat man so gesehen, was Männerfreundschaften ausmachen können. Dass man viel zusammenhält, dass das gar nicht immer so ist, wie man behauptet, dass die weich sind und so. Man braucht einen besten Freund, um Emotionen freien Lauf zu geben und so."

Männerfreundschaften, Berufsbilder und sexuelle Aufklärung: Die Themen von Thorsten Friedrichs Kursen sind verschieden. Doch das Ziel ist immer dasselbe: Eine bewusste Auseinandersetzung mit eigenen Rolle als Junge und Mann.

Viele Lehrer schätzen seine Arbeit. Einige aber hätten Vorbehalte, sagt Schulsozialarbeiter Friedrich.

"Wir sind ein Kollegium von 80 Leuten, wir haben 1000 Schüler an der Schule, und dann gibt es natürlich ganz unterschiedliche Ansichten zu Jungenarbeit. Es gibt Lehrer, insbesondere junge Lehrer, die sich mit dem Thema schon mal auseinandergesetzt haben und sagen: OK, Jungen brauchen auch Förderung und Unterstützung, klar, ist ein guter Ansatz, nehme ich doch gerne mit an, andere sind im Prinzip genauso mit Vorurteilen behaftet wie andere auch, d.h. die sagen: Selbstbehauptungstraining für Jungen? Das brauchen unsere Jungen bestimmt nicht, die sind laut, die können sich durchsetzen, die raufen sich, also wenn, dann ein Selbstbehauptungstraining für Mädchen, das brauchen wir, dass die sich durchsetzen können, aber für Jungs nicht. Die haben dann wirklich die Idee und den Ansatz nicht verstanden."

Immer wieder versucht Friedrich dann seine Position zu erklären: Dass nämlich auch Jungen erst lernen müssen, ihre Rolle im Leben zu finden. Denn die hat mit den medial vermittelten Ansprüchen oft wenig zu tun.

Auch Michael Schank hat die Erfahrung gemacht, dass Jungen oft nur als selbstbewusste Krachmacher wahrgenommen werden. Der Sozialarbeiter, der mit Jungen in Dortmund sexualpädagogische Gruppenarbeit macht, sieht das anders.

"Das, was Jungen in der Regel erfahren oder wie Jungenarbeit auch oft gesehen wird, ist: Kümmere dich mal um die Jungen, die machen Probleme. Und der Ansatz von Jungenarbeit ist eigentlich der, sich nicht darum zu kümmern, wo Jungen Probleme machen, sondern wo Jungen Probleme haben. Und das ist glaube ich ein ganz entscheidender Unterschied in der Sichtweise."

Die Voraussetzung für Jungenarbeit sei deshalb auch keine jahrelange Ausbildung, sondern in erster Linie die innere Einstellung, meint der Dortmunder Sozialarbeiter Norbert Wemmer.

"Man muss grundsätzlich ne positive Haltung Jungen gegenüber haben, weil Jungenarbeit nicht in erster Linie ne Frage von Methoden und Anwendung irgendwelcher Praktiken ist, sondern letztendlich ne Haltung und wenn meine Haltung Jungen gegenüber wie auch immer begründet ne negative ist, werde ich kein Jungenarbeiter sein können auf Dauer."

Auch die eigene Biografie sollte der Jungenarbeiter genau kennen. Denn nur wer sich mit seiner eigenen Rolle als Mann auseinandersetzt, könne diese Erfahrungen auch in der Jungenarbeit weitergeben, sagt Birol Mertol von der Fachstelle Gender NRW.

"Und das ist denke ich mal auch der Hauptpunkt, dass wir, wenn wir als Erwachsene mit Jungen jetzt in dem Fall arbeiten, dass wir denen an Vorbilder, als Modelle dienen, um nicht die alten, traditionellen Gegebenheiten die weiterzutransportieren, sondern ein Stück weit zu eröffnen und andere Perspektiven mit reinzunehmen, damit Jungs beispielsweise auch sehen können: Hey, guck mal, da haben wir ja sogar noch mehr Möglichkeiten für unser Leben oder für unsere Perspektive."

Das ist es auch, was der 15 Jahre alte Kevin Foitzik aus dem Kurs mit Thorsten Friedrich mitgenommen hat.

"Man hat viele Sachen erfahren, dass durch die Medien der Mann gezeigt wird, wie der Mann sein soll. Durch die ganzen Heldenfilme. Dass der Mann keine Haushaltsberufe machen darf, obwohl die Realität ganz anders aussieht."

Doch auch in Nordrhein-Westfalen sind es noch immer nur einige wenige Pädagogen, die sich mit dem Thema Jungenarbeit beschäftigt haben. Deshalb bietet Sozialarbeiter Norbert Wemmer in Zusammenarbeit mit der Polizei eine Lehrerfortbildung zur geschlechtsspezifischen Arbeit mit Jungen an. Wemmer erklärt dann die Vermittlung sozialer Kompetenzen, die Polizei informiert über Strategien zur Gewaltprävention.

"Diese Lehrerfortbildung hat die Intention, dass das, was da vermittelt wird, in die Unterrichtspläne integriert wird. Also dass beispielsweise Montag die ersten beiden Stunden sind Mathematik und dritte und vierte sind soziales Lernen. Und das macht den Schulen und natürlich auch den Lehrern extreme Probleme, das umzusetzen. Weil es im Hintergrund immer Erlasse gibt, die das eigentlich ausschließen und es somit immer in das Engagement der jeweiligen Direktoren, in die Fantasie, die Kreativität dieser Direktoren gestellt ist, diese Freiräume innerhalb der Schule zu schaffen."

So macht Wemmer immer wieder die gleiche Beobachtung: Das Interesse einzelner Lehrer wird durch fehlende Strukturen ausgebremst.

"Also mit anderen Worten: Es ist nach wie vor schwierig, das Engagement einzelner Lehrer ist gestiegen, aber es ist nach wie vor schwierig, dieses Engagement auch ich nenn es mal strukturadäquat umzusetzen. Die Leute stoßen immer wieder an Grenzen und resignieren dann irgendwann auch."

Ähnliches hat auch Alexander Mavroudis erlebt. Als Fachberater beim Landschaftsverband Rheinland kümmert er sich auch um die Jungenarbeit und versucht mit berufsbegleitenden Weiterbildungen Sozialpädagogen und deren Trägereinrichtungen für das Thema zu sensibilisieren.

"Vereinzelt funktioniert es, vereinzelt erkennen Träger auch, dass es notwendig und wichtig ist, hier dauerhaft den Blick für Jungs zu öffnen und entsprechende Angebote durchzuführen, teilweise ist es aber leider immer noch so, dass Träger und Einrichtungsteams das nicht so sehen, und dann sind es einzelne Personen, und wenn die ihren Arbeitsplatz verlassen oder vielleicht irgendwann das Engagement nicht mehr haben, weil sie auch das Gefühl haben, gegen Windmühlenräder anzukämpfen, das dann diese Arbeit Gefahr läuft eben keine Früchte zu tragen."

Dabei ist ein Erfolg der Jungenarbeit in den vergangenen Jahren unverkennbar: Das Thema sei in der Öffentlichkeit angekommen, sagt Fachhochschulprofessor Christoph Blomberg, der von 2002 bis 2006 erster Referent der Fachstelle für Jungenarbeit in Dortmund war.

"Man muss in diesem Zusammenhang von begünstigenden Faktoren sprechen, auch wenn das etwas traurig klingt, aber die Gesundheitsdaten sind an die Öffentlichkeit geraten und breiter diskutiert worden, Pisa ist breiter diskutiert worden, die Gewaltstatistik hat auch auf die Opferperspektive von Jungen hingewiesen und all dieses hat dann so um 2002 / 2003 dazu geführt, dass es eine größere Akzeptanz, eine größere Thematisierung in der Öffentlichkeit gab."

Dass das so bleibt, dafür könnte in Zukunft auch eine neue Generation von Fachmännern sorgen, meint Blomberg.

"Man sieht es aus meiner Sicht deutlich auch in der Jungenarbeit in NRW, dass wir mindestens mal jetzt eine zweite oder dritte Generation von Fachmännern haben, zum Teil sehr junge Leute, die von den Fachhochschulen und Hochschulen kommen und dieses Thema in der Praxis einfordern."

Doch nicht jeder hält geschlechtsgetrennte Phasen in der Schule für eine gute Idee. Manche wittern auch einen Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten, als Jungen und Mädchen generell auf getrennte Schulen gingen.

Uwe Ihlau arbeitet für die Fachstelle Gender NRW, die sich um Geschlechtergerechtigkeit in der Kinder- und Jugendhilfe kümmert. Er will die Koedukation – also die gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen – nicht abschaffen. Aber auch er plädiert dafür, neue Wege zu beschreiten, denn mit dem Ansatz des uniformen Unterrichts für Jungen und Mädchen sei man gescheitert.

"Also dieses berühmte Beispiel: Ein Affe, Giraffe, Löwe und Elefant stehen vor einem Baum und einer sagt: Ich geb’ euch allen die gleiche Aufgabe, nämlich klettert auf den Baum, das hat so nicht funktioniert, das ist mittlerweile klar, jetzt kommt es glaub ich darauf an, zunächst sich bewusst zu machen: Ich habe es hier mit Mädchen und Jungs zu tun und das was ich tue und wie ich das tue auch bitte schön daraufhin abzustimmen und zu reflektieren und zusätzlich dazu phasenweise geschlechtshomogene Bausteine auch in Schule einzufügen und da damit auch zu experimentieren."

So geht es Uwe Ihlau um den Gesamtblick: Um Geschlechtergerechtigkeit für Jungen UND Mädchen. In der Politik ist dieser Ansatz unter dem Begriff "Gender Mainstreaming" bekannt.

"Im Zuge der Einführung von Gender Mainstreaming als politische Strategie ist es von daher gesehen für uns auch wichtig, vor Ort die Kooperation der Arbeitskreise Mädchenarbeit und Arbeitskreise Jungenarbeit gezielt zu unterstützen und zu fördern, und auch deutlich zu machen, was für einen Gewinn eigentlich beide Arbeitskreise, beide Arbeitsbereiche haben können, wenn sie stärker gemeinsam das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit verfolgen."

Doch momentan ist es vor allem die Jungenarbeit, die in Nordrhein-Westfalen ins öffentliche Interesse gerückt werden soll. Vor kurzem hat das Familienministerium des Landes eine neue Landesinitiative zur Jungenarbeit gestartet, nun wirbt auch CDU-Minister Armin Laschet für das Thema.

Die Kooperation von Jungen- und Mädchenarbeit ist ein heikles Thema, denn beide buhlen nicht nur um öffentliche Aufmerksamkeit, sondern auch um finanzielle Unterstützung. Renato Liermann vom Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft Jungenarbeit sieht das anders. Er glaubt nicht, dass sich Jungen- und Mädchenarbeit in die Quere kommen. Denn der finanzielle Bedarf für Jungenarbeit sei begrenzt.

"Es geht nicht darum, jetzt Millionen für Jungenförderung freizumachen, sondern ganz klar zu sehen, die derzeitigen Bildungsmaßnahmen oder schulischen Maßnahmen treffen nicht unbedingt die Ressourcen, Möglichkeiten und Interessen von Jungen und darüber sollte viel eher nachgedacht werden, als jetzt wieder neue Töpfe aufzumachen."

Ein neues Betätigungsfeld für Jungenarbeit könne zum Beispiel die offene Ganztagsschule sein, sagt Alexander Mavroudis vom Landschaftsverband Rheinland.

"Offene Ganztagsschule bedeutet ja: Öffnung von Schule, außerschulische Träger kommen rein, außerschulisches Personal kommt rein mit anderen Ausbildungen und damit aus meiner Sicht auch die große Chance, dass da verstärkt Kerle sage ich jetzt mal in die Schulen reinkommen."

Doch die Umsetzung ist auch hier nicht ganz einfach. Denn männliche Erzieher sind immer noch selten.

Mitunter gibt es aber auch grundsätzliche Kritik am Konzept, Jungen gesondert zu fördern. Denn auch wenn sie schlechtere Schulergebnisse erzielten – so die Argumentation – seien sie im späteren Berufsleben den Frauen noch immer deutlich überlegen. Das sei einerseits zweifellos richtig, sagt Professor Blomberg.

"Auf der anderen Seite muss man aber auch sagen, dass auch wenn ich das sehe, damit nicht die negativen Schulleistungen von Jungen bagatellisiert werden. Denn es hieße zu ignorieren, dass auch Jungen unter schlechten Schulleistungen leiden, dass wir auch bei Jungen einen großen Satz von schlecht ausgebildeten Jungen haben, die zum Teil ohne Schulabschluss oder ohne Berufsabschluss in der Gesellschaft versuchen ihren Platz zu finden, und denen das nicht gelingt."

Seit fast zehn Jahren arbeitet die Landesgemeinschaft Jungenarbeit mittlerweile daran, diesen Jungen größere Aufmerksamkeit entgegen zu bringen. Denn die Wirkung und die Ergebnisse dieser Arbeit seien bisher noch weitgehend unerforscht, sagt Ulrich Boldt von der Uni Bielefeld.

"Die ganze geschlechtsspezifische Arbeit leidet darunter, dass sie bisher nicht evaluiert worden ist, wenn man von Ergebnissen spricht, dann handelt es sich immer nur Einzelbeobachtungen, die zumeist von den Akteuren selber durchgeführt werden oder veröffentlicht werden, die die Jungenarbeit praktizieren. Das bezieht sich aber auch auf die Mädchenarbeit. Da gibt es ein bestimmtes Dilemma, dass man nicht mit wissenschaftlichen Befunden argumentieren kann."

So sind es vielfach Einzelbeobachtungen, die darauf hindeuten, dass die Jungenarbeit zu Veränderungen geführt hat. Zum Beispiel von Marcus Gehl, der als Lehrer an der Heinrich-Böll-Gesamtschule schon seit mehreren Jahren mit Schulsozialarbeiter Thorsten Friedrich zusammenarbeitet.

"Mein erstes Projekt mit Herrn Friedrich war in der 7. Klasse, die Schüler sind jetzt in der 9. Klasse und ich kann wenn es zu Konflikten kommt ganz einfach so ein paar Schlüsselwörter aus unserem damaligen Workshop sagen und dann harmonisiert sich das ganz viel von alleine, dass ich da gar nicht mehr regulierend eingreifen muss, von daher sehe ich schon, dass das eine sehr positive Entwicklung ist."

Auch Thorsten Friedrich selbst merkt, wie sich die Regeln seiner Workshops in den Alltag übertragen.

"Auch die Stopp-Regel, ganz wichtig, die hören Sie dann später manchmal auf dem Schulhof: Ey, stopp, hör auf damit, lass das sein – setzt sich also irgendwie weiter."

Das sind die Geschichten, die auch der derzeitige Fachstellenreferent für Jungenarbeit, Sandro Dell’Anna, sich wünscht. Denn noch immer schrecke das negative Image der Jungenarbeit als toughe Arbeit mit Problemkids viele potenzielle Interessenten ab.

"Weil die Männer, die Interesse haben an dieser Jungenarbeit, das dann gerne auch dann verlieren, wenn sie halt feststellen, dass sie ständig irgendwie angefragt werden, wenn es um nicht so schöne Dinge geht und es im Grunde darum geht, so etwas wie eine Vorstufe der Polizei zu sein. Und das man da im Grunde in der Zukunft auch sehen muss, dass man das Feld noch mal öffnet auch für eine nicht defizitorientierte Sicht auf Jungen und Jungenarbeit da dann auch noch mal eine höhere Legitimation gewinnt."