Jüdisches Leben heute

16.03.2011
Jüdisches Leben ist heute in Deutschland überall sichtbar: Synagogen werden wiederaufgebaut, eine junge Generation definiert selbstbewusst ihr Judentum. Der Publizist Olivier Guez befragt prominente Zeitzeugen, wie diese an ein Wunder grenzende Entwicklung möglich war.
Wenn Jorge Semprún ein Buch lobt, verrutschen manchmal die Maßstäbe. "Es ist das Ereignis unserer Jahrhunderthälfte", pries der Schriftsteller und KZ-Überlebende Jonathan Littels umstrittenen Shoa-Schocker "Die Wohlgesinnten" (2006). Olivier Guez’ weniger ambitioniertes Werk "Die Heimkehr der Unerwünschten" lobt Semprun im Vorwort nun als "außerordentlich geglückt". Nach der Lektüre tritt man dieser Meinung gern bei. Guez’ Werk zum jüdischen Leben in Deutschland nach 1945 überzeugt durch die literarische Erzählstruktur und konsequente Vielstimmigkeit. Der Autor vertritt keine steilen vergangenheitspolitischen Thesen, er stellt vielmehr disparate Erfahrungen aus sechs Jahrzehnten und pointierte Standpunkte vor.

Guez hat vom Auschwitz-Überlebenden Arno Lustiger über Barbara Honigmann, die in der jüdischen Gemeinde Ostberlins wirkte, bis zu Wladimir Kaminer als dem bekanntesten jener (nicht praktizierenden) Juden aus Ost-Europa, die 1990 in die untergehende DDR umsiedelten, sehr viele Zeitzeugen besucht. Er portraitiert Lola Waks, die ihre Meinung nie geändert hat: "Für mich sind die Deutschen ewig schuld"; den Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik, der einst aus dem Täterland in den israelischen Kibbuz ging, um bald wieder in die linke Frankfurter Szene zurückzukehren; die Provokateure Maxim Biller und Hendryk M. Broder. Die teils exemplarischen, teils exklusiven Lebensgeschichten haben einen Nenner: der Holocaust bleibt ihnen eingeschrieben, selbst wenn sich jemand vom Judentum restlos distanziert. "Das hört nie auf. Nie hört das auf", zitiert Guez aus Grass’ Novelle "Im Krebsgang".

Olivier Guez recherchiert wie ein Reporter, ist belesen wie ein Zeithistoriker und schreibt wie ein Feuilletonist. Er ergründet die unterschiedlichsten Motive, die Juden zur Rückkehr nach Deutschland bewegt haben. Er besucht Schauplätze jüdischen Lebens vor allem in Berlin, aber auch in Israel und den USA. Einige zeithistorischen Kontexte werden gründlicher ausgeleuchtet, als es für hiesige Leser nötig wäre (die Original-Ausgabe wendete sich ans französische Publikum): so der opportunistische Philo-Semitismus der Adenauer-Ära; der Wandel vieler Linker zu Israel-Gegnern nach dem Sechstagekrieg 1967; die 89er Wende, auf die heftige Konflikte zwischen den Eingesessenen und den zuwandernden osteuropäischen Juden folgten.

Weniger bekannt ist der Umgang der DDR mit den wenigen Bürgern jüdischen Glaubens. Im Stalinismus verfolgt, später im Zeichen des antifaschistisch-kommunistischen Gründungsmythos verleugnet, wurden die Juden in der DDR am Ende ein Faustpfand, mit dem Honecker internationales Renommee (und Geld) erbeuten wollte.

Die Literatur lebender und toter Zeugen – etwa Jean Amérys oder Ralph Giordanos – kann Guez nur streifen; er will sich überhaupt in Einzelheiten nicht vertiefen. Die "Heimkehr der Unerwünschten" liefert stattdessen einen tempo- und abwechslungsreichen, aber stets seriösen Überblick über die widersprüchlichen Entwicklungen vom Holocaust bis zur Eröffnung des Jüdischen Museums Berlin. Fern von Harmoniesucht schreibt Guez am Ende: "Deutschland. Eine metaphysische, irrationale Angst. Aber dort ist das [jüdische] Leben, ein neues Leben, intensiver und dichter denn je seit dem verfluchten Adolf Hitler."

Besprochen von Arno Orzessek

Heimkehr der Unerwünschten. Eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945 - mit einem Vorwort von Jorge Semprún
aus dem Französischen von Helmut Reuter
Piper Verlag, München und Zürich 2011
410 Seiten, 22,95 Euro
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