Jüdisches Leben in Breslau/Wroclaw

Das jüdische Erbe der Kulturhauptstadt

Blick über Breslau
Blick über Breslau/Wroclaw: Inzwischen hat sich wieder eine lebendige jüdische Gemeinde entwickelt. © dpa/picture alliance/Forum Marek Maruszak
Von Rebecca Hillauer · 01.01.2016
Das ehemals deutsche Breslau und heute polnische Wroclaw ist Kulturhauptstadt Europas 2016. Bis 1944 gab es dort eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands. Ihre Geschichte ist nur zum Teil gut dokumentiert. Die Historikerin Katharina Friedla hat diese Forschungslücken nun geschlossen.
"Meine Idee war es, diese Geschichte von der Personenperspektive zu zeigen. Also deshalb habe ich so viele ehemalige Breslauer interviewt. Die kommen dann zu Wort. Das sind ihre persönlichen Geschichten, Schicksale, Biografien."
Mitte der 1990er Jahre studierte Katharina Friedla ein Jahr lang in Breslau, dort lernte sie viele polnische Juden kennen. Dank ihrer Sprachkenntnisse – sie spricht Polnisch, Jiddisch, Hebräisch und Deutsch – konnte die Historikerin Akten und Dokumente auswerten, die anderen Forschern verschlossen blieben. In Israel interviewte Katharina Friedla dann noch deutsche Juden, die aus Breslau emigriert waren.
Was sie in ihrem Buch beschreibt, deckt sich mit dem, was Anita Lasker-Wallfisch, die letzte Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz, über ihre Kindheit in Breslau erzählt:
"Wir waren eine typisch jüdische assimilierte Familie. Das Jüdische war absolut nicht betont, aber ich erinnere mich, dass meine Eltern wenigsten zu den hohen Feiertagen in die Synagoge gegangen sind."
Große Gemeinde während der Weimarer Republik
Während der Weimarer Republik, also bis 1933, lebten in Breslau rund 23.000 Juden, darunter rund 2000 Juden aus Osteuropa. Die meisten stammten aus Polen, waren traditionell und religiös-orthodox, und schotteten sich in ihrem Schtetl ab. Die deutschen Juden hingegen gehörten zum liberalen Bürgertum, waren integriert und patriotisch, viele der Männer hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft. Zwischen beiden Gruppen gab es viele Spannungen.
Katharina Friedla: "Alle antijüdischen Gesetze, die nach 1933 erlassen wurden, haben die polnischen Juden eigentlich nicht betroffen, weil die keine deutschen Staatsbürger waren. Das war ja auch eine sehr absurde Situation. Weil zum Beispiel als die deutsch-jüdischen Schüler aus den Schulen dann ausgewiesen wurden, sind dann noch die polnisch-jüdischen Kinder dann in die deutsche Schule gegangen. Das war erlaubt, weil die eben keine deutschen Staatsbürger waren."
Anita Lasker-Wallfisch: "In Breslau gab es nicht eine Art von Getto, wie man das kennt. Aber es war doch irgendwie so ein – ein sanftes Getto. Es hat nicht zu lange gedauert, bis man doch gemerkt hat, dass man langsam in eine Isolation rein gegangen ist. Menschen sind verschwunden, Leute sind ausgewandert. Und für meinen Vater war das ein Riesenproblem, weil erstens war er Frontkämpfer mit einem Eisernen Kreuz Erster Klasse, nicht wahr. Und die deutschen Juden waren doch sehr mit Deutschland verbunden."
Im Oktober 1938 wurden die polnischen Juden aus Breslau ausgewiesen. Einen Monat später kommt es zum November-Pogrom. Rund die Hälfte der deutschen Juden flüchten daraufhin noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aus der Stadt. Andere, wie Anita Laskers Eltern bleiben, bis es zu spät ist. 1942 werden sie deportiert, ein Jahr später auch ihre Töchter Anita und Renate. Die Schwestern überleben dank Anitas Cellospiel. Nach der Befreiung aus dem KZ Bergen-Belsen stand für die damals 19-Jährige fest:
"Nach Hause will ich nicht, nach Breslau. Das schöne Breslau, das inzwischen Wroclaw war. Wen würde ich da wiederfinden?"
Viele andere deutsche Juden kehrten jedoch in ihre nun polnische Heimatstadt zurück. Dass so viele von ihnen überlebten, erklärt Katharina Friedla damit, dass es in Breslau - neben Berlin, Hamburg und Frankfurt am Main - vor dem Krieg die meisten Mischehen gegeben hatte. Die jüdischen Partner wären lange geschützt gewesen. Und auch später hätten sie in den Arbeitslagern oder im Gettolager Theresienstadt größere Chancen gehabt, zu überleben. Doch auch polnische Juden, die in den Außenlagern des KZs Groß-Rosen Zwangsarbeit geleistet hatten, kamen nach Breslau zurück.
Katharina Friedla: "Die beiden Gruppen trafen dann In der Stadt wieder auf einander, und da gab es viele Auseinandersetzungen, viele Probleme. Es waren die deutschen Juden, die die jüdische Gemeinde wieder in der polnischen Stadt reaktiviert haben. Aufgrund dieser Spannungen und Konkurrenzkämpfe haben dann die meisten deutschen Juden dann die Stadt verlassen. Natürlich war das nicht der einzige Grund: Die wurden als Deutsche wahrgenommen und wurden natürlich vom sowjetischen Militär und auch von der polnischen Administration verfolgt. Und die sahen dann für sich keine Zukunft in der Stadt."
Emigration nach Großbritannien
Anita Lasker emigriert nach Kriegsende nach Großbritannien, spielt wieder Cello und gründet in London das English Chamber Orchestra. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kommt sie mit dem Orchester auch in das ehemalige Breslau, wo sie sich überhaupt nicht mehr zu Hause fühlt:
"Ich fühle mich nicht mehr zu Hause, vor allem weil die Häuser, in denen ich gewohnt habe, bis auf eines gibt es nicht mehr. Ich habe mir so gedacht, es ist wie ein Traum, wissen Sie, wenn Sie in Ihrer Stadt plötzlich eine andere Sprache hören. Es hat nicht groß sentimentale Gefühle in mir ausgelöst. Ich habe mir das Gefängnis angesehen, gedacht 'Ah, hier hast du gesessen'. Ich habe mir den Bahnhof angesehen, wo ich verhaftet worden bin. Ich gucke mir dieses Breslau an und sage mir, eigentlich habe ich mit dem überhaupt nichts mehr zu tun."
Dennoch kommt Anita Lasker-Wallfisch im Oktober 2015 wieder nach Breslau. In einem Workshop schildert sie polnischen und deutschen Jugendlichen ihre Erlebnisse im "Dritten Reich". Mit Katharina Friedla, die die Veranstaltung leitet, ist sie sich einig:
"Vielleicht können wir doch etwas aus der Geschichte lernen – und Zeitzeugen sind wirksamer als Geschichtsbücher."
Neues jüdisches Gemeindeleben in Wroclaw
Seit Ende des Kalten Krieges und dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich im ehemaligen Breslau wieder eine lebendige jüdische Gemeinde entwickelt. Es gibt auch eine jüdische Stiftung unter der Leitung der norwegischen Künstlerin Bente Kahan. Mit ihrer Unterstützung wurde die einzig erhaltene Synagoge "Zum Weißen Storch" renoviert. Dort erinnert nun eine Ausstellung an die Geschichte der Juden in der Stadt. Nach Ansicht von Katharina Friedla wird sie von der Bevölkerung inzwischen als Teil der eigenen Stadtgeschichte gesehen.
"Die Stiftung und auch die Gemeinde die haben ein sehr reiches kulturelles Programm. Auch die nichtjüdischen Stadtbewohner, die Polen die nehmen sehr gerne daran teil. Das finde ich schon sehr spannend, das zu beobachten, wie die jetzigen Bewohner sich auch auf das deutsch-jüdische Erbe so zurückbesinnen und die Erinnerung weiter pflegen."

Buchtipps
Katharina Friedla: Juden in Breslau/Wroclaw 1933-1949
Überlebensstrategien, Selbstbehauptung und Verfolgungserfahrungen, Lebenswelten osteuropäischer Juden Bd. 16, Böhlau Verlag, 552 Seiten, 69,90 Euro

Anita Lasker-Wallfisch: Ihr sollt die Wahrheit erben
256 Seiten, Rowohlt Verlag, 8,99 Euro

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