Jüdischer Widerstand

Das mutige Mädchen

Zwei Juden, die sich in einem Haus versteckt hatten, werden von SS-Soldaten gefangen genommen. Die Aufnahme entstand während des Warschauer Ghetto-Aufstands, der vom 19. April 1943 bis zu seiner blutigen Niederschlagung am 16. Mai 1943 dauerte. Die Nationalsozialisten hatten ein Jahr nach der Besetzung Polens im November 1940 in Warschau ein Ghetto errichtet und dorthin annähernd eine halbe Million Juden verschleppt. Zwischen Juli und September 1942 wurden 300 000 Opfer in den Todeslagern, die meisten in Treblinka, ermordet. Als am 19. April 1943 die SS mit der Verschleppung der restlichen 60 000 Ghetto-Einwohner begann, leisteten mehrere hundert militärisch organisierte Juden bewaffneten Widerstand. Bei den Kämpfen wurden etwa 14 000 jüdische Aufständische getötet.
Zwei Juden werden während des Aufstands im Warschauer Ghetto von SS-Soldaten gefangen genommen (1943). Dass es auch im Ghetto Wilna jüdischen Widerstand gab, ist kaum bekannt. © picture alliance / dpa
Von Julia Smilga · 25.04.2014
Das jiddische Lied "Still, die Nacht ist voller Sterne" wird immer wieder als Weihnachtslied bezeichnet. Doch eigentlich erzählt es die Geschichte der jüdischen Widerstandskämpferin Vitka Kempner aus dem litauischen Ghetto Wilna. Es beweist, dass es dort jüdischen Widerstand gab.
Die instrumentale Bearbeitung des jiddischen Liedes "Shtil di Nakht is oysgesternt" - zu deutsch "Still, die Nacht ist voller Sterne" - spielt das Weltmusikquartett "Quadro Nuevo" oft bei seinen Konzerten. Der Saxophonist Mulo Francel erzählt dann immer, dass dieses Lied von dem jüdischen Dichter Hirsh Glik aus dem Ghetto von Wilna stammt. Mit 22 sei Glik von den Nazis ermordet worden. Sein Lied "Still die Nacht" hat das Ensemble in sein neues Album "Bethlechem" aufgenommen - Bearbeitungen von Weihnachtsliedern der ganzen Welt.
Der Jude Hirsh Glik, Ghetto Wilna und Weihnachtslieder? Welche Geschichte lauert hinter dieser seltsamen Konstellation?
"Dieses Lied 'Still die Nacht ist oysgesternt' hat uns nach dem Konzert in Rottweil spät nachts der Wirt nachgesungen, der sich sehr für jiddische Lieder interessiert. Und seitdem hat es uns einfach angetan, dieses Lied, das hat uns berührt. Da steckt Traurigkeit drin, da steckt gewisse Portion Verzweiflung drin, aber ich finde, es steckt auch ein Funke Hoffnung drin und eine Sehnsucht, dass wirklich was besseres kommen kann, Sehnsucht nach Friede...."
... so Mulo Francel von Quadro Nuevo. Im Internet kann man den Text des Liedes finden. Merkwürdig - dem Gedicht fehlt jede Spur von Traurigkeit, Verzweiflung oder Sehnsucht. Glik besingt ...ein Attentat!
"Still, die Nacht ist voller Sterne,
und der Frost hat stark gebrannt.
Gedenkst Du noch, wie ich Dich gelehrt hatte,
eine Pistole in der Hand zu halten.
Ein Mädchen, ein Pelz und ein Barett,
und hält in der Hand fest eine Pistole,
ein Mädchen mit einem samtenen Gesicht,
hält auf die Karawane der Feinde.
Gezielt, geschossen und getroffen,
hat ihre kleine Pistole.
Ein Auto gefüllt mit Waffen,
aufgehalten hat sie es mit einer Kugel.
Am nächsten Tag aus dem Wald gekrochen,
mit Schneegirlanden auf den Haaren,
ermutigt von einem kleinen Sieg,
für unsere neue, freie Generation."
Wer war das Mädchen?
Schildert dieses Gedicht eine wahre Begebenheit? Gab es tatsächlich diesen Überfall? Und wer ist das Mädchen mit dem samtenen Gesicht? Tatsache ist, dass Hirsh Glik diese Zeilen 1942 verfasst. Der junge Dichter ist 20. Seit einem Jahr ist er im Ghetto von Wilna gefangen, zusammen mit anderen 47.000 Juden. Die deutsche Wehrmacht bewacht das hermetisch abgeriegelte Ghetto seit ihrem Einmarsch in Litauen im Juni 1941. Doch Hirsh Glik gibt nicht auf. Er schließt sich dem Widerstand an und schreibt weiterhin Gedichte. Sein Lied "Still, die Nacht ist voller Sterne " wurde zur Hymne jüdischer Partisanen.
Die Antwort auf die Frage, wer nun das Mädchen war, das so zielsicher auf die "Karawane der Feinde" schoss, erhält man nicht leicht und schon gar nicht auf Deutsch. Erst die Internetseite der "Jewish Partisan Educational Foundation" in San Francisco (zu deutsch "Bildungsstiftung der jüdischen Partisanen") lüftet das Geheimnis:
"Hirsh Glik schrieb das Lied 'Still die Nachts ist voller Sterne' unter dem Eindruck der geglückten Sabotageaktion von Vitka Kempner. Die Mitbegründerin der jüdischen Widerstandsorganisation im Ghetto Wilna sprengte mit einer selbstgebauten Bombe einen Wehrmachtszug in die Luft, der Waffen an die Ostfront transportierte."
Von diesem mutigen Sabotageakt und der Existenz eines jüdischen Widerstands in Wilna erfährt die Welt erst 1961, als Adolf Eichmann, der Organisator der "Endlösung", in Israel vor Gericht steht. Einer der wichtigsten Zeugen im Prozess ist Abba Kovner, ehemaliger Leiter der "Vereinten Partisanenorganisation" im Ghetto Wilna.
"Hier im Gerichtssal liegt die Frage in der Luft: Warum haben sich die Menschen nicht gewehrt? Als kämpferischer Jude protestiere ich mit allem Nachdruck gegen diese Frage, sobald sie nur eine Spur des Vorwurfs enthält. In diesem Saal sitzt eine Frau, die mit falschen arischen Papieren eine zeitlang außerhalb des Ghettos gelebt hat. Doch sie verließ ihr sicheres Versteck sofort, als die Untergrundbewegung sie und andere bat, ins Ghetto zurück zu kehren, um gemeinsam zu kämpfen. Und sie kehrte zurück ins Ghetto, sie ging durch das Tor, durch das es verboten war hinauszugehen, auch wenn man nur ein paar Kartoffeln kaufen wollte."
Geglückte Sabotage
Und dann verließ sie das Ghetto wieder - mit Dynamit am Körper. Sie wanderte 30 Kilometer, um einen deutschen Militärzug in die Luft zu sprengen. Es war der erste Wehrmachtszug, der überhaupt in Litauen in die Luft gesprengt wurde. Die Litauer taten es nicht, nicht die Polen, nicht die Russen - eine Jüdin! Diese Frau ist meine Frau."
Der Anschlag auf den Wehrmachtszug war die erste, aber nicht die letzte Aktion von Vitka Kempner. Das mutige Mädchen, kaum 20, legte die Elektrostation in Wilna lahm, in dem sie Transformatoren sprengte. Sofort danach drang sie in das KZ "Kajlis" ein und hat 60 Insassen von dort zum Partisanenlager im Wald gebracht.
1943 sollte das Ghetto liquidiert werden. Einige Untergrundkämpfer, unter ihnen Abba Kovner und Vitka Kempner entkamen durch die Stadtkanalisation. In den umliegenden Wäldern führten sie fortan einen Partisanenkrieg, bis die Rote Armee Litauen im Sommer 1944 einnahm. Nach Kriegsende heirateten die beiden und gingen nach Israel. Abba Kovner starb 1987, seine Frau erst vor kurzem - 2012, mit 92 Jahren. Hirsh Glik starb bereits 1944. Nach der Ghettoschließung in Wilna wurde er nach Estland verschleppt. Er überlebte dort sechs verschiedene Konzentrationslager, aus dem letzten gelang ihm die Flucht. Doch kurze Zeit später fiel Hirsh Glik im Kampf gegen deutsche Soldaten.
Esther Bejarano ist eine der letzten Auschwitzüberlebenden. Sie spielte Akkordeon im Mädchenorchester, das aufspielen musste, wenn neue Deportierte kamen. Die 90-Jährige kämpft heute mit ihren Liedern gegen das Vergessen des Holocaust. Auch Hirsch Gliks Werke stehen auf ihrem Programm:
"Er hat Lieder geschrieben, die zum Ausdruck bringen, dass es einen jüdischen Widerstand gab. Was ganz wichtig ist, denn es gibt wenig Leute hier in Deutschland und überall in der ganzen Welt, die wissen, dass es einen jüdischen Widerstand gab. Ja, man hat uns immer gesagt - ihr habt euch wie die Lämmer zur Schlachtbank führen lassen, ohne dass ihr euch gewehrt habt. Das stimmt überhaupt nicht, denn sogar in Auschwitz und in anderen KZ's gab es Aufstände von jüdischen Menschen, die natürlich alle dann umgebracht wurden. Deswegen kennt man diese Menschen auch kaum noch. Aber man muss den Menschen das mal sagen, dass es wirklich diesen jüdischen Widerstand gab."
Immerhin an den Autor des Liedes Hirsch Glik erinnert
Das Quartett Quadro Nuevo hat das einst berühmte jüdische Partisanenlied "Still die Nacht" entdeckt und in sein Repertoire aufgenommen. Die Musiker kennen den Text und seine Widerstandsgeschichte. Wieso erfahren die Zuhörer nicht, worum es in diesem Lied eigentlich geht?
"Weil wir keine Menschen des Wortes sind, sondern wir sind Musiker, und als Musiker muss man drauf vertrauen, dass die Musik an sich eine große Kraft hat. Ich habe das kurz angesprochen, um was es geht, es betrifft die Menschen auch, wenn sie wissen, das war ein polnischer Jude, der Lieder gemacht hat, der mit 22 schon gestorben ist, gewaltsam- das betrifft die Leute. Ich finde, es reicht auch. Dann muss die Musik für sich sprechen, und dann gibt es ganz viele Leute, die diesem Thema nachgehen."
Die Konzertkritiker tun dies in ihren Rezensionen jedenfalls nicht:
"Das eher ungewöhnliche und gleichfalls ergreifende Vorweihnachtslied "Still, die Nacht ist voller Sterne" des polnischen Juden Hirsch Glik erzeugte kraftvolle Bilder in den Köpfen der ZuhörerInnen...." - Kulturmagazin "Unser Lübeck"
"Bewegend war das Lied über einen jungen polnischen Juden, der 1944 ums Leben kam: "Still, die Nacht ist voller Sterben" - Nordfiesland Tageblatt
Immerhin - "Quadro Nuevo" hat den Namen Hirsch Glik bekannt gemacht. Das allein sei heutzutage Verdienst genug, meint der Schriftsteller Lutz van Dijk aus Südafrika. 1991 schrieb er über Hirsch Glick einen dokumentarischen Roman "Der Partisan". Ein berührendes Jugendbuch, das von Liebe, Kampf und Tod im Ghetto von Wilna erzählt. Seine Einschätzung dieser Geschichte kam per Mail:
"Alles, was die Erinnerung an besondere Menschen wie diesen jungen Dichter am Leben erhält, ist wertvoll. Selbst wenn sie nicht vollständig oder teilweise gar unzulänglich oder falsch ist – aber sie hat Sie zumindest zum Weiterforschen angeregt. Und das allein ist gut."
Mehr zum Thema