Jüdisches Museum in Oslo

Die Geschichte einer geglückten Flucht

Aufnahme vom 20.5.2013
Leif Grusd, der 1942 vor den Nazis nach Schweden floh, ist heute Mitarbeiter des jüdischen Museums in Oslo. © picture alliance / dpa / Robert B. Fishman
Von Robert Fishman  · 02.01.2015
Ein kleines Museum in Oslo erzählt die Geschichte der norwegischen Juden. Mehr als tausend von ihnen konnten vor den deutschen Besatzern nach Schweden fliehen. Leif Grusd war zwölf Jahre alt, als er in letzter Minute der Deportation entkam.
Aus einem Hörbecher, der wie eine große Porzellantasse aussieht, erklingt die Geschichte der Familie Scharf aus Oslo. Das 2008 in einer ehemaligen Synagoge eröffnete jüdische Museum erzählt die Geschichte der norwegischen Juden. 2100 Menschen zählte die kleine Gemeinde im Norden Europas, als 1940 die deutsche Wehrmacht Norwegen in einem Handstreich besetzte. 1100 Juden gelang die Flucht, bevor die Besatzer am 26. November 1942 die verbliebenen Juden in die Vernichtungslager verschleppten. Von den 772 deportierten haben nur 34 überlebt.
"Wir wussten, da würde etwas passieren"
Für die meisten Norweger änderte sich unter der Besatzung zunächst nicht viel, galten sie den Nazis doch als Teil der "germanischen Rasse".
"Die Juden wurden von Beginn an anders behandelt. Schon im Mai 1940 wurden unsere Radios beschlagnahmt. Wir wussten also, dass da etwas passieren würde",
erzählt Leif Grusd. Er war zehn Jahre alt, als die Deutschen in Norwegen einmarschierten.
"Einige Juden wurden von den Deutschen inhaftiert, aber nach einer oder zwei Wochen wieder frei gelassen. Und die Leute dachten, davor muss man keine Angst haben. Wir blieben also. Hier hatten wir unsere Freunde, unsere Familien, wir hatten Arbeit. In ein anderes Land zu gehen, das Leben zu riskieren? Denn wir wussten von Anfang an, es war verboten. Und dann gab es mehr und mehr Einschränkungen für Juden. Und die Menschen dachten immer noch nicht daran, nach Schweden zu gehen; jedenfalls die meisten nicht."
Leifs Mutter erkannte die Gefahr
1942 erschoss ein Norweger auf der Flucht nach Schweden einen deutschen Offizier, der ihn mit einer Gruppe Flüchtlinge festnehmen wollte. Die Deutschen fassten die Flüchtenden noch vor der rettenden Grenze. Wenig später verhafteten die Besatzer Norwegens Juden.
"Ich erinnere mich an Rosch ha-Schana, alle jungen Leute, wir wollten immer in die Synagoge gehen, aber meine Eltern entschieden, nicht hinzugehen. Sie dachten, wenn die Deutschen uns verhaften wollen, wäre es einfach, uns in der Synagoge gefangen zu nehmen – und mein Vater beschloss, sich zu verstecken. Er schaffte es nach Schweden, wir bekamen ein Telegramm, dass das 'Paket' angekommen sei. Und da wir kein Paket geschickt hatten, war uns klar, was damit gemeint war."
Auch Leif Grusds Mutter erkannte allmählich die Gefahr, die ihnen als Juden im deutsch besetzten Norwegen drohte.
"Ich weiß nicht, wie sie die Kontakte hergestellt hat und wie sie das alles gemacht hat, sie wollte auch später nie darüber erzählen. Also, am 12. November, nur zwei Wochen, nachdem sie nach meinem Vater gesucht hatten, wurden auch wir nach Schweden gebracht. Mit der Hilfe von guten Norwegern."
"Die Polizei kam. Sie suchten meinen Vater. Und Mutter sagte, wir sollten sagen, dass mein Vater geschäftlich irgendwo in Norwegen unterwegs sei. Und dass wir seit einigen Tagen nichts von ihm gehört hätten – das Telefon war damals ja auch nicht so verbreitet in Norwegen. Und es gab natürlich keine Handys (lacht) – und wir hatten nichts von ihm gehört. Wir wussten nicht genau, wo er war. So haben wir es der Polizei erzählt. Und dann sind sie gegangen."
Polizei klingelt kurz vor der Flucht
Leif Grusd, ein freundlicher, meist lächelnder älterer Herr hat seine Geschichte schon oft erzählt. Jeden Dienstag arbeitet er im jüdischen Museum.
"Und dann haben wir unsere Flucht nach Schweden vorbereitet. Meine Mutter sagte uns, mir und meiner sechs Jahre alten Schwester, dass wir uns auf einen bestimmten Tag und eine bestimmte Uhrzeit vorbereiten sollten. Und dass wir nur wenige Sachen in unserem Rucksack mitnehmen konnten. Wenig Gepäck. Wir mussten ein Stück laufen. Meine Mutter war nicht besonders kräftig. Meine Schwester war sechs, ich zwölf ... also: nur wenig Gepäck. So standen wir da, es klingelte. Wir dachten es sei der Fahrer, der uns abholen sollte. Aber draußen stand die Polizei."
Noch heute wirkt Leif Grusd dankbar für das Glück, das er und seine Familie hatten.
"Er sah, dass wir anders aussahen als sonst. Und dann das Gepäck, der Rucksack ... und dann lächelte er und zeigte auf das Türschild meines Vaters und sagte: Ich bin nur hier, um zu sehen, wo er ist! Wir erzählten ihm, von Vaters Geschäftsreise und dass er nicht da sei. Und er lächelte nickte und sagte: Danke."
Viel Glück gehabt
Während der bekannteste aller Nazi-Kollaborateure, Vidkun Quisling, in Norwegen regierte und sich Norweger freiwillig zur Waffen-SS meldeten, wuchs auch der Widerstand. 1943 sprengten Widerstandskämpfer im Osloer Hafen ein deutsches Schiff. Viele Norweger halfen Juden und Oppositionellen bei der Flucht. Auch Polizisten.
"Nun damals war das der örtliche Polizist. Wir Kinder spielten immer auf der Straße. Er kannte uns und wusste wahrscheinlich, dass wir Juden waren. Wahrscheinlich wollte er uns warnen. Und als er erkannt hatte, dass Vater nicht von den Deutschen gefangen genommen worden war, war er zufrieden und ging. Nach einiger Zeit kam dann der Fahrer. Eine Art Taxi wartete draußen. Es waren vier, zwei jüdische Männer im Wagen. Ich kannte sie nicht, meine Mutter kannte sie. Wir fuhren dann ungefähr zwei Stunden. Wir sollten dort am Krankenhaus vorbei hindurchfahren. Aber der Fahrer kannte sich nicht aus und musste anhalten. Er fragte eine Gruppe deutscher Soldaten nach dem Krankenhaus. Sie waren sehr höflich und zeigten uns den Weg . Und wir fuhren weiter und dann hielt das Taxi an einem Wald.
Ich erinnere mich noch; wir sollten nur einem kleinen Pfad folgen, dann einem zweiten Pfad, links, weiter folgen und dann sollte dort ein Bauernhaus sein. Aber der zweite Pfad kam zu früh, nach Meinung von Mutter und den beiden Männern; und sie entschieden sich dagegen. Und das war sehr gut. Denn wenn wir diesen Weg genommen hätten, wären wir genau in ein deutsches Lager hineingelaufen. Wir hatten Glück. So ging es weiter, wir fanden den zweiten Pfad, den richtigen, gingen weiter, kamen am Bauernhaus an, von dem wir dachten es sei das Richtige. Es war Nacht, es passierte in der Nacht! Keiner sollte etwas sehen, im November, es war völlig dunkel, im Wald. Sie klopften also an, der Bauer kam heraus, schaute meine Mutter an, schüttelte den Kopf: 'Nein, ihr müsst zum nächsten Bauernhof.' Und das war wieder glücklich. Denn es gab auch norwegische Bauern, die Nazis waren oder es mit den Deutschen hielten. Glück gehabt. "
Fröhliches Kinderleben in Schweden
So schaffte es die kleine Gruppe bis zu einem See an der Grenze, wo sie Fluchthelfer unter dem Strahl eines deutschen Suchscheinwerfers hindurch nach Schweden ruderten.
"Und dann waren wir am Strand, schauten uns um und dann kam eine Gruppe schwedischer Soldaten. Offensichtlich erwarteten sie jede Nacht, dass Leute kamen, sie patroullierten und sie nahmen uns mit, man kümmerte sich um uns. Wir bekamen ein Bett. Und ich erinnere mich, als wir aufwachten, gab es heißen Kakao und gutes Essen, sowas hatten wir längere Zeit nicht mehr gesehen. Wir wurden ins südliche Schweden gebracht, Malmö, da wo die Familie meiner Mutter war, und da blieben wir für den Rest des Krieges. Ich ging in eine schwedische Schule, hatte eine gute Zeit, ich hatte ein fröhliches Kinderleben, die Probleme waren für die Erwachsenen da."
Schwieriger Neuanfang
Von der Vernichtungslagern und der Shoa erfuhren er und seine Familie erst nach dem Krieg.
"Die meisten Norweger konnten zu ihren Freunden, zu ihren Familien zurückkehren, zu ihren Wohnungen und Häusern, ihrer Arbeit ... die Juden konnten das nicht. Ihre Wohnungen waren beschlagnahmt worden, die Jobs wurden von anderen übernommen, wir hatten nichts, wohin wir zurückkehren konnten. Leere Räume ... keine Jobs, Freunde, Familie, niemand war mehr da, alles war weg. Die Norweger konnten sich freuen, wieder ein freies Volk zu sein, die Juden konnten das nicht in gleicher Weise. Wir hatten das Glück, unsere alte Wohnung zurückzubekommen, während des Krieges war sie ein Nazi-Büro gewesen. Sie musste sauber gemacht werden, sah nicht so gut aus. So wohnten wir erst mal im Hotel, für ein paar Wochen. Ich weiß nicht genau, ich kann mir vorstellen, dass es auch Unterstützung durch die norwegischen Behörden gab, damit wir neu anfangen konnten."
Studium im Land der Mörder
Leif studierte. Als ihm die norwegische Regierung ein Stipendium für Deutschland anbot griff er zu.
"Das war die Chance, die mir die Behörden in Norwegen gegeben hatten und nach Deutschland zu fahren, das war schon befremdlich. Ich erinnere mich als ich den Zug nach Kopenhagen nahm, dann einen weiteren nach Deutschland. Als wir zuerst die deutsche Polizei im Zug sahen, die Leute, die sich unsere Tickets anschauten , in der gleichen grünen Uniform, die damals die Soldaten anhatten, ich muss sagen, da hat mein Herz für ein oder zwei Schläge ausgesetzt. Aber man hat sich daran gewöhnt. Und ich muss sagen, es war ein netter Aufenthalt."
Nur zehn Jahre nach dem Krieg studierte ein Osloer Jude, der dem Holocaust knapp entkommen war, im Land der Mörder.
"Es gab lediglich ein Vorkommnis mit deutschen Studenten, aber abgesehen davon – nichts. Einer der deutschen Studenten, ein netter Kerl, ich saß auf meinem Zimmer, mit anderen Norwegern, und aus irgendeinem Grund wurde über Politik geredet. Und dann sagte er was in der Art, dass die Deutschen den Krieg angefangen hätten ... nein Entschuldigung; die Juden hätten den Krieg angefangen, und das konnte ich natürlich nicht tolerieren, und so sagte ich ihm, dass ich ein Jude sei ... und ob er bitte mein Zimmer verlassen könnte. Er war erstaunt, er wusste nicht, dass ich jüdisch war, sonst hätte er das wahrscheinlich nicht gesagt hätte."
Der Deutsche verließ den Raum. Mehr passierte nicht. Leif Grusd zog wieder nach Oslo, gründete dort eine Familie. Seine Tochter studiert in Israel. Er arbeitete dort zeitweise ehrenamtlich in einer Klinik für benachteiligte Kinder. Leben wollte er in Israel nicht, schon wegen des Klimas.
Heute Museumsmitarbeiter
Leif Grusd, inzwischen pensioniert, führt Besucher durch das Museum, das auch seine Geschichte erzählt:
"Der mittlere Teil hier erzählt, was geschah, bevor die Juden verhaftet wurden, zusammengetrieben von den Deutschen. Sie sehen hier Zeitungskopien, deutsche Ankündigungen, wie wir uns verhalten sollten – oder uns nicht verhalten sollten. Auch Bilder aus dieser Zeit ... und hier, im dritten Teil, gibt es Geschichten von Leuten, die das Glück hatten, zu überleben. Es wird erzählt, wie ihre Eltern, ihre Familien verhaftet wurden, wie es ihnen gelang, ins neutrale Schweden zu entkommen."
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