Jung, jüdisch, ungarisch

Von Pierre-Christian Fink · 28.09.2012
Vor rund zwei Jahren kam in Ungarn die rechtsnationale Fidesz-Partei von Viktor Orban an die Regierung. Seitdem stehen die Juden des Landes unter Druck. Dennoch bringt eine neue Generation Leben in das alte jüdische Viertel von Budapest.
Freitagabend in einer Altbauwohnung an der Budapester Kiraly-Straße. Hohe Decken, weiße Wände. Im Wohnzimmer sitzen 17 junge Juden im Kreis, manche auf Biedermeierstühlen aus dunklem Holz, andere auf Klapphockern aus grünem Kunststoff. Sie feiern gemeinsam Sabbat, singen zur Gitarre, beten. Neben der Tür sitzt Laszlo Bernard, 22 Jahre alt, Geschichtsstudent. Er trägt ein kariertes Hemd und weite Jeans. Seit knapp einem Jahr wohnt er hier.

"Mir gefällt es hier gut. Diese Wohnung ist voller Menschen, voller Adrenalin. Zugegeben: Man hat deshalb nicht besonders viel Privatsphäre. Aber das ist in Ordnung für Leute wie mich, die gerne in einer Gemeinschaft leben."

Bevor Bernard hierher gezogen ist, lebte er bei seinen Eltern in einem Vorort von Budapest - in der einzigen jüdischen Familie weit und breit. Ein leichtes Ziel für Antisemitismus. Der ist in Ungarn so weit verbreitet wie in keinem anderen europäischen Land: Einer aktuellen Umfrage zufolge denken fast zwei Drittel der Ungarn antisemitisch. Diesen Hass hat auch Bernard gespürt: Seine Mitschüler nannten ihn "Judenschwein".

"In solchen Situationen hat man Angst. Man will sich vor der Welt verstecken und denkt: Hoffentlich entdecken nicht noch mehr Leute, dass ich Jude bin!''"

In der Wohngemeinschaft muss Bernard seine Identität nicht verbergen. Im Gegenteil: Die Wohnung an der Kiraly-Straße ist ein Schutzraum, in dem er sich mit anderen Juden treffen kann.

""Seit ich hierher gezogen bin, habe ich einen Raum, um meine Identität zu leben. Und ich kann sogar den Kontakt zu alten Freunden aufrechterhalten, weil ich hier eine Medizin für meine Krankheit gefunden habe - für diesen jüdischen Teil meiner Identität, mit dem ich früher nicht umgehen konnte."

Bernard gegenüber im Stuhlkreis sitzt die 25-jährige Rita Szabo. Sie ist direkt aus ihrem Büro bei einem Großhändler gekommen, trägt noch ihr Business-Kostüm: einen roten Rock und eine schwarze Bluse.

"Mir gefällt hier die Musik. Und dass Männer und Frauen zusammen sitzen. Ich durfte sogar schon aus der Thora lesen - das war sehr wichtig für mich als Frau."

Überhaupt legt die Shabbat-Gemeinde die religiösen Vorschriften frei aus. Viele der jungen Männer im Raum bedecken ihren Kopf nicht mit einer Kipa, sondern mit einer Baseball-Kappe. Der Rabbiner, selbst erst Mitte 20 und noch im Studium, bricht die Challot-Brote, ohne sich zuvor rituell die Hände zu waschen.

Während der Rabbiner das Brot bricht, holen viele im Raum ihre Smartphones aus den Taschen. Sie lesen Kurzmitteilungen von Freunden oder schauen auf Nachrichtenseiten im Internet. Dort lesen sie immer wieder Berichte über die antisemitische Jobbik-Partei. Gewählt wird sie von fast jedem fünften Ungarn. Rita Szabo macht das Angst.

"Man fühlt den Hass, wenn Jobbik zu Demonstrationen aufruft und die Leute auf den Straßen ihre Parolen schreien. Die Dummheiten, die sie sagen, kann man dann am nächsten Tag in der Zeitung lesen. Die Leute fallen auf so etwas herein, weil es ihnen wirtschaftlich so schlecht geht. Für die Jobbik-Partei würden sie alles tun."

Nur in das jüdische Viertel von Budapest wagt sich Jobbik nicht. Und so ziehen viele ungarische Juden in die Gegend. Erst Anfang des Jahres hat hier eine neue jüdische Schule geöffnet. Seit zwei Jahren gibt es es außerdem einen neuen koscheren Laden. Und fast gleichzeitig entstand die Wohngemeinschaft an der Kiraly-Straße. Hier hilft Rita Szabo oft in der Küche, auch an diesem Sabbat-Abend. Als der Gottesdienst vorüber ist, trägt sie einen großen Topf in das Wohnzimmer und verteilt daraus Kartoffelsuppe.

Beim Essen kommen die jungen Leute ins Gespräch. Der Geschichtsstudent Laszlo Bernard erzählt aus seiner Kindheit - wie er erst mit acht Jahren erfuhr, dass er Jude ist.

"Viele Eltern haben ihre Kinder ganz bewusst nicht zum Judentum erzogen. Ich habe eine ganze Reihe von Geschichten gehört über Leute, die gar nichts von ihren jüdischen Vorfahren wussten."

Denn die Eltern hatten gelernt, ihre Identität zu verbergen – in den Jahrzehnten von Nationalsozialismus und Kommunismus. Heute gehört Bernard zu einer neuen Generation ungarischer Juden. Sie bekennen sich bewusst zu ihrer Religion. Möglich ist das, weil sie in relativer Religionsfreiheit aufwuchsen. Laszlo Bernard wurde 1989 geboren - im Jahr, als Ungarns Außenminister Gyula Horn den Grenzzaun zu Österreich durchschnitt.

"Diese Generation, die in den achtziger Jahren geboren wurde, ist sozusagen an der freien Luft groß geworden. Wir entdeckten unsere jüdische Identität viel früher als unsere Eltern. Und wir hatten viel mehr Möglichkeiten, unsere Kultur besser kennenzulernen."

Bernard geht auf den Balkon und zündet sich eine Zigarette an. Er zeigt auf die Gebäude ringsum: stuckgeschmückte Wohnhäuser aus der Blütezeit der jüdischen Gemeinde vor dem Zweiten Weltkrieg. Doch dazwischen immer wieder gesichtslose Neubauten: Hotels, Bürogebäude, Einkaufszentren. Hochgezogen von Investoren, die hier ein neues Viertel errichten wollen, nur wenige Straßenbahnstopps von der Innenstadt entfernt, für Touristen und Besserverdiener. Doch damit zerstören die Investoren jüdisches Kulturerbe, klagt Bernard.

"Es ist eine Schande. Dieses Viertel ist sehr schön und sehr alt. Es hat eine ganz besondere Atmosphäre. Damit muss man sehr sensibel umgehen - aber was hier passiert, ist etwas ganz anderes."

Bernard engagiert sich für den Erhalt des Viertels - wie rund hundert junge Juden. Zusammen organisieren sie Demonstrationen und sammeln Unterschriften. Sie wollen das Kulturerbe retten – damit in den alten Häusern noch mehr neues jüdisches Leben entstehen kann.