Jüdische Schicksale

Wenn nur noch ein Foto bleibt

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Der Schriftsteller Erich Hackl © picture alliance / dpa / Barbara Gindl
Von Michael Opitz  · 18.06.2014
Erich Hackl gibt jenen ein Gesicht, die aus rassischen Gründen oder wegen ihrer politischen Überzeugung verhaftet, gefoltert und ermordet wurden. Auch sein neues Buch passt da gut hinein: "Drei tränenlose Geschichten".
Die Bücher des 1954 im oberösterreichischen Steyr geborenen Erich Hackl sind inzwischen in 25 Sprachen übersetzt worden. Als Chronist erinnert er an das Schicksal von Menschen, die aus rassischen Gründen oder wegen ihrer politischen Überzeugung verhaftet, gefoltert und ermordet wurden. Hackl rekonstruiert die Biografien jener, die von der Geschichte ausradiert wurden. Dagegen erhebt sein Erzählen Einspruch.
Mit "Drei tränenlose Geschichten" legt Hackl einen Band mit drei Erzählungen vor, in denen Fotografien im Zentrum stehen. Ein 1904 aufgenommenes Familienfoto zeigt die jüdische Familie Klagsbrunn. Um Ignaz Klagsbrunn und seine Frau Johanna haben sich ihre elf Kinder gruppiert. Ausgehend von diesem Foto verfolgt er, was aus Leo geworden ist, der damals sechzehn Jahre alt war. Er ging 1938 ins Exil nach Lateinamerika und hatte geglaubt, Brasilien wäre ein Land, in dem er und seine Familie leben könnten. Aber auch sein Enkel kann in dem Land nicht bleiben, in dem er aufwuchs. Als das Militär in Brasilien politisch Andersdenkende verfolgt, sieht er sich gezwungen nach Chile zu emigrieren. Als 1973 Salvador Allende gestürzt wird, flieht er nach Argentinien, darf aber auch dort nicht bleiben und gelangt schließlich über Italien nach Deutschland. Als "Vorschein einer Geschichte" bezeichnet Hackl seine Erzählung, in der er von Victors, und von der Lebensgeschichte seiner Frau Marta berichtet.
Glückliche Menschen
Die Anderen aber, die auf dem Familienfoto abgebildet sind, warten weiterhin im Dunkel der Geschichte darauf, dass jemand kommt, der ihre Biografien zum Vorschein bringt. Es ist zu vermuten, dass viele biografische Spuren in die Vernichtungslager führen würden. Auch nach Auschwitz, wo der jüdische Häftling Wilhelm Brasse als Lagerfotograf die Menschenversuche des berüchtigten Lagerarztes Josef Mengele dokumentieren musste. Im Zentrum der zweiten Erzählung "Der Fotograf von Auschwitz" steht sein Foto von vier zu Skeletten abgemagerten, jüdischen Mädchen, das nach Kriegsende um die Welt gegangen ist. Nur auf einem der vierzig bis fünfzig Tausend Bilder, die Brasse im Lager fotografiert hat, sind keine leidenden, sondern glückliche Menschen zu sehen. Ein Hochzeitsfoto zeigt ein Paar, das im KZ-Auschwitz geheiratet hat.
Von einer Hochzeit in einem Konzentrationslager handelt auch Hackls dritte Erzählung "Tschofenigweg. Legende dazu". Gisela Tschofenig heiratet im Juni 1944 den in Dachau inhaftierten Vater ihres gemeinsamen Sohnes. Kurze Zeit danach wird auch sie in ein Lager deportiert, wo sie umkommt, während ihr Mann überlebt, erneut heiratet und seine Tochter - als hätte er damit sein "Erinnerungspflicht erfüllt" - den Namen seiner ersten Frau Gisela gibt. An Gisela Tschofenig erinnert in Wien eine Straße. Unter dem Straßenschild steht: "Gisela Tschofenig (1917-1945), Gegnerin des NS-Regimes."
Hackl nimmt sich in seinen um historische Genauigkeit bemühten Erzählungen der Menschen an, von denen zwar ein Foto, aber kein genaues Bild mehr existiert. Sie, die von der Geschichte ausgelöscht werden sollten, bekommen so eine Biografie und ein Gesicht.

Erich Hackl: Drei tränenlose Geschichten
Diogenes Verlag, Zürich 2014
153 Seiten, 18,90 Euro