Jüdisches Leben

"Es herrscht Angst und Schrecken"

Sergey Lagodinsky im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 21.12.2013
Seit Monaten tobt in Berlin, der größten jüdischen Gemeinde Deutschlands, ein erbitterter Streit. Gegner des amtierenden Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe werfen ihm fachliche Inkompetenz und undemokratisches Verhalten vor. Um Joffe loszuwerden, haben sie über 1.900 Stimmen gesammelt und wollen auf diese Weise Neuwahlen erzwingen.
Kirsten Dietrich: Der Streit um den Kurs der Jüdischen Gemeinde in Berlin ist ein Dauerbrenner. Auch hier in "Religionen" haben wir immer wieder darüber berichtet. In dieser Woche nun hat die Auseinandersetzung in der größten jüdischen Gemeinde in Deutschland eine neue Wende genommen. Die innergemeindliche Opposition präsentierte knapp über 1.900 Unterschriften von Gemeindemitgliedern, die Neuwahlen fordern. Sollten die Stimmen gültig sein, sind damit die nötigen 20 Prozent der Gemeindemitglieder erreicht, die jetzige Gemeindeleitung um den Vorsitzenden Gideon Joffe müsste zurücktreten, spätestens im Juni nächsten Jahres würde gewählt. Kann diese Initiative eine wirkliche Veränderung in der Gemeinde bewirken? Und vor allem: Kann sie die Probleme lösen? Darüber habe ich vor der Sendung mit dem Juristen und Publizisten Sergey Lagodinsky gesprochen. Er ist gewähltes Mitglied der Repräsentantenversammlung und Vorsitzender des Kulturausschusses. Und ich wollte wissen, ob sein Name auch einer der 1.900 für Neuwahlen in der Gemeinde ist!
Sergey Lagodinsky: Ich habe auf jeden Fall eine Unterschrift geleistet, ich habe auch diese Initiative unterstützt. Ich war zwar nicht einer der Erstinitiatoren, aber ich fand dieses Anliegen richtig für unsere Gemeinde.
Dietrich: Warum setzt sich ein gewähltes Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde ein dafür, dass diese Repräsentantenversammlung neu gewählt wird, außerturnusmäßig?
Lagodinsky: Es geht nicht nur um die Wahl der Repräsentantenversammlung, sondern damit auch verbunden um eine Neuwahl des Vorstandes. Diese Repräsentantenversammlung, die wir jetzt haben, ist funktionsunfähig aus meiner Sicht, es passiert einfach nichts. Der Vorstand hat die Macht innerhalb der Gemeindestrukturen an sich gerissen und die komplizierten Abläufe sowohl im Verwaltungsbereich als auch im Bereich der demokratischen Legitimation sind einfach durch diesen Vorstand, vor allem durch diesen Vorsitzenden schlicht ausgehebelt. Insofern sehe ich das nur konsequent, dass wir diesen Zustand, den wir haben, also eine nicht existente RV, nicht funktionsfähige RV, jetzt amtlich machen und Neuwahlen anstreben.
Dietrich: Die Kritik richtet sich also auch ganz an die Person, an Gideon Joffe, den Vorsitzenden der Gemeinde. Sie sagen, der Vorsitzende lähmt die Gemeinde. Können Sie das genauer beschreiben, wie sich das äußert?
"Wir haben Mitarbeiter, die absolute Angst haben, es herrscht Angst und Schrecken"
Lagodinsky: Das kann man sehr schwer beschreiben, das muss man erleben. Ich lade Sie ein zu einer der Sitzungen, falls sie noch stattfinden. Ich kenne den Vorsitzenden schon seit Jahren, ich habe mit dem früher zusammen gearbeitet, ich habe ihn in der Opposition als einen Verbündeten erlebt und unterstützt, ich habe ihn jetzt in seiner Eigenschaft als Vorsitzender auf einer Art und Weise erlebt, die mit demokratischen Verhältnissen nichts gemeinsam hat. Es geht damit los, dass die RV nicht informiert wird, die Vorstandsmitglieder werden nicht informiert, wir können keine Protokolle der Vorstandssitzungen sehen, uns werden Beschlüsse aufgezwungen. Und er hat ja eine Zweidrittelmehrheit, er ist sozusagen mehrheitsdemokratisch legitimiert, aber diese Mehrheit ist absolut unkritisch sich selbst gegenüber, ihm gegenüber. Diese Mehrheit, das kennen wir ja aus anderen Staaten, dass solche großen Mehrheiten tödlich sind für demokratische Verhältnisse und für die Lebendigkeit in der Gemeinde.
Wir haben Mitarbeiter, die absolute Angst haben, es herrscht Angst und Schrecken unter Mitarbeitern, wir haben ja einige Hunderte davon. Sachen funktionieren nicht, es ist nicht nur sozusagen atmosphärisch, sondern es ist auch handwerklich. Wir haben ganz klare handwerkliche Unfähigkeit dieses Vorstandes, Sachen anzuschieben. Und was nicht unwichtig ist, dieser Vorstand hat es gewagt und hat vorangetrieben eine Frontalkonfrontation mit dem Senat, ohne die eigenen Hausaufgaben gemacht zu haben. Sie haben weder die nötigen Unterlagen dem Senat eingereicht, noch die nötige Kommunikation mit dem Senat angestrebt und eingeleitet. Stattdessen haben sie praktisch gerichtliche Schritte eingeleitet. Und man soll nicht vergessen, wir sind eine Gemeinde, die strukturell von Finanzhilfen des Landes Berlin abhängig ist.
Dietrich: Sie meinen damit die Auseinandersetzung mit dem Senat um die Zuschusszahlung, die der Senat seit einem Jahr um monatlich 100.000 Euro gekürzt hat, weil es gar keinen Haushalt gibt, keinen Haushaltsplan, der den Anforderungen genügt. Nun sagt Gideon Joffe ja, er habe den Haushalt saniert, das Defizit sei von vier Millionen Euro auf jetzt 300.000 geschrumpft, die Opposition sagt, das sind alles Bilanztricks, davon ist nichts geschehen. Wie sieht denn die finanzielle Lage da jetzt aus?
"Innerhalb der Gemeinde kriegen wir keine Hilfe"
Lagodinsky: Gerade das meine ich, ich kann Ihnen diese Frage nicht beantworten. Weil diese Frage auch uns gegenüber nicht beantwortet wird. Der Finanzplan, um den es hier geht, da fehlt eine Stellenplanung. Also, ein Stellenplan, was nach gesetzlichen Vorgaben erforderlich ist für einen Finanzplan. Derselbe Vorstand strebt immer wieder Beleihung von Grundstücken an, und Grundstücke, über die wir nichts wissen. Es wird uns nicht gesagt, zu welchen Konditionen und welche Immobilie beliehen werden soll. Es wurde ein Beschluss durchgeboxt, ohne dass wir überhaupt Fragen stellen durften. Leider kriegen wir keine Hilfestellung bei der deutschen Gerichtsbarkeit, denn sie verstecken sich hinter dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Autonomie religiöser Gemeinden. Aber auch innerhalb der Gemeinde kriegen wir keine Hilfe, denn der Schiedsausschuss, den wir für solche Fälle haben, existiert nicht. Und dieser Vorstand stellt diesen Punkt immer hinten an bei der Tagesordnung und de facto kommt es dann zur Verhinderung der Neubesetzung des Schiedsausschusses.
Dietrich: Welchen Spielraum für Veränderung hat denn eine Initiative für Neuwahlen in einer solchen Situation überhaupt, also, was kann sich de facto überhaupt wirklich ändern?
Lagodinsky: Diesen Spielraum und, wie ich finde, den einzigen Spielraum, den wir als oppositionelle Repräsentanten – und unsere Opposition ist sehr vielfältig, es ist nicht so, dass wir eine Gruppe sind –, wir haben diesen Spielraum jetzt wahrgenommen durch diese Kampagne. Und dadurch, dass wir eben die nötigen Stimmen – ein Fünftel der Gemeindemitglieder – eingereicht haben bei der Gemeindeführung, aus meiner Sicht ist damit die Repräsentantenversammlung nicht mehr existent. Denn so sehe ich die Satzung, dass mit der Stellung dieser Anträge die Legislaturperiode der Repräsentantenversammlung endet. Danach gibt es jetzt 60 Tage Überprüfungszeit für den jetzigen Vorstand, und dann, anschließend, muss es innerhalb von 30 Tagen zu Neuwahlen kommen. Das ist der einzige Weg, den ich jetzt sehe. Ich bezweifle aber auch, dass dieser Weg uns offen bleiben wird.
Dietrich: Was heißt das, wieso bezweifeln Sie das? Sie haben doch die Unterschriften jetzt vorgelegt!
Lagodinsky: Ich kenne leider mittlerweile die Art und Weise, wie dieser Vorstand arbeitet. Und ich kenne auch die Vorbilder, an denen dieser Vorstand sich orientiert. Ich befürchte, dass es innerhalb dieser 60-tägigen Frist heißen wird, obwohl diese Unterschriften beim Notar oder vom Notar überprüft und bei ihm hinterlegt worden waren, ich kann mir vorstellen, dass die Gültigkeit der Unterschriften nach bestem Beispiel aus, sagen wir mal, unseren osteuropäischen Nachbarn, angezweifelt wird und dadurch die nötige Anzahl der Unterschriften infrage gestellt wird, obwohl diese Anzahl jetzt schon weit mehr über ein Fünftel liegt. Und dann werden wir dasitzen und keine Möglichkeit haben, dagegen rechtlich vorzugehen.
Dietrich: Sie sprechen das jetzt auch an, es wird ja immer wieder betont oder es wird die Vermutung diskutiert, dass hinter diesen ganzen Auseinandersetzungen so was wie eine kulturelle Auseinandersetzung steht zwischen alt eingesessenen, eher aus West-Berlin stammenden Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde und solchen, die aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion in den letzten Jahren nach Berlin gekommen sind, dort zum Wachstum der Gemeinde beigetragen haben. Kann man diesen Verlauf zwischen den Grenzen, zwischen den Gegnern wirklich so einfach beschreiben?
Lagodinsky: Ich bin gegen diese Vereinfachung immer gewesen. Ich bin sozusagen auch selbst eine gewissermaßen Verkörperung des Widerspruchs dagegen. Also, ich bin selber erst seit 93 18-jährig nach Deutschland gekommen, meine Unterstützer sind in beiden Lagern, also kulturell gesehen. Was ich aber sehe, ist, dass dieser Vorstand und vor allem dieser Vorsitzende, den ich nicht als russischsprachig bezeichnen werde, der spricht gebrochenes Russisch, der ist hier in Deutschland aufgewachsen, der ist ein Produkt dieser Gesellschaft in dieser Berliner Gemeinde. Was er aber kann, er kann sehr gut instrumentalisieren. Und er instrumentalisiert sowohl die Mechanismen als auch die Psychologie der Zuwanderer, die in vielen Teilen auch ältere Menschen sind, die sich nicht informieren können, nicht aus unabhängigen Quellen, deutschsprachigen Quellen informieren können. Und dadurch entstehen diese Instrumentalisierungsmethoden. Und wenn man solche Leute hat, dann kann man mit denen auch so umgehen, wie mit denen in ihren ehemaligen Heimatländern umgegangen wird. Und da sehe ich ganz klare Parallelen, dass hier – ich will jetzt nicht zu weit in die Geschichte zurückgreifen –, aber zumindest die Zustände, die wir hier heute in der russischen Duma und der russischen Regierung beobachten können, dass die hier fast eins zu eins übernommen werden.
Dietrich: Das ist ein düsteres Bild, das Sie zeichnen. Was wäre so eine optimistischere Vision für die Gemeinde? Oder gibt’s die überhaupt, eine optimistische Vorstellung, was die jüdische Gemeinde in Berlin sein kann oder werden kann?
Lagodinsky: Die optimistische Vision der Gemeinde sind ihre Mitglieder, sind Individuen abseits aller institutioneller Probleme. Wir haben junge Leute, die fähig sind, die willig sind, Sachen anzupacken, wir haben neue Initiativen, die hier in Berlin entstehen, religiöse, kulturelle, politische Initiativen, ich selbst habe einen Verein, Initiative Schalom, wo wunderbare junge Leute sich absolut schön engagieren, wir machen einfach unsere Sachen, wir machen politische, kulturelle Veranstaltungen abseits der Gemeindestrukturen. Das ist jetzt die einzige Alternative, die ich sehe. Denn die Gemeinde ist weder politisch noch kulturell funktionsfähig. Aber das ist auch die einzige Hoffnung, die ich sehe. Wenn ich sehe, wie diese Menschen, auch die, die sich in der Initiative, dieser Unterschrifteninitiative engagiert haben, mit welcher Verve, mit welcher Leidenschaft sie für ihre Gemeinde und für das jüdische Leben hier eintreten, dann wird mir warm am Herzen und dann glaube ich an die Zukunft. Leider an eine mittelfristige und langfristige Zukunft, kurzfristig wird es noch einige Kämpfe geben.
Dietrich: Aber an diesem Konzept der Einheitsgemeinde, in der alle verschiedenen Strömungen unter einem Dach vereint sind, an dem wollen Sie auf jeden Fall festhalten?
Lagodinsky: Ich persönlich möchte so lange wie möglich an diesem Konzept festhalten, denn alles andere, jegliche Abspaltung, die heutzutage stattfinden würde, würde zu einer kulturellen oder sozialen Segregation führen. Das heißt, ältere und vielleicht nicht sehr gut in diesem Kulturkreis integrierte Mitglieder würden in der alten Gemeinde bleiben und alle anderen, deutschsprachig, wohlhabend, würden sich abspalten. Denn nur so ist es möglich, auch finanziell. Das ist nicht eine Vision der Gemeinde, die ich vertrete und immer vertreten habe. Insofern glaube ich weiterhin und möchte weiterhin daran arbeiten und darauf hinarbeiten, dass diese Einheit bewahrt wird.
Dietrich: In der Jüdischen Gemeinde zu Berlin fordern 20 Prozent der Gemeindemitglieder Neuwahlen der Gemeindeleitung. Ich sprach darüber mit Sergey Lagodinsky, Mitglied der Repräsentantenversammlung und Vorsitzender des Kulturausschusses.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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