Julian Nida-Rümelin: "Über Grenzen denken"

Es gibt keinen Ausweg aus unserer Verantwortlichkeit

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Das globale wirtschaftliche Ungleichgewicht führt zu Armut und Migrationsbewegungen, sagt Julian Nida-Rümelin © Körber Stiftung / AFP / Delil Souleiman / Combo: Deutschlandradio
Von Martin Tschechne · 15.04.2017
Die globalen Migrationsbewegungen sind die Folge einer entgrenzten Weltwirtschaft, sagt Julian Nida-Rümelin in seinem neuen Buch. Mit offenen Grenzen sind die Ursachen jedoch nicht beseitigt. Es braucht ein neues Verantwortungsbewusstsein - und die Bereitschaft zur globalen Kooperation
Am Anfang stand das Wort der Kanzlerin: "Wir schaffen das!" Julian Nida-Rümelin braucht nicht mehr als ein paar erste Seiten seines Essays, diese gut gemeinte Beschwörungsformel als gleich doppelten Irrtum zu entlarven. Denn erstens hat die Flüchtlingswelle ihren Höhepunkt ganz gewiss noch nicht erreicht, auch wenn Auffanglager und Grenzzäune viele Zuwanderer aus Afrika und dem Nahen Osten zunächst aufgehalten haben. Und zweitens ist der Glaube daran blauäugig, die Probleme der Migration durch die Anstrengung einer überschaubaren Zahl von Gutwilligen – und sei es eines ganzen Landes – bewältigen oder gar lösen zu können. Wer solche Hoffnung hegt oder befördert, der verkennt zunächst die Dimension der Herausforderung, vor allem aber ihre Ursachen.
Was wir 2015 erlebt haben, so stellt der in München lehrende Philosoph, Politiker und Brückenbauer zwischen theoretischer und angewandter Ethik klar: Das war erst der Anfang. Das Symptom einer globalen, strukturellen und immer weiter fortschreitenden Ungerechtigkeit:

Kein Mangel an Ressourcen

"Die Welt ist nicht gerecht, weil Millionen Menschen chronisch unterernährt sind, obwohl die Agrarwirtschaft deutlich mehr produziert, als für die Deckung der Ernährungsbedürfnisse der gesamten Weltbevölkerung notwendig wäre. Die Welt ist ungerecht, weil ein Großteil der Weltbevölkerung im Elend verharrt, obwohl dieses durch fairere Kooperation weltweit zu beheben wäre. Je nach Kriterium für das Elend beläuft sich das auf rund zwei Milliarden Menschen."
Nida-Rümelin gibt sich kämpferisch. Dass der Planet Erde oder auch nur die globale Agrarwirtschaft einfach an ihre Grenzen gestoßen sein könnten, lässt er nicht gelten: Die Fakten sprächen eine andere Sprache. Nahrung und Wasser für alle Menschen, ein Dach über dem Kopf, medizinische Versorgung, ein Zugang zu Bildung, die Möglichkeit, ein Leben in Eigenverantwortung zu führen und zumindest eine theoretische Chance, dem Elend aus eigener Anstrengung zu entkommen – das alles sind für ihn Ziele, die grundsätzlich erreichbar wären. Nicht ein Mangel an Ressourcen sei Ursache der Not, sondern ein Mangel an Moral.
"Wenn diese Armut, dieses globale Elend, das rund ein Drittel der Weltbevölkerung betrifft, unvermeidbar wäre, würden wir es beklagen, aber nicht als Ungerechtigkeit bezeichnen. Nichts spricht aber dafür, dass es unvermeidbar ist."

Die Profite sind so gewaltig wie die Schamlosigkeit

Wo die Not nicht Schicksal ist, sondern Skandal, da gilt es, Schuldige zu benennen. Nida-Rümelin beklagt als wesentliche Ursachen des Ungleichgewichts eine in jeder Beziehung entgrenzte Weltwirtschaft auf der einen Seite und eine in Nationalismen und partikularen Interessen befangene Politik auf der anderen. Dazwischen öffnet sich das Spielfeld für global agierende Konzerne wie Apple oder weite Teile der Textilindustrie, denen die Abwesenheit einer ethisch begründeten und politisch koordinierten Kontrolle zumindest sehr gelegen kommt, um konkurrierende Standorte gegeneinander auszuspielen. Die Profite sind gewaltig, ebenso die Schamlosigkeit, mit der das Geschäft betrieben wird. Das Image als cool, umweltbewusst und sozial lässt sich locker gegenfinanzieren durch rücksichtlose Ausbeutung ärmerer Weltregionen. Kein Wunder also, wenn sich die Menschen dort auf den Weg machen. Doch liegt darin eine Lösung? Für niemanden. Der Ethiker mahnt zur Besonnenheit:
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin blickt am 25.10.2016 bei der Verleihung der Bayerischen Europa-Medaille im Prinz-Carl-Palais in München (Bayern) in die Kamera. Der frühere Kulturstaatssekretär Nida-Rümelin steht laut Staatsregierung als Priesträger «für unser gemeinsames europäisches Erbe von Humanismus und Aufklärung und ist damit auch ein Vorbild der europäischen Idee»
Der Philosoph Julian Nida-Rümelin© picture alliance / dpa / Matthias Balk
"Die Aufnahme von Armutsflüchtlingen in Nordamerika und Europa ist kein vernünftiger Beitrag zur Bekämpfung von Weltarmut und Elend. Dies liegt zum einen am selbst für den Einzelnen sehr hohen Aufwand für die transkontinentale Wanderung, einschließlich der Gefahr, dabei ums Leben zu kommen, es liegt aber auch an den Integrationskosten im aufnehmenden Staat, an dem kulturellen Verlust der Migrierenden und vor allem an den sozioökonomischen Verlusten der in den Elendsregionen Zurückgebliebenen. Ich spreche mich also aus kosmopolitischen und humanitären Erwägungen gegen eine Politik der offenen Grenzen zur Bekämpfung des Weltelends aus."

Anders ist Kooperation nicht zu haben

Das System des Philosophen beruht auf der Integration unterschiedlicher Ebenen, von lokal bis kosmopolitisch. Auf allen ist Verantwortung zu tragen. Was aber geschieht mit dieser Verantwortung, wenn sie vom Individuum auf ein System übergeht? Auf politisches Handeln, auf ein ökonomisches Modell? Wie funktioniert Abwägung? Wer setzt seine Interessen durch? Und wie? Hier kommt Kooperation ins Spiel:
"Das generelle Muster von Kooperation, auch außerhalb von Institutionen, lässt Individuen gemeinsam handeln, indem sie ihren Teil zu einer gemeinsam erwünschten Praxis beitragen und dabei auf die Optimierung ihrer eigenen Interessen verzichten. Anders ist Kooperation nicht zu haben."
Julian Nida-Rümelin war Kulturstaatsminister im Kabinett von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ein Mann mit Bezug zur Praxis also, doch in seinem Denken immer zuallererst ein Philosoph. So ist sein Essay aufgebaut. So liest sich der Text. Da liegt sein Gewinn.

Der Mensch als Spielball der Systeme?

Zu seinem Konzept von Verantwortung gehört auch, dass er seine Gegner beim Namen nennt: die modernen Neurowissenschaften, die Anhänger der Systemtheorie eines Niklas Luhmann, Marxisten und ihre geistigen Erben der Postmoderne, Louis Althusser, Michel Foucault, Richard Rorty – sie alle, so sein Vorwurf, reduzierten den Menschen auf einen Spielball der Systeme, auf ein Opfer der Verhältnisse. Genau das aber, so der Spezialist für angewandte Ethik, sei er nicht:
"Es gibt keinen Ausweg aus der Verantwortlichkeit. Zur conditio humana, zur menschlichen Lebensform, die wir über alle Kulturen und Zeiten teilen, gehört die Fähigkeit, Gründe abzuwägen und entsprechend zu handeln. Wir sind für unsere Praxis verantwortlich. Dies gilt individuell, aber auch kollektiv und politisch."
Das ist die Essenz aus Nida-Rümelins "Ethik der Migration": Wir sind für unsere Praxis verantwortlich.

Julian Nida-Rümelin: Über Grenzen denken. Eine Ethik der Migration
Edition Körber Stiftung, 2017
220 Seiten, 20 Euro

Hören Sie hier auch ein Gespräch mit Julian Nida-Rümelin über sein Buch:
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