Juden und die Flüchtlingsfrage

Zwischen Angst und Hilfsbereitschaft

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, verteilt im Rahmen des Mitzvah Day am 15.11.2015 in einer Flüchtlingsunterkunft Essen an die Bewohner
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, verteilt in einer Flüchtlingsunterkunft Essen an die Bewohner. © picture alliance / dpa / Jörg Carstensen
Von Jens Rosbach · 30.04.2016
Die Flüchtlingsfrage stellt die jüdische Gemeinschaft in Deutschland vor große Herausforderungen. Viele Juden helfen den Geflohenen – nicht wenige fürchten, muslimische Asylsuchende könnten Antisemitismus verbreiten. Das nutzt Pegida für sich.
Berlin-Charlottenburg, im jüdischen Seniorenheim. Auf den Gängen: Rollstühle. An den Türen: Mesusot, die traditionellen, fingergroßen Schriftkapseln – als Zeichen, dass Gott über dieses Haus wacht. In einem Apartment voller Blumen trinkt die Holocaustüberlebende Inge Marcus ihren Nachmittagskaffee. Die 94-Jährige erinnert sich an das Jahr 1938.
Marcus: "Am 10. November kam ich zur Schule wie immer. Und in der dritten Unterrichtsstunde sagte mein Klassenlehrer: Inge, es tut mir leid, eine Verordnung vom Erziehungsminister Rust – ich weiß noch, wie er hieß –: kein jüdisches Kind mehr auf einer deutschen Schule. Nach der dritten Stunde musste ich die Schule verlassen. Und ich habe geheult. Und ein kleiner Junge hat gerufen: Ahhh, hast wohl ne vier geschrieben, was?"

Vor den Nazis nach Großbritannien geflohen

Inge Marcus erzählt von dem Glück, das ihr dann wiederfuhr: Die damals 17-Jährige konnte nach England fliehen – durch persönliche Beziehungen. Sie landete bei einer jüdischen Gastfamilie in der Nähe von London.
Marcus: "Für die Leute war ich ein Refugee, ein Flüchtling. Und die wollten Flüchtlingen helfen. Also sie haben sich sehr viel Mühe gegeben und sie haben es mir wirklich leicht gemacht."
Ihre Eltern erhielten hingegen kein Visum und wurden später von den Nazis ermordet. Tochter Inge erfuhr dies allerdings erst nach Kriegsende. In London durfte sie eine Ausbildung zur Kinderbetreuerin absolvieren. Es gab Englischunterricht, Schuluniform und Taschengeld. Schnell fand der Teenager neue Freunde.

Hilfe für Asylsuchende: eine Selbstverständlichkeit

Marcus: "Ne, also, es war eine wunderbare Zeit. Ich hatte in England eine – werde ich immer wieder sagen – ich hatte eine wunderbare Zeit."
Mit am Kaffeetisch sitzt Inges Tochter Marguerite, eine 57-jährige Psychotherapeutin. Die beiden berichten, dass es für ihre Familie später eine Selbstverständlichkeit wurde, anderen Asylsuchenden zu helfen. So hätten sie bereits in den 50er Jahren Emigranten aus der DDR unterstützt.
Marguerite Marcus: "Man fürchtete eine Antisemitismuswelle in der DDR. Und da sind ganz viele jüdische Familien ausgereist, eben in den Westen, Westberlin, und sind hier in einem Flüchtlingslager in Sandwerder untergekommen. Und meine Mutter ist mit zwei anderen jüdischen Frauen…"

Engagement auch für muslimische Flüchtlinge

Inge Marcus: "Wir haben die damals besucht und wir haben gesammelt Kleidungsstücke und so weiter."
Später, ab den 70er Jahren, setzte sich Inge Marcus in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin für Migranten aus der Sowjetunion ein; Tochter Marguerite nahm später sogar einen polnischen Wirtschaftsflüchtling bei sich zu Hause auf.
Marguerite Marcus: "Weil meine Mutter wurde auch aufgenommen. Und das ist eigentlich die Idee, dass wir diese Erfahrung haben, dass unseren Eltern eben geholfen wurde, sonst hätten sie nicht überlebt."
Im vergangenen November engagierte sich Marguerite Marcus am jüdischen Freiwilligentag, dem Mitzvah Day, für syrische, also auch muslimische Flüchtlinge. Gleichzeitig ist ihr aber nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass einige Zuwanderer antisemitische Einstellungen mitbringen könnten. Bereits jetzt gebe es in Berliner Migrantenvierteln Probleme.

Wegen des jüdischen Glaubens gemobbt

Marguerite Marcus: "In den Schulen, wo ein hoher Anteil arabischer Menschen ist, wenn da ein jüdisches Kind dazwischen ist, ist das ganz, ganz schwierig. Da mache ich die Erfahrung, dass die Lehrer nicht damit umgehen können. Das ist das große Problem. Dass die Lehrer sich überfordert fühlen zu erklären, dass eben ein Mensch gemobbt wird, weil er jüdisch ist. Und sie sagen: Ja, wir können damit auch nicht umgehen."
Die gesamte jüdische Gemeinschaft ist hin- und hergerissen in der Flüchtlingsfrage. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, spricht von zwei Herzen in seiner Brust.
Schuster: "Einerseits das Gefühl nachvollziehen zu können – aus der eigenen Familiengeschichte oder gar aus dem eigenen Erleben –, was es bedeutet, fliehen zu müssen. Und auf der anderen Seite eben auch zu wissen, dass Menschen zu uns kommen, die über Jahrzehnte mit juden- und israelfeindlichen Ressentiments aufgewachsen sind. Dass beide Gefühle innerhalb der jüdischen Gemeinschaft vorhanden sind, ist unbestreitbar."
Zentralratschef Schuster hat sich in den letzten Monaten viel Kritik eingefangen, weil er Ende November im Gespräch mit der Tageszeitung "Die Welt" geäußert hat, man werde in der Flüchtlingsfrage, Zitat, "um Obergrenzen nicht herum kommen". Die Medien verbreiteten die Nachricht: "Schuster fordert Obergrenze". Inzwischen erklärt der Spitzenfunktionär, er habe dies anders gemeint.

Warnschreiben an die Gemeinden

Schuster: "Es handelte sich mit der Aussage, dass wir früher oder später an Obergrenzen nicht vorbei kommen werden, um Überlegungen, eine Prognose – in keiner Weise und zu keinem Zeitpunkt um eine Forderung des Zentralrats oder meiner Person."
Waren Schusters Worte unglücklich gewählt? Oder haben die Medien Schuld?
Schuster: "Ich denke, dass ich hier fehlinterpretiert wurde, ja."
Der Zentralrat der Juden befürchtet: Die Verunsicherung jüdischer Kreise wegen der Flüchtlingswelle könnte ausgenutzt werden von antiislamischen und fremdenfeindlichen Gruppen. Josef Schuster berichtet, dass seine Dachorganisation deshalb ein Warnschreiben an die Gemeinden verschickt hat.
Schuster: "Wir haben erlebt, dass gerade seitens rechtspopulistischer Strukturen – auch der AfD – versucht wurde, auf Stimmenfang zu gehen innerhalb der jüdischen Gemeinde. Insbesondere bei denen, die in den letzten Jahren, Jahrzehnten, aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind. Und hier war es uns ein Anliegen klarzumachen, wie wir, sprich der Zentralrat, die AfD sieht."
"Pegida hat im Prinzip recht"
Tatsächlich beobachten Gemeindeaktivisten bei den russischsprachigen Zuwanderern eine gewisse Offenheit gegenüber antimuslimischen Meinungen. So berichtet die ehemalige Piratenpolitikerin Marina Weisband, die aus der Ukraine stammt, von typischen Meinungen zur Pegida-Bewegung:
Weisband: "Aus meiner Familie, aus dem Bekanntenkreis meiner Familie, die sagen: Pegida hat im Prinzip recht. Und die, die jetzt kommen, die werden unsere Gesellschaft zerstören."
Die 28-jährige Jüdin hält einen Schulterschluss mit den Rechtspopulisten für gefährlich; genauso wie eine Obergrenzen-Debatte.
Pegida spielt eine Minderheit gegen die andere aus
Weisband: "Dass dieses Thema hochgeschaukelt wird, dass jetzt lauter Antisemiten ins Land kommen und dass es kein Leben mehr für uns Juden hier gibt – das ist ein Ausspielen der einen Minderheit gegen die andere. Wenn jetzt jüdische Menschen mit Pegida mitmarschieren und glauben dadurch jetzt gute deutsche Bürger zu sein, die ihre eigene Sicherheit gewährleisten, sehen sie nicht, dass morgen die Pegida gegen sie marschieren wird."
Ortswechsel, Berlin-Neukölln. Eine Altbauwohnung mit Holzdielen, grauem Sofa und einem riesigen Kuschel-Eisbären auf dem Fußboden. Zu Besuch bei der Schriftstellerin Olga Grjasnowa. Die 31-jährige Jüdin wurde in Aserbaidschan geboren und emigrierte später mit ihren Eltern nach Deutschland.
"Abfällige, muslimkritischen Klischees bei jüdischen Einwanderern"
Grjasnowa: "Ich meine, natürlich waren wir alle Wirtschaftsflüchtlinge, die dann nach 1990 aus der Sowjetunion gekommen sind, das hat vor allem mit der wirtschaftlichen Lage zu tun und nicht unbedingt mit der politischen oder dass jemand das Judentum nicht ausüben durfte. Wir sind ja im Prinzip das Feindbild Deutschlands per se, also die Wirtschaftsflüchtlinge."
Unter den russischsprachigen Juden, die mittlerweile den Großteil der jüdischen Gemeindemitglieder in Deutschland stellen, geht wohl niemand so hart ins Gericht mit der eigenen Community wie Olga Grjasnowa. Die Autorin –bekannt durch ihren Roman "Der Russe ist einer, der Birken liebt" – berichtet von abfälligen, muslimkritischen Klischees bei den jüdischen Einwanderern.
"Endlich hat man jemanden, auf den man runterschauen kann"
Grjasnowa: "Es ist auch sehr viel, was passiert, dass man sich plötzlich als weiß begreift. Als weiße Hautfarbe in der politischen Kategorie. Dass man sich plötzlich nicht mehr ganz unten auf der gesellschaftlichen Stufe befindet, sondern ein bisschen oben drüber – und endlich hat man jemanden, auf den man runterschauen kann. Davor sind auch die Juden nicht befreit. Und Rassismus ist halt etwas Menschliches leider. Und das gibt's auch sehr viel unter Juden."
Grjasnowa hat eine neunmonatige Tochter, Anna, und einen Ehemann: Ayham Majid Agha. Eine ungewöhnliche Ehe: Die Jüdin ist mit einem Araber verheiratet, einem Theater-Schauspieler aus Syrien. Der 35-Jährige betont, die jüdische Gemeinschaft müsse keine Angst haben vor den Flüchtlingen aus seiner Heimat.
"Sorgen unbegründet"
Agha: "Die Syrer sind zwar vierzig Jahre lang mit einem Feindbild aufgewachsen: Israel. Uns wurde immer erzählt: Da wartet jemand nur darauf, Euch zu töten oder Euch das Land wegzunehmen. Aber es gab nie einen Rassismus gegen Juden als Religionsgruppe. Unsere Medien benutzen Juden zwar als Synonym für Israelis – aber wir wissen durchaus, dass das nicht das Gleiche ist."
Olga und Ayham haben im vergangenen Jahr geheiratet. Seine arabische Familie habe nichts gegen die Ehe mit einer Jüdin gehabt, erzählt das Paar. Bei ihren Verwandten habe es mehr Vorbehalte gegeben gegen die jüdisch-arabische Verbindung – vor allem bei den Verwandten in Israel.
Grjasnowa: "Bei mir war es die erste Reaktion in der Familie: Wieso? Was stimmt da nicht mit ihr? Die hat doch eigentlich zwei Beine und zwei Arme? Und die haben auf meine Ehe sehr empfindlich reagiert."
Billige Klischees oder berechtigte Ängste? In jüdischen Kreisen geht die Debatte um die muslimischen Einwanderer weiter. Im Berliner Seniorenheim, bei der Holocaust-Überlebenden Inge Marcus und ihrer Tochter Marguerite, überwiegt hingegen die Sorge vor Deutschen, die immer aggressiver gegen Asylsuchende und andere Minderheiten hetzen.
Marguerite Marcus: "Die Ängste, die ich ganz konkret habe, sind nicht vor den geflohenen Menschen, denen es ganz dreckig geht, sondern vor der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die damit nicht umgehen kann."
Inge Marcus: "Jaja, das finde ich auch. Ich habe Angst, das wird hier sehr rechts werden langsam. Durch diese Flüchtlinge auch, ja."
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